Erhobenen Hauptes
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Der Tarifstreit zwischen der Deutschen Bahn und der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) ist beigelegt. Letztere hat bewiesen: Kämpfen lohnt sich –
Von RAINER BALCEROWIAK, 01. Juli 2015 –
Am Mittwoch um 10:05 Uhr verkündete der frühere brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) in der Landesvertretung des Freistaats Thüringen in Berlin die mit Spannung erwartete Nachricht: „Der Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn AG ist beendet.“ Zusammen mit dem thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Die Linke) hatte Platzeck seit dem 27.Mai das Schlichtungsverfahren zwischen der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und dem Konzern moderiert. Ursprünglich sollte die Schlichtung bis zum 17.Juni beendet werden, doch angesichts der fundamentalen Gegensätze zwischen den Tarifparteien musste man zwei Mal in die Verlängerung gehen.
Der Schlichtung vorausgegangen war ein fast einjähriger Tarifkonflikt, in dessen Verlauf die GDL-Mitglieder neun Mal die Arbeit niederlegten, insgesamt für 420 Stunden. Der letzte, erstmals unbefristete Streik wurde am 21. Mai abgebrochen. Zuvor hatte die Bahn erklärt, dass sie die zentrale Vorbedingung der GDL für eine Schlichtung akzeptiert, nämlich die Anerkennung des Rechts auf den Abschluss von Tarifverträgen für alle Mitglieder in allen Berufsgruppen des Zugpersonals. Dazu gehören nach GDL-Definition außer den Lokführern auch Zugbegleiter, Bordgastronomen, Disponenten und Lokrangierführer.
Das nunmehr erzielte Ergebnis umfasst 16 Tarifverträge und zwei Protokolle, insgesamt 450 Seiten. Kern ist ein Bundesrahmentarifvertrag Zug (BuRa-Zug), der flächendeckend Entlohnung und Arbeitszeit regelt. Die ergänzenden Haustarifverträge beziehen sich auf die einzelnen Schienenverkehrsbetriebe des DB-Konzerns bzw. auf einzelne Berufsgruppen. Ferner soll dieser BuRa-Zug auch Ausgangspunkt für Haustarifverträge bei den privaten Konkurrenten der DB AG werden. Bis zuletzt strittig war die Einbeziehung der Lokrangierführer in das Tarifwerk der GDL. In dieser Frage hat sich die Gewerkschaft offenbar durchgesetzt. Diese Kollegen werden jetzt nicht mehr als „Logistiker“ oder „Rangierer“ eingestuft, sondern in das Eingruppierungssystem für Lokführer integriert.
Überstundenregelung: “Wischiwaschi”
Die vereinbarte zweistufige Lohnerhöhung um insgesamt 5,1 Prozent mit einer Laufzeit bis zum 30. September 2016 entspricht dem Ergebnis, das auch die konkurrierende, zum DGB gehörende Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) vor einigen Wochen mit der Bahn erzielt hatte. Doch das Lohnplus stand für die GDL in dieser Tarifrunde ohnehin nicht im Mittelpunkt: Sie wollte eine Arbeitszeitverkürzung und die tarifliche Begrenzung der Überstunden durchsetzen. Dies ist – wenn auch mit Abstrichen gegenüber den ursprünglichen Forderungen – gelungen. Ab dem 1. Januar 2018 sinkt die wöchentliche Regelarbeitszeit für das gesamte Zugpersonal um eine auf 38 Stunden. Außerdem wird die Anzahl der Überstunden im Jahressaldo auf 80 beschränkt. Allerdings räumte der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky am Mittwoch auf Nachfrage ein, dass diese Regelung nur angeordnete Überstunden betreffe.
Den Kollegen sei weiterhin freigestellt, Angebote der jeweiligen Dienststellenleiter zu „freiwilliger“ Mehrarbeit anzunehmen. Für einige GDL-Aktive ist dadurch das Ziel, die teilweise unerträgliche Arbeitsbelastung vieler Lokführer und Zugbegleiter wirksam abzumildern, gefährdet. Letztendlich sei diese Form der Überstundenbegrenzung „Wischiwaschi“, so ein Betriebsrat von DB-Region gegenüber Hintergrund. Selbst wenn die – ebenfalls vereinbarte – Einstellung von 1000 zusätzlichen Lokführern und 300 Zugbegleitern bis Ende 2017 realisiert werde, würde das nicht ausreichen, um den Überstundenberg dauerhaft abzutragen. Dieser ist in der Tag beträchtlich und beläuft sich alleine bei diesen beiden Berufsgruppen auf vier Millionen Überstunden.
Eine weitere bittere Pille hat die GDL bei den Rahmenvereinbarungen geschluckt. Zwar hat die Bahn ausdrücklich anerkannt, dass die GDL künftig für alle ihre Mitglieder beim Zugpersonal eigenständige Tarifverträge abschließen darf, auch wenn diese mit denen der EVG konkurrieren. Doch im Gegenzug hat die GDL der Implementierung einer Zwangsschlichtung in das Tarifgeschehen zugestimmt. Das bedeutet, dass die Bahn in laufenden Tarifrunden einseitig eine Schlichtung veranlassen kann, was für die Gewerkschaft automatisch Friedenspflicht bedeutet. Das heißt, bis zum Ende der Schlichtung dürfte sie nicht zu Streiks aufrufen.
GDL-Chef Weselsky betonte zwar, dass es keine Verpflichtung gebe, einen Schlichterspruch anzunehmen, und man im Falle einer Ablehnung jederzeit Arbeitskampfmaßnahmen einleiten könne. Die bisherige Erfahrung mit derartigen Zwangsschlichtungen zeigt allerdings, dass sie ausgesprochen demobilisierend wirken und es anschließend kaum noch zu Streiks kommt. Dies ist aktuell bei der Tarifauseinandersetzung zwischen ver.di und dem Verband der kommunalen Arbeitgeber um die Eingruppierung der sozialen Berufe zu beobachten. Die nach wochenlangen Streiks vor allem von Erzieherinnen in Kindertagesstätten eingeleitete Schlichtung erbrachte ein aus Sicht vieler Gewerkschafter desaströses Ergebnis, dennoch ist nicht mit einer Fortführung des Arbeitskampfes zu rechnen.
Nicht umsonst fordern besonders Unternehmerverbände und die CSU derzeit vehement die Einführung von Zwangsschlichtungen per Gesetz, um die gewerkschaftlichen Kampfmöglichkeiten einzuschränken. Dass sich die GDL in dieser Situation sozusagen freiwillig und längerfristig (laut Vertrag zunächst bis Ende 2020) ihre Aktionsmöglichkeiten beschränken lässt, stößt an der Basis auf einigen Unmut, wie am Mittwoch zu vernehmen war.
Ohrfeige für Nahles
In einer anderen grundsätzlichen tarifpolitischen Frage hat die GDL aber zweifellos einen Erfolg errungen. Die Bahn hat sich verpflichtet (ebenfalls bis Ende 2020), das vor einigen Wochen vom Bundestag verabschiedete Tarifeinheitsgesetz im Konzern nicht anzuwenden. Das Gesetz sieht vor, dass in Betrieben mit konkurrierenden Gewerkschaften stets der Tarifvertrag, den die Mehrheitsgewerkschaft abgeschlossen hat, Vorrang hat. Sparten- und Berufsgewerkschaften könnten dann für ihre Forderungen nicht mehr streiken. Dass jetzt ausgerechnet die Bahn AG als großer potenzieller Nutznießer dieses Gesetzes dessen Anwendung ausschließt, kann man getrost als schallende Ohrfeige für Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles ansehen, die dieses Machwerk vorangetrieben hatte. Und auch für die DGB-Spitze, die sich aus organisationsegoistischen Interessen hinter das Gesetz gestellt hat, wohl wissend, dass es eine möglicherweise verfassungswidrige Einschränkung der Gewerkschaftsfreiheit beinhaltet.
Bei aller berechtigten Kritik an einigen der bislang bekannten Elemente der Schlichtungsvereinbarung kann man aber dennoch von einem wichtigen Erfolg der GDL sprechen. Sie hat sich trotz unerträglicher Hetze der politischen Eliten und der meisten Medien nicht von ihren Kernforderungen abbringen lassen. Sie hat ihre gewerkschaftlichen Grundrechte verteidigt und zumindest einen Einstieg in den Abbau der unerträglichen Arbeitsbelastung des Zugpersonals erreicht. Laut GDL-Insidern hätten besonders die Arbeitszeit- und Überstundenregelungen noch in der vergangenen Woche beinahe zum Abbruch der Schlichtung geführt. Demnach hatte Platzeck angekündigt, öffentlich das Scheitern zu verkünden und die Bahn als Schuldigen zu benennen, da sie bei diesem Komplex jeden Kompromiss kategorisch verweigere. Und die GDL habe gedroht, im Falle eines Scheiterns zu einem unbefristeten Streik aufzurufen.Das scheint die Konzernverantwortlichen, die nach eigenem Bekunden durch die Streiks rund eine halbe Milliarde Euro verloren haben, zu einer gewissen Flexibilität veranlasst haben. Zumal offensichtlich ist, dass die jetzt erzielte Einigung mit der GDL für die Bahn auch ohne Streiks möglich gewesen wäre, wenn sie nicht der GDL das Recht auf eigenständige Tarifverträge abgesprochen hätte, was eher politische als betriebswirtschaftliche Gründe hatte.
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Weselsky erklärte am Mittwoch, man gehe mit dieser Schlichtungsvereinbarung „erhobenen Hauptes“ in die Bundestarifkommission, die bereits am Freitag über die Annahme der Verträge entscheiden soll. Anschließend werden die Mitglieder in einer Urabstimmung entscheiden, wobei laut GDL-Satzung 25 Prozent der abgegebenen Stimmen für die endgültige Beendigung des Arbeitskampfes ausreichen würden. Das wird mit Sicherheit erreicht werden
Der Tarifkampf 2014/2015 der GDL ist nunmehr Geschichte. Und trotz aller Kritik lautet die Lehre: Kämpfen lohnt sich! Eine Botschaft, die auch für die ver.di-Kollegen bei der Post und an der Berliner Charité eine willkommene Unterstützung sein wird.