Risse in der Megamaschine
Von der Krise des modernen Weltsystems und den Gefahren und Chancen der Übergangszeit
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Vor etwa fünfhundert Jahren formierte sich in Europa ein historisches System, das sich seither gewaltsam über die Erde verbreitet hat und seit gut einhundert Jahren den gesamten Planeten beherrscht. Es ist unter verschiedenen Namen bekannt: das moderne Weltsystem, die kapitalistische Weltwirtschaft oder die Megamaschine (Lewis Mumford). 1 In meinem Buch Das Ende der Megamaschine habe ich beschrieben, wie dieses komplexe gesellschaftliche System im 21. Jahrhundert an ökologische und ökonomische Grenzen stößt, die in ihrer Kombination wahrscheinlich unüberwindbar sind. 2 In den knapp zwei Jahren seit Veröffentlichung des Buches haben sich die globalen Krisenprozesse weiter massiv verschärft, und zwar in jeder erdenklichen Dimension: wirtschaftlich, politisch, weltanschaulich und ökologisch. Die Fundamente der Großen Maschine geraten immer deutlicher ins Wanken, und die Diskussion über ein Ende des Kapitalismus und die Frage, was danach kommt, ist längst über kleine linke Kreise hinaus salonfähig geworden.
Der Zerfall der politischen Stabilität ist nur das Symptom für Verwerfungen, die weit tiefer reichen. Die Erzählung vom Fortschritt, die über Jahrhunderte das ideologische Fundament der westlichen Zivilisation gebildet hat, zerfällt vor unseren Augen.
Unter Ökonomen macht der sperrige Begriff der „säkularen Stagnation“ die Runde. Damit ist die Tatsache gemeint, dass die Weltwirtschaft einfach nicht mehr rundlaufen will. Zentralbanker denken inzwischen laut darüber nach, „Helikoptergeld“ auf die Bevölkerung niederregnen zu lassen, um die stotternde Maschine wieder in Gang zu bringen. Anstelle von Investitionen in die sogenannte Realwirtschaft fließt das Geld vor allem in spekulative Geschäfte. Die Folge: Das Finanzsystem ist aufgeblähter und instabiler denn je – was selbst der IWF zugibt – und der nächste Crash nur eine Frage der Zeit. Eine der Ursachen für die Misere der Weltwirtschaft ist die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich in fast allen Ländern der Erde, ob in China, Indien, den USA oder Deutschland. Während die acht reichsten Menschen der Erde so viel besitzen wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, verlieren immer mehr Menschen jede ökonomische Perspektive. 3
Mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 40 oder gar über 50 Prozent ist dieser Trend längst auch in Südeuropa angekommen. Je erfolgreicher neoliberale Politik Löhne drückt, die Produktion in Billiglohnländer verlagert, prekäre Beschäftigungsverhältnisse schafft, den öffentlichen Sektor zerstört und Gewinne in Steueroasen deponiert, desto mehr verschärft sich diese Krise, die letztlich die Fundamente des Systems selbst untergräbt.
Eine Folge davon ist der rapide Zerfall der politischen Stabilität, der sowohl im globalen Süden als auch im Norden zu beobachten ist. Nachdem sich die neoliberalen Wohlstandsversprechungen der letzten dreißig Jahre als leer erwiesen haben, schwindet das Vertrauen in die etablierte Politik zusehends. Die US-Wahlen bezeugen das ebenso wie der Brexit und der drohende Zerfall der EU. Das Misstrauen gegenüber den Eliten ist dabei nicht nur auf Politiker gerichtet, sondern auch auf etablierte Medien, die ebenfalls einen dramatischen Vertrauensverlust zu verzeichnen haben. Der Niedergang der Sozialdemokratie und auch der traditionellen konservativen Parteien, die tief in die diskreditierte und oft korrupte neoliberale Politik verstrickt sind, hat ein politisches Vakuum geschaffen. In Südeuropa konnten zum Teil emanzipatorische Kräfte dieses Vakuum nutzen, etwa Podemos in Spanien. In den meisten Ländern sind es jedoch rechte Demagogen, denen es gelungen ist, die Lücke zu füllen. Dabei haben ihnen einige große Medien und Teile des alten parteipolitischen Establishments einen wichtigen Dienst erwiesen, indem sie linke Alternativen systematisch kleingeredet oder lächerlich gemacht haben – zum Beispiel Bernie Sanders in den USA oder Jeremy Corbyn in Großbritannien – oder gar gezielt zerstört haben, so etwa die erste Syriza-Regierung in Griechenland. Zwar war das Ziel in all diesen Fällen nicht, Rechtsextremen Tür und Tor zu öffnen, aber es wurde billigend in Kauf genommen, um zu verhindern, dass ein erfolgreiches linkes Projekt womöglich Schule macht.
Der Glaube an die Zukunft zerbricht
Der Zerfall der politischen Stabilität ist allerdings nur das Symptom für Verwerfungen, die weit tiefer reichen. Der Glaube daran, in einer auch nur halbwegs sinnvollen Gesellschaft zu leben, die eine auch nur halbwegs positive Zukunft hat, zerbricht. Der britische Sozialwissenschaftler David Harvey spricht angesichts von Massenarbeitslosigkeit, prekären und zunehmend als sinnlos empfundenen Jobs sowie politischer Desillusionierung von „universeller Entfremdung“. 4 Die Erzählung vom Fortschritt, die über Jahrhunderte das ideologische Fundament der westlichen Zivilisation gebildet hat, zerfällt vor unseren Augen. An ihrer Stelle macht sich existenzielle Orientierungslosigkeit breit – und damit verbunden Angst, Chaos in unseren Köpfen und oft auch Hass und Wut. Immer mehr Menschen verlieren materiell und emotional den Boden unter ihren Füßen. Paranoia und groteske Verschwörungstheorien grassieren, die – wenn sie politisiert werden – eine enorme Sprengkraft entfalten können.
In den USA vertrauen nur noch 19 Prozent der Bürger ihrer Regierung – dem Kongress sogar nur 9 Prozent – und lediglich 20 Prozent den Medien. 5 Angesichts eines gigantischen Haushalts- und Handelsdefizits, einer tiefen Spaltung des Landes und ausufernder Gewalt mehren sich inzwischen die Stimmen, die die USA auf dem Weg zu einem „Failed State“ sehen. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman schrieb nach der Trump-Wahl in der New York Times: „Sind die USA ein gescheiterter Staat und eine gescheiterte Gesellschaft? Das ist durchaus möglich.“ 6 Zu einem ähnlichen Schluss kommt Jim Sciutto, Chefkorrespondent für nationale Sicherheit bei dem Sender CNN, der jahrzehntelang aus Bürgerkriegsländern wie Somalia oder Afghanistan berichtet hat. Er liegt damit auf einer Linie mit James Clapper, Direktor der National Intelligence, der Dachorganisation der US-Nachrichtendienste. 7 Auch wenn die USA nicht mit dem Irak zu vergleichen sind, ist die Gefahr eines inneren Zerfalls doch real. Dieser Befund ist umso gravierender, als er ein Land betrifft, das über die bei Weitem größte Militärmaschinerie in der Geschichte der Menschheit verfügt – einschließlich Tausender Atomsprengköpfe, die das Potenzial haben, das Leben auf der Erde großenteils auszulöschen.
Der geopolitische Umbruch
Die politischen Krisen in den einzelnen Ländern gehen einher mit einem tiefgreifenden Wandel in der geopolitischen Struktur. In der fünfhundertjährigen Geschichte des modernen Weltsystems gab es immer wieder Staaten, die über lange Zeiträume hegemonial waren, weil sie eine ökonomische, militärische und kulturelle Überlegenheit erreichten, die es ihnen ermöglichte, die Spielregeln zu bestimmen. Diese Hegemoniephasen sind für die Entwicklung des modernen Weltsystems von entscheidender Bedeutung, denn die Maschinerie der endlosen Kapitalakkumulation braucht, um zu funktionieren, einen gewissen Grad an Stabilität und Ordnung sowie einige klare Spielregeln. Bisher gab es vier solcher Hegemoniezyklen: die von den Genueser Bankiers finanzierte Vorherrschaft der Spanier und Portugiesen im 16. Jahrhundert, die niederländische Hegemonie im 17. und frühen 18. Jahrhundert, das britische Empire im 19. Jahrhundert und schließlich die US-Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg. 8 Seit den 1970er Jahren zeigen sich allerdings erste Risse im US-amerikanischen Empire, die nach dem Irakkrieg-Desaster und der Finanzkrise immer deutlicher werden. Bisher waren der Niedergang der einen und der Aufstieg einer anderen Hegemonialmacht stets mit lang anhaltenden Kriegen verbunden, die durch die Industrialisierung des Militärs immer verheerendere Ausmaße annahmen. Die Frage, ob angesichts des Niedergangs der US-Hegemonie neue Kriege dieses Typs vermieden werden können, ist daher für unser aller Überleben von entscheidender Bedeutung. Nicht nur die sich weiter zuspitzende Konfrontation der USA mit Russland – etwa was die Ukraine oder Syrien betrifft –, sondern auch die sich verschärfenden Spannungen mit China nehmen eine beunruhigende Entwicklung.
China wird in absehbarer Zeit die größte Volkswirtschaft der Erde sein, auch wenn dieser Aufstieg angesichts der wachsenden sozialen Ungleichheit und der ökologischen Krise im Land durchaus fragil ist. Das Finanzzentrum der Weltwirtschaft verlagert sich zusehends nach Asien. Die in Peking ansässige Asiatische Infrastrukturinvestmentbank etwa, gegründet im Jahr 2015, fordert die Weltbank heraus und könnte deren Kreditvolumen bald schon übersteigen. Damit kofinanziert Peking zum Beispiel die „neue Seidenstraße“, ein gigantisches Infrastrukturprojekt, das China über Zentralasien und Russland mit Iran und Westeuropa verbindet. Der Aufstieg Chinas und ein mögliches Zusammenrücken Eurasiens bereiten Washington große Sorgen, weil die USA damit zum Outsider würden. Dass die Handels- und Investitionsschutzabkommen TTIP und TPP, die dazu dienen sollten, China zu isolieren, nun womöglich scheitern, macht die Sache aus US-Sicht nicht besser. Die von Präsident Barack Obama eingeleitete Verlagerung der militärischen Konzentration nach Asien („Pivot to Asia“) ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Das US-Militär hat einen Gürtel von Militärstützpunkten und Flugzeugträgern um China herum etabliert – die größte Mobilisierung von Navy- und Air-Force-Kapazitäten seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Bemühungen der chinesischen Regierung, die Landwege nach Europa auszubauen, sind als Versuch zu werten, der Bedrohung einer US-Seeblockade, die den chinesischen Handel lahmlegen könnte, zu entgehen. China baut zwar auch sein Militär aus und errichtet Basen im Südchinesischen Meer, aber das Hauptaugenmerk der Regierung liegt darauf, eine militärische Konfrontation mit den übermächtigen USA zu vermeiden.
Dass die chinesische Führung nicht auf die militärische Karte setzen kann und will, birgt Chancen für eine neue geopolitische Ordnung, die nicht in einen verheerenden Krieg um neue Hegemonie mündet – und sich damit fundamental von dem Schema der letzten fünfhundert Jahre unterscheidet. Ausschlaggebend wird sein, ob die Vereinigten Staaten bereit sind, eine multipolare Weltordnung zu akzeptieren, in der sie zwar noch immer das größte Militär unterhalten, aber ihre ökonomische und politische Dominanz verlieren; oder ob sie den irrwitzigen Versuch wagen, Chinas Aufstieg militärisch aufzuhalten. Die Gefahr der zweiten Option, so grotesk sie erscheinen mag, ist durchaus real, wie der britische Journalist John Pilger in seinem jüngsten Dokumentarfilm The Coming War on China schildert. 9 Die EU spielt in dieser brisanten Konstellation eine wichtige Rolle: Setzt sie auf Abrüstung, Entspannungspolitik nach allen Seiten und ein Sicherheitssystem nach dem Vorbild der OSZE? Oder lässt sie sich in die Logik militärischer Eskalation hineinziehen? Angesichts der besorgniserregenden Aufstockung von Militäretats in der EU wird es von entscheidender Bedeutung sein, ob die Bürger dieser Tendenz etwas entgegensetzen werden.
Die Grenzen der Biosphäre
Das politische und ökonomische Chaos trifft das Weltsystem in einer Phase, in der es in eine noch viel tiefere – und in seiner eigenen Logik letztlich unlösbare – Krise hineinsteuert: den ökologischen Kollaps. Fünfhundert Jahre Expansion und Raubbau haben inzwischen Dimensionen erreicht, die die lebenserhaltenden Systeme der Erde zerstören. Das „Kapitalozän“ (Jason W. Moore) hat bereits zum schnellsten Artensterben in der Geschichte des Planeten geführt. 10 Ein Prozent der fruchtbaren Böden gehen pro Jahr verloren, vor allem durch industrielle Landwirtschaft. 11 Die großen unterirdischen Wasserspeicher – etwa im Westen der USA oder im Nahen Osten – leeren sich in rasantem Tempo. Währenddessen wird der Klimawandel von einer abstrakten Bedrohung in der Zukunft immer deutlicher zur greifbaren Realität, die die Lebensgrundlage von Millionen Menschen untergräbt und viele von ihnen zwingt, ihre Heimat zu verlassen.
Seit 2015 sind zwei Studien erschienen, die übereinstimmend voraussagen, dass im Laufe dieses Jahrhunderts große Teile des Nahen Ostens und Nordafrikas infolge des Klimawandels unbewohnbar werden. Es wird dort – wenn der Klimawandel nicht rasch gestoppt wird – zu lang anhaltenden Dürren und an den heißesten Tagen zu Temperaturen kommen, bei denen menschliches Leben nicht mehr möglich ist. 12 Wir wissen bereits, dass der Krieg in Syrien durch den Klimawandel mitverursacht wurde, weil mehr als eine Million Menschen ihr Land infolge der schwersten Dürre in der Geschichte des Landes verlassen mussten – und das bei lediglich 0,9 Grad Erwärmung. Noch beunruhigender ist das beginnende Abschmelzen der Himalayagletscher. Wenn sie in einigen Jahrzehnten verschwunden sind, droht die Süßwasserversorgung von 1,5 Milliarden Menschen in Nordindien und großen Teilen Chinas zusammenzubrechen, da in den regenarmen Jahreszeiten die Flüsse mangels Schmelzwasser trockenfallen. Wie sich die dort lebenden Menschen dann noch ernähren sollen und wie auch nur irgendeine Form von politischer Stabilität gewährleistet werden kann, weiß niemand. Die Idee, dass der Mensch die Natur beherrschen könne – eines der ideologischen Fundamente der Megamaschine –, entpuppt sich angesichts dieser Dimensionen als Wahnvorstellung.
Gefahren und Chancen einer chaotischen Übergangszeit
Der Kapitalismus hat in der Vergangenheit schon viele ernste Krisen überstanden und ist meist gestärkt daraus hervorgegangen. Aber kein Gesellschaftssystem hat je zuvor in dieser Weise planetare Grenzen erreicht. Vieles deutet darauf hin, dass die moderne Megamaschine die Kombination aus sozialen, ökonomischen und ökologischen Verwerfungen im 21. Jahrhundert nicht überleben wird. Wir stehen am Anfang einer chaotischen systemischen Übergangsphase, die mindestens einige Jahrzehnte dauern wird und deren Ausgang vollkommen ungewiss ist. Eine Rückkehr zu der gewohnten Funktionsweise von Wirtschaft und Politik ist in dieser Situation auf lange Sicht nicht möglich. Die Zeiten, in denen wir hoffen konnten, dass es schon irgendwie gut gehen wird, wenn wir weiter einfach unsere Jobs machen und alle vier Jahre zur Wahl gehen, sind vorbei. Wir werden uns daher aus unseren Zuschauersesseln erheben müssen, um uns einzumischen. Wenn wir sitzen bleiben, überrollt uns der Wandel, und er wird für einen großen Teil der Menschheit katastrophal sein. Denn diejenigen, die jetzt über Macht und Geld verfügen, werden ihre Privilegien im wachsenden Chaos mit immer härteren Mitteln zu verteidigen suchen. Dabei deutet sich an, dass sie – wie schon in den 1920er und 1930er Jahren – nicht davor zurückschrecken werden, sich mit neuen autoritären oder gar faschistischen Kräften zu verbünden. Siehe Trump.
Trotz aller Gefahren birgt die bevorstehende Übergangszeit zugleich ein enormes Potenzial für tiefgreifende positive Veränderung. Die Ratlosigkeit großer Teile des wirtschaftlichen und politischen Establishments angesichts der Systemkrise eröffnet Chancen, die derzeit vor allem von rechten Strömungen und Autokraten genutzt werden, die aber ebenso gut von Menschen genutzt werden können, die sich für eine gerechtere und menschlichere Zukunft einsetzen. Vieles spricht dafür, dass diese Menschen in den meisten Ländern der Erde in der Überzahl sind. Dabei fehlt es gar nicht so sehr an Alternativen in Theorie und Praxis – im Grunde ist weitgehend klar, was zu tun ist: Es geht darum, eine Ökonomie aufzubauen,, die dem Gemeinwohl und nicht der endlosen Geldvermehrung dient, einschließlich eines gemeinwohlorientierten Finanzsystems anstelle des derzeitigen Casinos. Große Vermögen und Einkommen müssen massiv besteuert werden, um den sozial-ökologischen Umbau zu finanzieren. Dazu gehört auch ein sehr schneller Ausstieg aus fossilen Energien und der ebenso rasche Aufbau dezentraler Erneuerbarer. Die Landwirtschaft muss von der destruktiven Agrarindustrie hin zu einer kleinbäuerlich-ökologischen Landwirtschaft umgebaut werden, womit allein 30 Prozent der Treibhausgasemissionen eingespart werden können. Demilitarisierung, Regionalisierung, fairer Handel, Stärkung der Rechte von Migranten und Geflüchteten sind voranzutreiben. Die Liste ließe sich weiter fortsetzen.
Was fehlt, sind nicht so sehr sinnvolle Ziele als vielmehr die Fähigkeit, sich zu organisieren und punktuell auf inhaltliche Schnittmengen zu einigen, um politische Stoßkraft zu entwickeln. Der neoliberale Rollback der letzten dreißig Jahre hat die Fähigkeiten zur Selbstorganisation erheblich geschwächt. Es mag aber helfen, sich daran zu erinnern, dass die Geschichte der Moderne entscheidend von revolutionären Bewegungen mitgeprägt wurde. Einige von ihnen sind tragisch gescheitert, andere aber haben bemerkenswerte Erfolge errungen, etwa die Arbeiter-, Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen, die den größten Teil unserer demokratischen Rechte – so unvollständig sie auch noch sein mögen – in den letzten zweihundert Jahre erkämpft haben. Von ihren Fehlern und Erfolgen zu lernen und neue Formen der Organisation zu entwickeln, wird eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft sein.
Wie können ökologische Bewegungen, Arbeiter- und Erwerbslosenorganisationen, migrantische Initiativen, Friedensbewegungen und viele andere zusammenwirken, um politische Räume zu besetzen und dem Aufstieg der Rechten etwas entgegenzusetzen? Können alte und neue Parteien dabei noch eine sinnvolle Rolle spielen? (Man denke zum Beispiel daran, dass seit der Wahl von Jeremy Corbyn zum neuen Chef der Labour Party mehr als 200 000 vor allem junge Menschen in die Partei eingetreten sind und alle Versuche der Parteispitze vereitelt haben, Corbyn wieder loszuwerden.) Wie können wir breite öffentliche Debatten um eine systemische Transformation anstoßen, die nicht nur die üblichen Verdächtigen erreichen – und welche neuen Medien müssen wir dazu aufbauen? Von den Antworten auf diese Fragen wird es mit abhängen, ob die Übergangsphase, in der wir uns befinden, in eine Welt führen wird, die noch ungerechter und gewalttätiger ist als die jetzige, oder in eine menschenfreundlichere Zukunft. Die gute Nachricht ist: Je chaotischer ein System wird, desto größere Wirkungen können auch kleine Bewegungen haben – wie der berühmte Schmetterling, dessen Flügelschlag am anderen Ende der Welt einen Sturm auslösen kann. Es kommt also auf uns alle an. Und zuschauen gilt nicht.
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Fabian Scheidler ist Mitbegründer des Nachrichtenmagazins Kontext TV (www.kontext-tv.de) und Autor des Buches Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation, das von der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen zu den TOP10 der Zukunftsliteratur 2015 gewählt wurde (www.megamaschine.org).