Wirtschaft Inland

Brüderle träumt von Vollbeschäftigung

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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VON REDAKTION, 29. Juli 2010 –

Trotz einer leichten Sommerflaute hat sich die Erholung auf dem deutschen Arbeitsmarkt im Juli fortgesetzt. Die Zahl der Erwerbslosen ist im Vergleich zum Vormonat  lediglich um rund 39.000 auf 3,19 Millionen gestiegen, so die Bundesagentur für Arbeit in einer Mitteilung. Das sind etwa 280.000 Erwerbslose weniger als vor einem Jahr. Die Arbeitslosenquote stieg um 0,1 Prozentpunkte auf 7,6 Prozent.

Saisonbereinigt nahm die Arbeitslosenzahl im Juli sogar um 20.000 auf 3,211 Millionen ab. Auch vor dem Hintergrund dieser Zahlen rechnet Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) mit einem stärkeren Wachstum der deutschen Wirtschaft als bisher von der Regierung prognostiziert. „Bei aller Vorsicht glaube ich, dass wir sogar eine Zwei vor dem Komma erreichen können“, sagte Brüderle im Interview mit dem Nachrichtenmagazin Focus. Die Bundesregierung ging bisher von einem Wachstum von 1,4 Prozent aus.

Brüderle, der gegenwärtig von der CDU wegen seiner Forderung nach der Abschaffung der Rentengarantie für deren aktuelles Umfragetief verantwortlich gemacht wird, bringt sich auch mit einer anderen abenteuerlichen These erneut in die Debatte ein. Die zaghafte, vor allem vom Export getriebene Erholung der deutschen Wirtschaft verleitet ihn zu der Auffassung, dass sogar eine Vollbeschäftigung in Aussicht stehe. Bereits zu Monatsbeginn sprach er von einem „gar nicht so kleinen Jobwunder“, dass Deutschland gegenwärtig erlebe.

Eine Vollbeschäftigung „halte ich als Perspektive schon für machbar”, sagte er jetzt im ZDF. Dabei helfe auch die demografische Entwicklung: Wegen der niedrigen Geburtenrate werde es künftig weniger Erwerbstätige geben.

Unter Vollbeschäftigung versteht man, wenn alle Arbeitswilligen einen Job haben und die Anzahl der offenen Stellenangebote die der Arbeitssuchenden übertrifft. Als Richtwert gilt dabei die Arbeitslosenquote. Allerdings wurde dieser im Laufe der Zeit kontinuierlich angehoben. In den Zeiten des „Wirtschaftswunders“ der 1950er Jahre wurde noch die Ein-Prozent-Marke als Grenze zur Vollbeschäftigung betrachtet. Nach dem Ende der 1950er Jahre galt Vollbeschäftigung bei einer Arbeitslosenquote von zwei Prozent als prinzipiell erreicht. In den 1990er Jahren wurden sogar 4, 5 oder gar 6 Prozent als Maßstab genommen.

Dass die von Brüderle angeführte demografische Entwicklung zu einer Vollbeschäftigung führen wird, ist allerdings eine Milchmädchenrechnung. Denn die Veralterung der Gesellschaft nimmt nicht in derselben Geschwindigkeit zu, wie die Produktivität der Arbeit. Die Produktivkraftentwicklung hat zu einer nun seit Jahrzehnten bestehenden strukturellen, also von Konjunkturzyklen unabhängigen, Arbeitslosigkeit geführt. Diese basiert darauf, dass die durch die gestiegene Produktivität aus dem Produktionsprozess verdrängten Arbeitskräfte nicht wieder vollzählig in denselben durch dessen Ausweitung eingebunden werden können. Auch die Verdrängung der Arbeitskräfte in andere Bereiche, wie den Dienstleistungssektor, bringt nur eine temporäre Entlastung – schließlich wird auch dort rationalisiert, wo es nur möglich ist.

Die im Laufe der Zeit vollzogene Anhebung des Richtwerts für Vollbeschäftigung lässt sich auch als Eingeständnis ansehen, dass es eine tatsächliche Vollbeschäftigung aufgrund der strukturellen Arbeitslosigkeit nicht mehr geben wird.

Da es absehbar ist, dass sich die Entwicklung der Produktivkräfte zukünftig noch beschleunigen wird – schließlich wird der Zwang zum billigeren Produzieren durch die Konkurrenz auf globalen Märkten weiter erhöht und damit auch der Druck zu produktionstechnischen „Innovationen“ –, ist der Begriff „Wunder“ im Zusammenhang mit der Schaffung von Arbeitsplätzen, die zur Vollbeschäftigung führen, durchaus angebracht. Die schwarz-gelbe Koalition tut gegenwärtig ihr Mögliches, dass dieses Wunder nicht wahr wird. Das DIW Berlin (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) veröffentlichte im Juni 2010 eine Studie, wonach die schrumpfende Mittelschicht weiter schrumpft. Bekanntlich stellt die Mittelschicht eine wesentliche Säule der Wirtschaft dar. Rund zwei Drittel der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze sowie über 80 Prozent der Ausbildungsplätze werden von kleinen und mittleren Unternehmen gestellt.

Mit der Schrumpfung der Mittelschicht steigt die Zahl der Menschen mit Niedrigeinkommen   dementsprechend nicht nur immer mehr an – diese Gruppe verdient auch in absoluten Zahlen immer weniger.

Das führt zu einer Verringerung der (Binnen-)Kaufkraft und somit zu einem verringerten Absatz von Waren, wodurch eine Ausweitung der Produktion, mittels derer zuvor durch Maschinen ersetze Arbeitskräfte wieder in den Produktionsprozess „eingesaugt“ werden könnten, verhindert wird. Die Konzentration auf den Export ist zudem mit dem Risiko verbunden, dass viele Importländer wie beispielsweise die USA, Spanien oder auch Griechenland, „über ihre Verhältnisse leben“, also im Klartext ihre Importe zu einem großen Teil über Kredite finanzieren. Platzt die ausufernde Kreditblase weil die Schulden bzw. die Zinsen darauf nicht mehr bedient werden können, bricht die Produktion in den Exportnationen ein. Die Ausrichtung auf den Export ist somit besonders abhängig von der Stabilität der Finanzmärkte und der fragwürdigen Zahlungsfähigkeit hochverschuldeter Staaten.

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Jan Goebel vom DIW Berlin hält das geplante Sparpaket der Bundesregierung vor dem Hintergrund der beobachteten Entwicklung für zu einseitig: „Die bisher gemachten konkreten Vorschläge betreffen nur die unteren Einkommen. Der Anteil der Reichen aber steigt stetig und die Reicheren verdienen auch immer besser. Da stellt sich schon die Frage, ob diese Gruppe nicht auch einen Sparbeitrag leisten sollte.“

Eine Frage, die sich für die Bundesregierung offenbar nicht stellt. Stattdessen ist sie voll damit beschäftigt, den von den Sparmaßnahmen Betroffenen Sand in die Augen zu streuen – nicht anders ist das Gerede von einer perspektivischen Vollbeschäftigung zu bewerten.

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