Schienenverkehr auf Irrwegen (2018)
Am Montag (22. Mai) starb Winfried Wolf im Alter von 74 Jahren. Der ehemalige (parteilose) Bundestagsabgeordnete der PDS, Sozialist und Bahnexperte war vor allem ein engagierter Publizist. Er gab die „Zeitung gegen den Krieg“ heraus und war Chefredakteur des Magazins „Lunapark21“. Regelmäßig schrieb er auch für Hintergrund. Wir erinnern an ihn mit einem Text, der vor gut fünf Jahren im Heft 1/2018 erschienen ist und dessen wichtigste Aussagen weiterhin aktuell sind, wir haben dabei für die Online-Veröffentlichung einige Zwischentitel ergänzt.
Liste der Bücher und Schriften von Winfried Wolf
Als mit dem Fahrplanwechsel am 10. Dezember 2017 die Neubaustrecke Berlin – München in Betrieb genommen wurde, erlebte die Deutsche Bahn AG – nach dem Tunneleinbruch in Rastatt im vorausgegangenen August1 – ihr zweites Desaster innerhalb eines Jahres: Eine Woche lang gab es auf der neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke massive Verspätungen; mehrere Züge fielen komplett aus, andere blieben – mit Prominenz an Bord – stundenlang liegen. Und wieder einmal war es Mutter Natur, der die Schuld gegeben wurde: „Wir hatten nach dem Fahrplanwechsel aufgrund des massiven Wintereinbruchs große Probleme“, so Birgit Bohle, Vorstandsvorsitzende der Fernverkehrssparte, die auch dort, wo der Normalbürger von einem leichten Schneetreiben gesprochen hätte, ein „breites Schneeband“ wahrgenommen haben will.
Die tatsächlichen Probleme, die sich in der Neubaustrecke Berlin – München manifestierten, haben jedoch nichts mit den vier imaginierten Erzfeinden der Bahn – Frühling, Sommer, Herbst und Winter – zu tun. Vielmehr verfolgt die Verkehrspolitik im Schienenverkehr eine für den Eisenbahnverkehr kontraproduktive Investitionspolitik. Dies soll auf drei Ebenen deutlich gemacht werden: jeweils mit einer Konkretion für das größte und dümmste aller Schienenprojekte, für den Bahnknoten Stuttgart beziehungsweise für Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen – Ulm.
Investitionen in Hochgeschwindigkeit versus Optimierung des Netzes
Der mit Abstand größte Teil der Investitionen im Schienennetz fließt seit Jahrzehnten in Schnellbahnstrecken; wobei als Hochgeschwindigkeitsstrecken nach unterschiedlichen Definitionen Eisenbahnverbindungen mit Höchstgeschwindigkeiten von wenigstens 200 Stundenkilometern definiert werden.
Vereinfacht lässt sich feststellen, dass seit rund vierzig Jahren in jedem Jahrzehnt eine extrem teure und in der Streckenführung meist problematische Neubaustrecke gebaut wurde. Es gab diesbezüglich interessanterweise mit der „Bahnreform“ von 1994 auch keine grundsätzliche Veränderung in der Schienenwege-Investitionspolitik.
Konkret waren dies in den 1980er und 1990er Jahren die Strecken Würzburg – Hannover sowie Mannheim – Stuttgart (Inbetriebnahme jeweils 1991). In den 1990er und in den Nullerjahren kamen die Neubaustrecken Hannover – Berlin (Inbetriebnahme 1998) und Köln – Frankfurt/M. (Inbetriebnahme 2002) sowie im aktuellen Jahrzehnt Berlin – München (mit der Inbetriebnahme der durchgehenden Verbindung Ende 2017) hinzu. Derzeit befindet sich die Neubaustrecke, die von Stuttgart über die Schwäbische Alb führt (Wendlingen – Ulm), im Bau; ihre Inbetriebnahme ist für 2022 geplant.
Die hier aufgeführten Verbindungen ergeben zusammengenommen eine Streckenlänge von 1500 Kilometern. Das gesamte deutsche Hochgeschwindigkeitsnetz – worunter sich allerdings auch viele Ausbaustrecken und Verbindungen befinden, die „nur“ mit Geschwindigkeiten von 150 bis 200 Stundenkilometern befahren werden – wird mit rund 2700 Kilometern Länge angegeben. Das entspricht nicht einmal 8 Prozent des gesamten Netzes, das aktuell noch 33.400 Kilometer (Betriebslänge) zählt.
Schwerpunkt der Bahnnutzung: Nahverkehr
Nun ließe sich behaupten, dass auf diesem relativ kleinen Teil des Netzes und in den ICE-Hochgeschwindigkeitszügen der größte Teil des Schienenverkehrs abgewickelt würde – weswegen es gerechtfertigt wäre, wenn, wie derzeit der Fall, rund zwei Drittel der Schienenwege-Investitionen in Hochgeschwindigkeitsstrecken flössen. Doch das trifft nicht zu. Im gesamten deutschen Schienenverkehr (DB und private Bahnen, wobei letztere nur im Nahverkehr von Bedeutung sind) werden derzeit jährlich 2,7 Milliarden Fahrgäste befördert. Im Fernverkehr (der neben den ICE-Garnituren auch alle IC-/ EC-Züge umfasst) sind es jedoch lediglich 133 Millionen. Das entspricht knapp 5 Prozent der gesamten jährlichen Fahrgastzahl. Die übrigen 95 Prozent oder 2,55 Milliarden Fahrgäste entfallen auf den Nahverkehr.
Jetzt lässt sich sagen: Die Deutsche Bahn ist eine Aktiengesellschaft und als solche ein an Leistung und Gewinn orientiertes Unternehmen. Sie kann nicht die Nahverkehrsfahrt einer Pendlerin mit der Fernverkehrsfahrt eines Geschäftsmannes gleichsetzen. Hier könnte man bereits kritisch einwenden, dass die Eisenbahn in Deutschland laut Grundgesetz Artikel 83 dem „Allgemeinwohl“ verpflichtet ist und dass der Bund Jahr für Jahr rund 7,5 Milliarden Euro öffentliche Gelder („Regionalisierungsmittel“) an die Länder bezahlt. Die bestellen dafür den Nahverkehr und kofinanzieren die Nahverkehrsgesellschaften, darunter die DB-AG-Tochter DB Regio, mit rund vier Milliarden Euro jährlich. Aufgrund dieser Struktur ließe sich argumentieren, dass der Bahnkonzern sehr wohl eine Normalbürgerin samt ihren Mobilitätsanforderungen mit einem Manager und dessen Verkehrsbedürfnissen gleichsetzen sollte.
Dies sei jedoch nur zwischen den Zeilen erwähnt. Lassen wir uns im Folgenden auf die Argumentation der Top-Verantwortlichen im Bahnkonzern ein, wonach ausschließlich Kilometerleistung und Einnahmen zählen. Von dieser Warte aus sieht die Rechnung wie folgt aus: Pro Jahr werden im deutschen Schienenverkehr rund 91,3 Milliarden Personenkilometer (Pkm = Fahrgäste multipliziert mit der zurückgelegten Kilometerentfernung) befördert. 54,4 Milliarden Pkm oder 59,6 Prozent entfallen dabei auf den Nahverkehr, 36,9 Milliarden Pkm oder 40,1 Prozent auf den Fernverkehr (auf den ICE entfallen sogar nur 24,4 Milliarden Pkm oder 27 Prozent der gesamten Verkehrsleistung).
Vergleichbares gilt auch für die Einnahmen: Von den gesamten Einnahmen im Schienennah- und -fernverkehr in Höhe von rund 20 Milliarden Euro entfallen nur rund vier Milliarden Euro auf den Fernverkehr.2 Gibt es also eine wachsende Bedeutung des Fernverkehrs im gesamten System Schiene? Das Gegenteil ist der Fall: Anfang der 1990er Jahre machten die im Fernverkehr zurückgelegten Personenkilometer noch rund 44 Prozent der gesamten Verkehrsleistung aus. Heute sind es knapp 4 Prozent weniger.
Schauen wir uns eine typische Fernverkehrsfahrt an und fragen: Rechnet es sich, in größere Zeitgewinne bei sehr weiten Entfernungen zu investieren? Die Antwort lautet: nein. Denn im Fernverkehr liegt die durchschnittliche Reiseweite (die Entfernung je Fernverkehrsfahrt) bei 280 Kilometern. Es handelt sich also überwiegend um Fahrten, bei denen Top-Geschwindigkeiten und Neubaustrecken keine größere Rolle spielen, weil die damit erzielbaren Zeitgewinne im Bereich von lediglich fünf, zehn oder 15 Minuten liegen. Und auch im Fernverkehr stehen beim Durchschnittsfahrgast ganz andere Kriterien im Vordergrund: Ist der Zug pünktlich? Antwort: oft nicht. Habe ich faktisch eine Sitzplatzgarantie? Antwort: meist eher nicht. Ist der Reisekomfort akzeptabel? Antwort: Mit jeder neuen Zuggattung wurde die Beinfreiheit geringer. Ist der Preis für die Bahnfahrt akzeptabel? Antwort: Die normalen Bahnpreise werden generell als zu hoch empfunden; Tickets zum Schnäppchenpreis zu ergattern ist vielen zu lästig.
Hinzu kommt, dass mit den neuen Hochgeschwindigkeitsstrecken fast immer wichtige Zentren mit potenziell hohem Fahrgastaufkommen vom Fernverkehrsnetz abgehängt werden. Bei der Strecke Hannover – Berlin trifft dies auf die beiden Landeshauptstädte Magdeburg und Potsdam zu, im Fall Frankfurt – Köln auf die Städte Bonn und Koblenz. Mit dem 10. Dezember 2017 verloren die Städte Weimar, Jena, Lichtenfels und Saalfeld ihre ICE-Verkehrshalte.
Für den Verkehrsknoten Stuttgart bedeutet das: Die Neubaustrecke Wendlingen – Ulm bringt im Vergleich zur bestehenden Trasse durch das Filstal auf der Verbindung Stuttgart – Ulm einen Zeitgewinn von maximal 15 Minuten. Doch eine ICE-Fahrt Stuttgart – Ulm – München dauerte im Jahr 1995 noch 121 Minuten, 2018 sind es 134 Minuten. Das heißt: Die Unterinvestition (oder das Fahren auf Verschleiß) auf der bestehenden Gesamtstrecke führte zu einer Fahrtzeitverlängerung, die ungefähr so groß ist wie der Zeitgewinn, der mit einer sündhaft teuren – viel Umwelt zerschneidenden und Natur zerstörenden – Neubaustrecke „gewonnen“ wird. Hinzu kommt: Die Städte Plochingen und Göppingen, die bislang auf der alten Verbindung in den Fernverkehr eingebunden waren, werden ab Inbetriebnahme der Neubaustrecke vom Schienenpersonenfernverkehr abgehängt.
Zugsicherungssystem ETCS
Vor Inbetriebnahme der ICE-Strecke Berlin – München jubilierte der Bahnkonzern im hauseigenen Blatt db mobil (Heft 9/2017): „Vor einigen Jahren wäre es undenkbar gewesen: ein Zugleitsystem, das ohne Signale an der Strecke funktioniert. Auf der neuen […] Strecke ist es Realität. Dabei werden die wichtigsten Daten über Funk zwischen Zug, Streckenzentrale und Transponder im Gleis übermittelt.“
Doch diese Daten wurden in der ersten Woche der Inbetriebnahme eben nicht übermittelt. Und dies – nicht etwa ein „breites Schneeband“ – war der entscheidende Grund für das eingangs beschriebene Desaster bei der Eröffnung dieser ICE-Strecke. Das viel gepriesene elektronische Zugsicherungssystem fiel immer wieder aus.
Nun gibt es kluge Menschen, Bahnfachleute, die das hier zur Anwendung gelangte Zugsicherungssystem European Train Control System (ETCS) generell für unsicher, für zu komplex und vor allem für extrem überteuert halten. Sie setzen auf das bei anderen ICE-Strecken installierte bewährte System der „Linienzugbeeinflussung“ (LZB) beziehungsweise in Nachbarländern auf vergleichbare bestehende und bewährte nationale Systeme.
Diese Debatte kann hier nicht geführt werden. EU-weit werden derzeit bestehende nationale elektronische Zugsicherungssysteme (und konventionelle Signalanlagen) durch ETCS ersetzt. Dabei handelt es sich um einen extrem aufwendigen und langwierigen Prozess. So hieß es beispielsweise bislang in der Schweiz, wo ETCS ebenfalls schrittweise eingeführt wird, man werde das System bis zum Jahr 2038 (!) im gesamten Netz etabliert haben. Doch 2017 wurden diese Pläne wieder verworfen – man geht nun von nochmals größeren Zeitabständen aus, auch weil die Kosten für die ETCS-Einführung selbst in unserem reichen Nachbarland als enorm angesehen werden.
Doch unabhängig von dieser Debatte über Sinn und Unsinn von ETCS gilt: Ein reines elektronisches Zugsicherungssystem sollte eine Rückfallebene haben, damit auch dann, wenn die Elektronik versagt, ein Zugbetrieb – wenn auch zum Teil mit verminderter Geschwindigkeit – möglich ist. Bei der Strecke Berlin – München wurde auf eine solche Rückfallebene, trotz zahlreicher Warnungen, verzichtet.
Auch der geplante Tiefbahnhof Stuttgart 21 soll ausschließlich mit dem Zugsicherungssystem ETCS ausgestattet werden; die S21-Tunnel können mit Zügen ohne ETCS nicht befahren werden. Allerdings waren bis zum Jahr 2010 die Profile in den S21- Tunnelröhren mit einem Durchmesser von 4,80 Metern so konzipiert, dass stationäre Signale – und damit eine Rückfallebene – installiert werden konnten. Doch dann ließ der damalige Bahnchef Rüdiger Grube die Tunnelprofile auf 4,05 Meter Durchmesser reduzieren – als Maßnahme zur Senkung der explodierenden S21-Baukosten. Mit diesen nunmehr verringerten Querschnitten gibt es für den Einbau eines herkömmlichen, konventionellen Signalsystems mit Signalschirmen in den Tunnelröhren schlicht keinen Platz mehr. Während der ETCS-Ausfall bei der Strecke Berlin – München „nur“ zum Ausfall einzelner Züge auf einer Strecke führte, würde bei einem ETCS-Ausfall im Stuttgart- 21-Tiefbahnhof der gesamte Knotenbahnhof lahmgelegt. Dann fielen pro Tag Hunderte Züge aus. Im Übrigen könnten dann Dutzende Züge in den 60 Kilometer langen Tunnelröhren steckenbleiben. Ergänzend sei bemerkt: Für den S21-Bahnhof mit seinem Tunnelsystem gibt es bis heute kein genehmigtes Brandschutzkonzept.
Aufbau von Neubaustrecken – Abbau des Schienennetzes
Streckeneröffnungsrituale wie im Fall Berlin – München werden in der Öffentlichkeit als Ausbau des Schienennetzes gefeiert. Im zitierten Blatt des DB-Konzerns wurde dies wie folgt präsentiert: „Für den Sohn eines Eisenbahners ist dies ein großer Tag. ‚Bei dieser Strecke komme ich ins Schwärmen‘, sagt Bahnchef Richard Lutz […]. ‚Mit der Eröffnung dieser Strecke machen wir einen Riesensprung nach vorn.‘“ Das DB-Magazin spricht von einer „historischen Dimension“. An anderer Stelle heißt es: „Die Bahn will mit der neuen Trasse Berlin – München Fluggäste und Autofahrer als Kunden gewinnen“ (Süddeutsche Zeitung vom 31. August 2017). Oder auch: „Die neue Schnelltrasse […] soll der Bahn helfen, wieder konkurrenzfähig zu werden“. (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Juni 2017).
Bei all diesen Superlativen ging weitgehend unter, dass der Bahnkonzern die Ticketpreise für diese Strecke um 13,6 Prozent erhöhte (man könnte ja auch argumentieren: kürzere Fahrtzeit = geringerer Aufwand von Zuggarnituren und Personal = niedrigere Ticketpreise, zumal der Bau der Strecke zu 100 Prozent vom Bund bezahlt, der DB also geschenkt wurde). Mit der Inbetriebnahme wurden auch eine Reihe Verbindungen langsamer, zum Beispiel solche von Berlin nach Frankfurt/M. (Wegfall von Sprinterzügen). Bei dieser Verbindung gibt es sogar teilweise keinen Halt mehr in Frankfurt/M. Hauptbahnhof, sondern „nur“ in Frankfurt-Süd oder Frankfurt/M. Flughafen – was ebenfalls für viele mit Fahrtzeitverlängerungen verbunden ist.
Vor allem aber fehlt bei all dem Jubel über „historische Dimensionen“ der Blick fürs Ganze. Im Jahr 1991, bei Inbetriebnahme der ersten Schnellbahnstrecke, hatte das Gesamtnetz im neu vereinigten Deutschland noch eine Länge von 41 100 Kilometern. Seither wurde das Schienennetz auf aktuell 33 390 Kilometer abgebaut – oder um 5 700 Kilometer Betriebslänge reduziert. Allein diese Kappung des Schienennetzes ist doppelt so groß wie das gesamte Hochgeschwindigkeitsnetz, das seither aufgebaut wurde. Oder auch: Diese Kappung ist fast viermal so groß wie die oben aufgeführten Neubaustrecken. Bezieht man sich auf die Kapazität des verbliebenen Netzes, dann ist die Bilanz noch betrüblicher: Seit 1994 wurden rund 30 Prozent aller Weichen, rund 50 Prozent aller Ausweichgleise und rund 80 Prozent aller Gleisanschlüsse („Industriegleise“) aus dem Netz entfernt. Elementare Dienstleistungen der Eisenbahn, die es mehr als ein Jahrhundert lang gegeben hatte, wurden eingestellt: der Postverkehr (seit 1995), der Stückgutverkehr (seit Ende der 1990er Jahre), die Interregio (seit 2001) und die Nachtzüge (seit 2016).
Allein dieser qualitative Abbau ist Ausdruck davon, dass die Investitionspolitik im Schienenbereich in Wirklichkeit mit einem Abbau von Schienen und mit einem Rückzug der Bahn vor allem aus der Fläche verbunden ist.
Stuttgart21 bedeutet Kapazitätsverringerung
Oft werden Vergleiche zwischen Stuttgart 21, der Elbphilharmonie und dem Berliner Airport BER angestellt. Hinsichtlich der Kostensteigerung und der immer neu verlängerten Bauzeiten gibt es natürlich Parallelen. Doch solche Vergleiche sind in einem entscheidenden Punkt falsch: Der Hamburger Konzerthausbau hat dazu geführt, dass es in Hamburg Abend für Abend rund 2650 zusätzliche Plätze für Kunstgenuss gibt. Der Berliner Flughafen wird, wenn er je in Betrieb genommen werden sollte, eine zusätzliche Abfertigungskapazität von 27 Millionen Fluggästen haben. Doch in Stuttgart gibt man 10 Milliarden Euro und mehr dafür aus, um die Kapazität eines bestehenden, seit neunzig Jahren sehr gut funktionierenden Kopfbahnhofs um mehr als 30 Prozent zu verringern. Anstelle von 16 Kopfbahngleisen wird der S21-Tiefbahnhof lächerliche acht Durchfahrgleise haben.
Um an dieser Stelle eine Debatte über die unterschiedliche Kapazität von Kopfbahngleisen und Durchfahrgleisen zu vermeiden, seien ein paar aufschlussreiche Vergleiche angestellt: Der Hauptbahnhof in Freiburg (Breisgau) hat zehn Durchfahrgleise – die Stadt hat nur 40 Prozent der Bevölkerungszahl von Stuttgart. Zürich, ebenfalls kleiner als Stuttgart, bietet nach dem aktuell durchgeführten Umbau acht Durchfahrgleise und 18 Kopfbahngleise. Nürnberg, nach Bevölkerungszahl um rund 20 Prozent kleiner als Stuttgart, hat einen Hauptbahnhof mit 21 Durchfahrgleisen. Ach ja, und die Kleinstadt Bietigheim-Bissingen (43.000 Einwohner) bietet mit acht Durchfahrgleisen eine vergleichbare Bahnhofskapazität, wie es sie bei S21 geben soll.
Das ist einerseits skurril. Doch es hat andererseits Methode: Die ICE-Verbindung Berlin – München ist zunächst charakteristisch für die Fehlorientierung der Schienenwege-Investitionspolitik. Gebaut werden Prestigeprojekte für ein paar wenige Profiteure; den Schaden hat der durchschnittliche Fahrgast, weil diese Gelder an anderer Stelle im Schienenverkehr fehlen. Gleichzeitig verdeckt die Inbetriebnahme dieser ICE-Strecke die Tatsache, dass die Schieneninfrastruktur in diesem Land systematisch abgebaut wird bzw. dass auf den bestehenden Strecken – als Resultat der falschen Konzentration der Investitionen – systematisch auf Verschleiß gefahren wird. Wobei hier Stuttgart 21 ein Solitär im Destruktiven ist: Große Schienenprojekte, die wenig bringen und viel Kapital binden, gibt es sehr oft. Doch ein sehr großes Projekt, mit dem ein Abbau an Kapazität betrieben wird – das ist einmalig. Eben „abgrundtief + bodenlos“.
Zuerst erschienen in Heft 1/2018
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Quellen
1https://www.hintergrund.de/politik/inland/das-rastatt-desaster
2Jeweils Angaben für 2015 für die Verkehrsleistungen der Deutschen Bahn im deutschen Schienennetz und aller privaten Schienenverkehrsunternehmen. Bei den Einnahmen sind – korrekterweise – die Regionalisierungsgelder („Bestellerentgelte“) im SPNV (in Höhe von jährlich rund 7,2 Milliarden Euro) enthalten.