Hilfe, die Sozialtouristen kommen!
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Seit 1. Januar 2014 gilt auch für Rumänen und Bulgaren die sogenannte Arbeitnehmerfreizügigkeit. Ein Lehrstück kapitalistischer Interessendurchsetzung –
Von THOMAS EIPELDAUER, 20. Januar 2013 –
2007 sind Bulgarien und Rumänien der Europäischen Union beigetreten. Sieben Jahre blieb die Freizügigkeit von Bürgern dieser Länder im EU-Raum eingeschränkt, mit dem 1. Januar fällt diese Übergangsfrist nun weg. Die sogenannte Arbeitnehmermobilität gilt nun auch für Menschen aus diesen Ländern.
Dieser eigentlich gar nicht so spektakuläre Sachverhalt hat in der deutschen Polit- und Medienlandschaft für einen Aufschrei gesorgt. Vor allem die CSU zeigte von Anfang an größtes Interesse an der Polarisierung der Debatte. Dem alten Straußschen Wort, rechts von seiner habe es keine Partei zu geben, gerecht werdend, forderte man in Bayern: „Wer betrügt, der fliegt“. Gegen die Sozialbetrüger, die nur hierher kommen, um „uns“ auf der Tasche zu liegen, sei eine harte Gangart einzuschlagen. Armutsmigranten wolle man bestmöglich „abschrecken“, auch verpflichtende Fingerabdrücke sind im Gespräch, um die mittellosen Strolche identifizieren und am Wiedereinreisen hindern zu können. „Die CSU will weder Missbrauch unseres Sozialsystems noch Betrug auf Kosten der deutschen Beitragszahler. Jetzt schon hören wir die finanziellen Hilferufe der Kommunen mit Blick auf die damit verbundenen gesellschaftlichen Spannungen in Brennpunkten vor Ort“, so CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer. „Ich werde die Zuwanderung in die Sozialsysteme bis zur letzten Patrone bekämpfen“, hatte CSU-Chef Horst Seehofer bereits vor zwei Jahren beim politischen Aschermittwoch in Passau angedroht.
Allein steht die Rechtsaußen-Staatspartei aus dem Freistaat mit dieser Auffassung nicht. Es besteht ein – mal diplomatisch kaschierter, mal populistisch prononcierter – Konsens von CSU, CDU, SPD und NPD, dass die Habenichtse der ärmeren Regionen Europas hauptsächlich eines im Sinn haben: So schnell wie möglich in „unser“ Sozialsystem „einzureisen“. Die Zigeunerhorden und Bulgarengangs der Stammtische, im Sprech der Nadelstreifchauvinisten heißen sie „Sozialbetrüger“.
Sekundiert wird diese Kampagne – wie könnte es anders sein ? – von der selbsternannten Außerparlamentarischen Opposition von Springer. Die Bild, in Höchstform, organisierte Umfragen, schlechte Artikel und jede Menge Angstklima. „Stürmen Rumänen und Bulgaren unseren Job-Markt?“
Aber doch nicht die Fleißigen und Klugen!
Allerdings darf man nicht ungerecht sein. Denn keiner der Politiker aus CSU, CDU und SPD, ja nicht einmal die Springer-Redakteure hassen Ausländer im Allgemeinen und schlechthin. Die „Qualifizierten“, die „Fleißigen“, die braucht man. „Wir sind nicht gegen Zuwanderung gut Ausgebildeter und Qualifizierter“, betont Andreas Scheuer. Und CDU-Generalsekretär Peter Tauber weiß: „Die Freizügigkeit ist ein großes Geschenk. Wir wollen, dass qualifizierte Zuwanderer in Deutschland arbeiten und leben und heimisch werden. Davon profitieren wir.“
Das dürfte auch den Volkswillen widerspiegeln, denn einerseits zeigen viele Studien, wie sehr sich der Durchschnittsdeutsche vor „Sozialbetrug“ durch Ausländer fürchtet, andererseits dokumentieren Umfragen, dass eine Zweidrittelmehrheit der Ansicht ist, dass „unsere Wirtschaft (…) qualifizierte Arbeitskräfte aus anderen Ländern braucht“. (1)
In Wahrheit geht es nicht allein um „qualifizierte Arbeitskräfte“. Auch im Billiglohnsektor ist willkommen, wer sich für ein Taschengeld ausbeuten lässt. Überdurchschnittlich hoch ist der Anteil der jetzt schon in Deutschland lebenden bulgarischen und rumänischen Arbeiter vor allem da, wo knochenharte Arbeit in Kombination mit wenig Gehalt vorkommt: Gastronomie, Landwirtschaft, niedrige Dienstleistungen. Es geht nicht in erster Linie um „qualifiziert“ oder „unqualifiziert“. Es geht um Verwertbarkeit. Wer im Anhäufungskreislauf des Kapitals seine Arbeitskraft nicht so, wie es sich gehört, einzubringen vermag oder das schlichtweg nicht um jeden Preis will, gilt als „Schmarotzer“. Gehasst werden die Armen – und noch mehr, wenn sie „Fremde“ sind.
Dass die national-chauvinistische Mär von den faulen Rumänen- und Bulgarenhorden, deren erste Anschaffung in der Bundesrepublik die vom Kindergeld gekaufte Couch ist, kein Fundament in der Wirklichkeit hat, legen indessen zahlreiche Statistiken nahe. Beispielsweise diejenige, die zeigt, dass Arbeitsmigration die deutschen Sozialkassen insgesamt nicht belastet, sondern umgekehrt, ihnen höhere Beiträge einspielt. (2)
Gestern verlautbarte zudem ein Sprecher der Bundesagentur für Arbeit, dass Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien häufig überhaupt gar nicht arbeitslos seien, sondern lediglich als „Aufstocker“ Hartz-IV beziehen, weil ihre Löhne zu gering sind. Die Bundesagentur hat die Auswertung für die Linke-Abgeordnete Sabine Zimmermann erstellt. Diese kommentiert: „Die Zahlen dokumentierten, dass von einem Missbrauch von Sozialleistungen nicht gesprochen werden kann. Allenfalls werden Migrantinnen und Migranten als billige Arbeitskräfte missbraucht.“
Alle gewinnen – außer die Arbeitsmigranten
Bei aller echten oder geheuchelten Empörung: Für das deutsche Kapital und seine politischen Repräsentanten ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit ein Segen. Sie erlaubt es, gut ausgebildete Fachkräfte aus der europäischen Peripherie abzuziehen, deren Volkswirtschaften – siehe Griechenland, Spanien, Portugal – vom deutsch-europäischen Zwangsausteritätskurs zerstört wurden. Sie ermöglicht, den Billiglohnsektor mit Zuwanderern zu füllen und gleichzeitig Druck auf die Löhne hierzulande auszuüben. Und sie macht es möglich, das ganze noch mit einer populistisch zugespitzten Debatte so zu drapieren, dass der deutsche Leiharbeiter in seinem rumänischen Leidensgenossen den Feind sieht, während ihm die eigentlichen Sozialschmarotzer in den Chefetagen die letzte Kartoffel aus der Hosentasche ziehen.
Insgesamt gewinnen alle: Die deutschen Konzerne und Landwirtschaftsbetriebe durch den Druck auf die Löhne, die Parteien der „bürgerlichen Mitte“, die ihr Profil nach Rechtsaußen schärfen können, die „Außerparlamentarische Opposition“ bei Springer, die eine publikumswirksame Kampagne fahren kann. Wer allerdings eher wenig gewinnt, sind die Wanderarbeiter, die in niedersächsischen Wäldern übernachten, getrieben von der vagen Hoffnung irgendwo einen Job zu finden. (3)
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(1) http://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend2140.html
(2) http://www.ksta.de/politik/-arbeitnehmerfreizuegigkeit-,15187246,25773364.html
(3) http://www.focus.de/finanzen/news/arbeitsmarkt/tid-32966/report-die-neuen-sklaven_aid_1055659.html