TTIP vor dem Aus?
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Nach Veröffentlichung „geleakter“ Dokumente rechnen selbst Befürworter des Handelsabkommens mit dessen Scheitern –
Es war ein Paukenschlag: Am 2. Mai stellte die Umweltorganisation Greenpeace 240 Seiten geheimer Dokumente aus den laufenden Verhandlungen zur sogenannten Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) ins Netz. Am selben Tag veröffentlichte bereits der Rechercheverbund von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR mehrere Beiträge, die den aktuellen Stand der Gespräche widerspiegelten. Erstmals bekam so die Öffentlichkeit einen Eindruck davon, wie weit der von der Europäischen Kommission und den Befürwortern des Abkommens aus Politik und Wirtschaft in der EU formulierte Anspruch an den Vertrag und die Realität der Verhandlungen auseinanderklaffen.
Deutlich wurde vor allem eins: Die USA sind nicht bereit, auf die Forderungen der EU einzugehen, die diese vor allem auf Druck der kritischen Öffentlichkeit in die Verhandlungen eingebracht hatte.
Transparenz Fehlanzeige
Vor „TTIP-Leaks“ hatte die EU-Kommission bereits gut ein Jahr lang Texte auf ihrer Webseite veröffentlicht, die die Ziele des Abkommens darstellten, jedoch nicht den wirklichen Stand der Verhandlungen dokumentierten. Die von Ignacio García Bercero, TTIP-Chefunterhändler auf EU-Seite, im April 2015 in Berlin verkündete „Transparenzoffensive“ blieb schlicht aus; die Verhandlungsrunden fanden weiter unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Aktuelle Dokumente dürfen Abgeordnete des Europäischen und der nationalen Parlamente zwar inzwischen in Leseräumen einsehen, etwas daraus kopieren dürfen sie nicht. Außerdem müssen sie über den Inhalt des Gelesenen Stillschweigen bewahren. Immer wieder hatten der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Deutsche Kulturrat und viele andere Organisationen vor allem dieses Vorgehen kritisiert.
Während etwa das globalisierungskritische Netzwerk attac, das EU-weit aktive Bündnis „Stopp TTIP“, die Partei Die Linke wie auch der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) die geplante Übereinkunft mehr oder weniger grundsätzlich infrage stellen, monieren viele andere Gewerkschaften und Verbände in erster Linie die Geheimhaltung der Verhandlungen.
Leere Versprechungen
Dass Greenpeace der Geheimniskrämerei nun ein Ende gesetzt hat, ist ein großer Erfolg für die Gegner der Handelspartnerschaft. Denn die nun zugänglichen Protokolle offenbaren, dass die EU-Kommission, verantwortliche Politiker und Vertreter der Wirtschaftslobby bislang nur leere Versprechungen gemacht haben, was Verbraucherschutz, Erhalt der geltenden Umwelt- und Sozialstandards sowie die Schaffung eines internationalen Handelsgerichtshofes angeht. Immer wieder war beispielsweise beteuert worden, die Bürger Europas seien sicher vor mithilfe von Hormonen produziertem und mit Chlor behandeltem Fleisch sowie Genfood.
Genau das aber ist, wie die „geleakten“ Dokumente nun zeigen, alles andere als geklärt. Vielmehr dringen die US-Amerikaner auf eine Öffnung der EU-Märkte für „moderne landwirtschaftliche Technologie“ aus den Vereinigten Staaten als Gegenleistung für den Abbau von Zöllen, Prüfstandards und anderen Handelshemmnissen für die europäische Automobilindustrie. Sollte die EU hier nicht „liefern“, so die indirekte Drohung, werden die Fahrzeugbauer auf die mit TTIP erwarteten enorm erhöhten Profite verzichten müssen. Die Süddeutsche Zeitung(1) veröffentlichte Schätzungen, wonach die Autohersteller nach einem Wegfall der Zölle auf Pkw und Lkw sowie eines Viertels der übrigen Handelshemmnisse das Zweieinhalbfache des jetzigen Volumens ausführen könnten. Die EU-Hersteller exportierten demnach schon im Jahr 2015 eine Million Fahrzeuge in die Vereinigten Staaten. Dies entspricht einem Viertel aller Güterausfuhren aus der EU in die USA. Auch die Chemiebranche hat viel zu gewinnen. An dieser Auseinandersetzung zeigt sich, wie groß das Interesse mächtiger Industrien an dem Abkommen auch auf europäischer Seite ist. Und sie macht deutlich: Gerade hier droht die Gefahr, dass Schutzstandards bei Lebensmitteln und damit die Rechte der Verbraucher in einem Kuhhandel den Wünschen einiger weniger Konzerne geopfert werden.
Auch in Sachen Schiedsgerichte zum „Investorenschutz“ zeigen die Papiere, dass die Kommission bisher nichts von dem erreicht hat, was sie schon als quasi durchgesetzt verkaufen wollte. Ursprünglich war für TTIP – wie für viele multi- und bilaterale Handels- und „Investorenschutz“-Abkommen zuvor(2) – die Einrichtung privater Schiedsgerichte geplant. Großaktionäre sollten sie nutzen können, um Regierungen auf Schadenersatz zu verklagen, wenn sie sich durch neue Gesetze um Gewinnchancen betrogen und damit indirekt „enteignet“ sehen. In solchen „Investor-Staats-Verfahren“ sind in den USA horrende Schadenersatzforderungen an der Tagesordnung.
Die wachsende Anti-TTIP-Bewegung hatte jedoch dafür gesorgt, dass der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) und EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström vorschlugen, anstelle der Schiedsgerichte einen internationalen Handelsgerichtshof mit öffentlich bestellten Juristen und besseren Berufungsmöglichkeiten für die Staaten einzurichten. Wie die geleakten Papiere zeigen, wird der jedoch von der US-Delegation noch immer rundheraus abgelehnt.
Außerdem machen die Dokumente deutlich, dass auch die von Gegnern heftig kritisierte „regulatorische Kooperation“ weiterhin droht. Die Initiative hierzu war von der EU-Kommission ausgegangen. Es handelt sich dabei um ein Instrument zur faktischen Ausschaltung von Parlamenten. Die regulatorische Zusammenarbeit soll dafür sorgen, dass neue Regeln möglichst gar nicht erst beschlossen werden. Sie beinhaltet die Schaffung eines Expertengremiums, das mit Vertretern beider Vertragsparteien besetzt ist und jede Gesetzesinitiative auf beiden Seiten des Atlantiks begutachten dürfen soll, bevor sie in das parlamentarische Verfahren kommt. Die USA verlangen darüber hinaus, dass bei jedem geplanten neuen Gesetz auch erklärt wird, warum es nötig ist – inklusive „wissenschaftlicher oder technischer Analysen“(3).
Beschwichtigungsversuche
Auf die von Greenpeace veranlasste Veröffentlichung folgte das erwartete große Abwiegeln vonseiten der TTIP-Lobbyisten. Standen allerdings vor gut einem Jahr noch ein angeblich gewaltiger allgemeiner Wohlstandsgewinn und die vermeintlichen zahllosen neuen Jobs im Zentrum von deren Argumentation, heißt es jetzt meistens: Platzt das Abkommen, wird Europa vom globalen Markt abgehängt. Dann bestimmten Chinesen, Inder und weitere in Sachen Demokratie unsichere Kantonisten die Regeln des Welthandels und machten das große Geschäft. Ingo Kramer, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), erklärte, TTIP sei „die wohl letzte große Chance, den Welthandel im transatlantischen Interesse mitzugestalten und demokratische Prinzipien für fairen und freien Handel zu verankern“(4).
Diese neue Begründung der behaupteten Alternativlosigkeit von TTIP dürfte mit den Veröffentlichungen der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch zu tun haben. Ihr Geschäftsführer Thilo Bode hatte im vergangenen Jahr in einem Buch detailliert nachgewiesen, dass die vom Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) und der CDU versprochenen positiven Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt und den Arbeitsmarkt nicht einmal in den zitierten Studien prognostiziert werden, sondern dass Angaben daraus in den Propagandatexten teilweise einfach vervielfacht worden waren.(5)
Unterdessen deuten die Äußerungen der Verantwortlichen in der EU-Kommission darauf hin, dass spätestens nach TTIP-Leaks kaum noch jemand an einen Vertragsabschluss glaubt, zumindest nicht in absehbarer Zeit. Denn in den USA finden im Herbst die Präsidentschaftswahlen statt, in Deutschland wird ein Jahr später der Bundestag neu gewählt. Wesentliche Akteure der Verhandlungen dürften ein Interesse daran haben, das heftig diskutierte Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Auch in den USA wächst der gesellschaftliche Widerstand gegen TTIP.
Zugleich beteuerten die Kommission wie auch die deutsche Sozialdemokratie nach der Publikation der Dokumente, es werde „auf keinen Fall“ ein Abkommen geben, das private Schiedsgerichte legitimiere. Kein von der EU abgeschlossener Handelsvertrag werde „jemals die Standards bei Verbraucherschutz, Lebensmittelsicherheit und Umweltschutz absenken“, versicherte Handelskommissarin Malmström.
Am 13. Mai meldete die Nachrichtenagentur Reuters, die EU-Kommission wolle die TTIP-Verhandlungen „nicht um jeden Preis in diesem Jahr“ abschließen. Eine Einigung bis zum Ende der Amtszeit von US-Präsident Barack Obama am 20. Januar 2017 werde zwar weiter angestrebt, aber „nicht auf Kosten des Inhalts“, versprach Cecilia Malmström. Der österreichische Außenhandelssekretär Matthias Fekl sagte, ein Stopp der Verhandlungen sei derzeit die „wahrscheinlichste Option“. Und der Vorsitzende des Handelsausschusses im Europaparlament, Bernd Lange (SPD), äußerte gegenüber dem rbb-Inforadio, dass sich die Amerikaner „null Komma null“ bewegen. Dies musste auch Friedrich Merz (CDU), Vorsitzender des Vereins „Atlantik-Brücke“ und entschiedener TTIP-Befürworter, konstatieren. Der Ökonom und Wirtschaftsjournalist Norbert Häring hält das Abkommen für „so gut wie tot“(6).
Ausweichen auf CETA?
Bedeutet ein Aussetzen der Gespräche zu TTIP auf unbestimmte Zeit nun, dass sich Gegner eines „Freihandels“, der nur die mächtigsten Branchen begünstigt, entspannt zurücklehnen können? Keineswegs – das wissen alle von attac über das Kampagnennetzwerk Campact, Greenpeace und BUND bis hin zu den Gewerkschaften. Schon seit Längerem warnen sie, mit dem Ende 2014 fertig verhandelten „Umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommen“(7) zwischen der EU und Kanada, CETA, könnten die schlimmsten Auswüchse des Freihandels auch ohne TTIP kommen, quasi „durch die Hintertür“. Sie verweisen darauf, dass fast alle großen US-Unternehmen Tochtergesellschaften in Kanada haben. Die könnten dann vor den in CETA festgelegten Schiedsgerichten aufgrund von Wettbewerbsnachteilen, die sie im Handeln von EU-Mitgliedstaaten zu erkennen meinen, auf Schadenersatz klagen. Darüber hinaus könnten sie auch mit CETA über sogenannte Expertengremien neue Gesetze kippen, bevor die Entwürfe dem Parlament vorgelegt werden.
In der Bundesrepublik wollen deshalb Campact, Foodwatch und der Verein „Mehr Demokratie“ Verfassungsbeschwerde gegen CETA erheben, der sich jeder Bürger anschließen kann.(8) Sobald die Abstimmung über das Abkommen im EU-Ministerrat ansteht, will das Bündnis in Karlsruhe einen Antrag auf einstweilige Anordnung gegen CETA stellen. Die Unterzeichnung des Vertrages durch EU-Kommission und Vertreter der Mitgliedstaaten ist für Oktober geplant. Mit der Unterzeichnung im Herbst könnte Brüssel Fakten schaffen, fürchten die Kläger, obwohl das Abkommen formell erst nach einem positiven Votum aller 28 Parlamente der EU-Mitgliedstaaten in Kraft treten würde. Einer bereits im vergangenen Jahr von der Lehrerin Marianne Grimmenstein initiierten „Bürgerklage“ gegen CETA haben sich auf der Internetplattform change.org bereits mehr als 230#000 Menschen angeschlossen. Autor dieser Verfassungsbeschwerde ist der Bielefelder Juraprofessor Andreas Fisahn, der auch im wissenschaftlichen Beirat von attac sitzt.
Wie für TTIP gilt auch für CETA: Der Widerstand wächst, und es ist inzwischen alles andere als sicher, ob die Abkommen jemals beschlossen und in Kraft treten werden.
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Der Artikel erschien zuerst im Hintergrund-Magazin 3, 2016.
Anmerkungen und Quellen:
(1) http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ttip-papiere-amerika-macht-druck-wie-nie-1.2974979
(2) http://www.hintergrund.de/201501143384/wirtschaft/wirtschaft-welt/das-juengste-weltgericht.html
(3) http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ttip-papiere-usa-wollen-einfluss-auf-europaeische-gesetze-nehmen-1.2975013
(4) http://www.derwesten.de/politik/ist-das-der-sargnagel-fuer-ttip-aimp-id11793070.html
(5) Thilo Bode: Die Freihandelslüge: Warum TTIP nur den Konzernen nützt – und uns allen schadet«, DVA, München 2015,
(6) http://norberthaering.de/de/27-german/news/611-ttip-falle#weiterlesen
(7) http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2014/september/tradoc_152806.pdf
(8) www.ceta-verfassungsbeschwerde.de