Weltwirtschaft

„Pumpt sie zu Tode!“

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Der anhaltend niedrige Ölpreis und seine politischen Auswirkungen –

Von HANS BERGER, 10. Mai 2016 –

Seit Mitte 2014 befindet sich der Preis für das Barrel Rohöl in einer nahezu stetigen Abwärtsbewegung. Von 115,71 US-Dollar/Barrel fiel er bis zum Januar 2015 auf 45,19 US-Dollar/Barrel, um sich dann kurzfristig auf niedrigem Niveau zu erholen und schließlich bis zum 15. Januar 2016 erneut auf ein Tief von 29,42 US-Dollar/Barrel abzusinken. (1)

Wie sich der Preis für das schwarze Gold im Laufe des Jahres 2016 entwickeln wird, ist kaum abzusehen, zu viele Faktoren spielen eine Rolle. Einiges spricht aber dafür, dass eine tatsächliche Erholung des Preises nicht zu erwarten ist. Die Internationale Energieagentur (IAEA) erklärte noch im Januar, dass eine solche Erholung nicht in Aussicht sei, zeigte sich aber vorsichtig optimistisch: „Eine Aussage, wie tief der Boden des Marktes liegt, ist reine Spekulation“, erklärte die IAEA. „Ohne größere Störung dürfte eine Erholung der Preise nicht bevorstehen, doch mehren sich die Anzeichen, dass sich die Flut wendet.“ (2)

Im Februar war dann in der Jahresprognose der IAEA selbst von der vagen Hoffnung, die „Flut“ möge sich „wenden“, kaum noch etwas zu merken. Das Angebot werde nach wie vor höher ausfallen als die Nachfrage, eine tatsächliche Stabilisierung der Preise stehe nicht unmittelbar bevor. „Andauernde Spekulationen über eine Vereinbarung zwischen Opec-Staaten und führenden Produzenten außerhalb der Opec für eine Förderkürzung scheinen nichts als Spekulationen zu sein“, so die Energieagentur. Zugleich seien aber auch die Voraussagen einiger Bankenvolkswirte, die ein Absinken auf bis zu 10 US-Dollar/Barrel prophezeien, zurückzuweisen. (3)

„Egal, wo der Preis steht“

Die Faktoren für die derzeitige Preisentwicklung sind vielfältig. Zunächst einmal steht hinter dem Verfall ein Verteilungskampf zwischen den entscheidenden Förderländern. Vor allem Saudi-Arabien verfolgt innerhalb der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) eine aggressive Förderstrategie, die darauf ausgerichtet ist, Kontrahenten vom Markt zu drängen: „Es ist nicht im Interesse der OPEC-Produzenten, ihren Ausstoß zurückzufahren, egal wo der Preis steht“, zitiert tagesschau.de den saudischen Ölminister Ali al-Naimi. Dabei spiele es keine Rolle, „ob der Preis auf 20, 40, 50 oder 60 Dollar sinkt“. (4)

Tatsächlich ist die saudische Preispolitik aus Sicht der Golfmonarchie wirtschaftlich nicht völlig irrational: „Diese Praxis macht Sinn, denn wenn man versucht, Marktanteile zu erringen und der Produzent mit den niedrigsten Kosten ist, warum sollte man dann seiner Produktion eine Obergrenze auferlegen?“, kommentiert der saudische Energieexperte Sadad al-Husseini. (5) Dort, wo die Ölförderung höhere Kosten verursacht, etwa beim Fracking oder bei schwer erschließbaren Vorkommen, lohnt sich die Produktion ab einem bestimmten Punkt nicht mehr; die Marktmacht der Länder, die günstiger fördern können, wächst. (6)

Allerdings bleibt der dauerhaft niedrige Preis auch nicht ohne Folgen für diejenigen, die relativ gesehen von ihm profitieren könnten. Selbst Saudi-Arabien fuhr 2015 schwere Verluste ein, die sich auf die Haushaltslage in der Golfmonarchie auswirkten: Der Staatshaushalt hatte im vergangenen Jahr ein Defizit von 90 Milliarden US-Dollar zu verzeichnen. (7)

Das Überangebot auf dem Markt wird zudem dadurch verstärkt, dass nach dem Ende der Sanktionen gegen Iran auch Teheran wieder in der Lage ist, seine Produktion auszuweiten. Zwar kündigte der iranische Ölminister Bidschan Sanganeh an, mit Bedacht vorgehen zu wollen, doch bei der gegenwärtigen Marktlage bedeutet die Rückkehr eines so bedeutenden Förderlandes automatisch eine Verschärfung der Konkurrenz.

Neben dem von Saudi-Arabien forcierten Preiskrieg spielen allerdings noch zwei weitere Faktoren eine Rolle beim Einbruch des Ölpreises: der Frackingboom in den USA, der die Vereinigten Staaten innerhalb relativ kurzer Zeit zu einem der größten Förderländer der Erde gemacht hat, und der Rückgang der Wachstumsquoten in den BRICS-Staaten, allen voran China, der die Nachfrage drückt.

„Tödliche Bedrohung“

Die Summe dieser Entwicklungen legt nahe, dass es – ohne größere politische Eingriffe oder einen überregionalen Krieg – keine kurzfristige Erholung des Ölpreises geben wird. Das wiederum hat weitreichende Auswirkungen auf die globale Ökonomie, insbesondere der Länder, die in hohem Maße von ihrer Erdölförderung abhängig sind.

In Venezuela beispielsweise spielten aus der anhaltenden Krise des Ölpreises resultierende Verwerfungen – neben weiteren strukturellen Problemen der vormals linken Regierung – der rechten Opposition in die Hände und führten zum Wahlsieg der rechten, proamerikanischen Opposition im Dezember 2015. Es sei müßig zu betonen, „dass die Ölpreise fundamentale Auswirkung auf das ökonomische Leben Venezuelas haben, wo mehr als 90 Prozent der Devisenmittel des Landes dem Export des schwarzen Goldes entstammen“, kommentiert der Journalist Ignacio Ramonet. (9) Da die venezolanische Regierung den Großteil ihrer Sozialprogramme über Öleinnahmen finanziere, komme der niedrige Ölpreis „einer tödlichen Bedrohung für das Gleichgewicht der Bolivarischen Revolution gleich“.

Ähnliche Auswirkungen könnten sich in Ländern wie Libyen oder Nigeria zeigen. In Libyen sei, so der britische Guardian, nach der Zerstörung und Fragmentierung des Landes die Bevölkerung auf die Einnahmen aus dem Ölgeschäft angewiesen, die aber rasch schwinden. Der Zusammenbruch der Ölpreise mache sich hier schon als Knappheit bei Nahrungsmitteln und im Bereich der medizinischen Versorgung bemerkbar. (10)

Auch für Nigeria könnte aus den verminderten Einnahmen eine Zunahme innenpolitischer Konflikte erwachsen. Dort hat die Regierung um Staatspräsident Muhammadu Buhari zwar ein weitreichendes Investitionsprogramm beschlossen, das nun allerdings durch die schwächeren Einnahmen aus Erdölexporten in seiner Finanzierung gefährdet ist. (11)

Russland in der Rezession

Weltwirtschaftlich und geopolitisch dramatischer könnten die Konsequenzen für die russische Volkswirtschaft sein. Für das vergangene Jahr gab die russische Notenbank einen Rückgang des BIP um 3,7 Prozent bekannt, 2016 wird aller Wahrscheinlichkeit nach ein weiteres Rezessionsjahr. Russland, einer der größten Energieproduzenten der Erde, ist stark auf die Einnahmen aus Erdgas und Erdöl angewiesen. Der niedrige Ölpreis hat zudem Auswirkungen auf den Kurs des Rubels, der im Januar zeitweise auf ein Rekordtief gefallen war (81,49 Rubel für einen US-Dollar). (12)

Diverse neokonservative und transatlantische Think Tanks und meinungsbildende Medien frohlocken bereits ob dieser – durch Sanktionen noch verstärkten – Krisenlage. „Wladimir Putin geht die Luft aus“, will RP-online wissen. „Russland: Wie der Ölpreis nun Putins Schicksal besiegelt“, titelt Springers Welt. Und die österreichische Presse sieht den russischen Präsidenten als „Glückspilz im Realitätsschock“. Der Narrativ ist überall ähnlich: Putin habe nicht aus wirtschaftlichem Geschick das Land zu ökonomischer Prosperität geführt, sondern „viel Glück gehabt bisher. Der hohe Ölpreis hat ihm geholfen, seine vielen Fehler zu maskieren“, wie es der Oligarch und Putin-Gegner Michail Chodorkowski im Spiegel-Interview formuliert. Das sei nun vorbei, und damit sei – so die Hoffnung – auch irgendwann die innenpolitische Stabilität dahin, wenngleich es dafür „noch“ keine Anzeichen gebe. (13)

Eine Einschränkung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit Moskaus durch den niedrigen Ölpreis erhofft man sich indessen in Washington. Die „einzig rationale Option für den Kreml“ angesichts des niedrigen Ölpreises sei, „den Konflikt mit der Ukraine herunterzuschrauben“, erklärt der US-amerikanische Think Tank Atlantic Council. (14) Russland sei als Wirtschaftsmacht auf dem absteigenden Ast, eine „erneute Implosion des Regimes“ sei möglich, aber der Zeitpunkt nicht vorhersagbar. „All das sind gute Nachrichten für die Ukraine.“ Die niedrigen Energiepreise würden Kiew helfen, was zu einer Stabilisierung des Wohlstandsniveaus und damit der Regierung führen könnte. Russland dagegen, so der Think Tank, werde „mit sinkendem Bruttoinlandsprodukt und wachsenden sozialen Protesten seine Verteidigungsausgaben senken müssen“. Das mache den Kreml „weniger geneigt, seinen teuren und eher bedeutungslosen Krieg gegen die Ukraine fortzusetzen“, so die Erwartungen.

Tatsächliche Evidenz besitzt die Annahme, der niedrige Ölpreis könne Wladimir Putin in absehbarer Zeit in eine innenpolitische Krise stürzen, indes nicht. Es gibt keinen Automatismus von einer – durchaus tiefen – Krise zu einem politischen Stimmungswechsel, denn dazu bedürfte es einer Opposition, die das Vertrauen der Bevölkerung genießt. Die ist, dem westlichen Wunschdenken zum Trotz, nicht in Sicht.

Zu den Verlierern der Niedrigpreispolitik gehören allerdings auch westliche Konzerne, insbesondere jene US-amerikanischen Fracking-Unternehmen, die den Boom erst mit ausgelöst haben. 70 000 Jobs sind im Energiesektor der Vereinigten Staaten allein im vergangenen Jahr durch den niedrigen Ölpreis verloren gegangen. (15) Hier konzentriert sich der Einbruch vor allem auf Produktionsstätten in Texas, die im Zuge des Frackingbooms ausgebaut worden waren. Mittel- und langfristig können gerade diese Unternehmen einen niedrigen Ölpreis nicht verkraften, da ihre Produktionskosten wesentlich höher sind als die der Förderer der OPEC-Staaten.

Betroffen sind aber auch westliche Großkonzerne mit langer Tradition: So verzeichnete die britische BP mit 6,5 Milliarden US-Dollar den höchsten Jahresverlust seit zwei Dekaden. (16) Drastische Gewinneinbußen melden auch Shell und Exxon Mobil.

Waffe Ölpreis

Bereits im Oktober 2014 schrieb der Journalist Thomas L. Friedman in der New York Times: „Ist es nur meine Einbildung oder ist ein globaler Ölkrieg im Gang, in dem sich die USA und Saudi-Arabien auf der einen Seite und Russland und Venezuela auf der anderen Seite gegenüberstehen?“ (17)

Friedman vergleicht die Strategie der Förderpolitik mit der, die Washington und Riad schon gegen die Sowjetunion eingesetzt hatten: „Pump them to death“ – pumpt sie zu Tode. Präzise urteilte Friedman bereits im Oktober 2014, dass dieses Vorgehen auch für Probleme in der US-Ölindustrie sorgen werde, sollte der Ölpreis unter 70 US-Dollar fallen. Aber, so Friedman, „es kann keinen Zweifel geben, dass der Preisverfall US- und saudischen strategischen Interessen dient und Russland und dem Iran schadet“.

Eineinhalb Jahre nach Friedmans Prognosen hat dieser Ölpreiskrieg in Venezuela – zusammen mit anderen, hausgemachten Problemen – die linke Regierung durch einen Erdrutschsieg der rechten Opposition in starke Bedrängnis gebracht. Russland und Iran allerdings erweisen sich als hartnäckiger. Und so werden, wie in konventionellen Kriegen üblich, auch die Kosten für die Angreifer, Saudi-Arabien und die USA, höher. Gerade Riad hat selbst viel zu verlieren, sollte sich keine Stabilisierung des Preises abzeichnen. Die sozialen Spannungen in der Golfdiktatur haben mit der Hinrichtung des bekannten schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr erneut zugenommen; der Krieg, den das Königshaus gegen das Nachbarland Jemen führt, erweist sich als kostspielig und nicht zu gewinnen.

In Russland hingegen bleibt die Zustimmung zur eigenen Führung stabil. Putin verweist zwar darauf, dass durch den niedrigen Ölpreis „gefährliche Einnahmeeinbußen zu verzeichnen“ sind, sieht die Entwicklung aber auch als Chance zur Diversifizierung der eigenen Wirtschaft: „Wenn man – wie wir früher – so viele Petrodollars einnimmt, dass man im Ausland alles kaufen kann, dann bremst das die Entwicklungen im eigenen Land.“
 
Teuer und nicht effektiv

„Schritt um Schritt“ mache man sich deshalb derzeit an die Stabilisierung der Ökonomie: „Die Handelsbilanz ist aber weiter positiv“, berichtet der russische Präsident. „Zum ersten Mal seit Jahren“ führe man „deutlich mehr Güter mit hoher Wertschöpfung“ aus. Zudem verfüge man „über 300 Milliarden Dollar an Goldreserven“, so Putin.

Und auch Iran wird von der Niedrigpreispolitik nicht so stark getroffen, wie Saudi-Arabien das wohl erwartet hatte. Teheran kehrt nach dem Ende der Sanktionen erst wieder auf den Markt zurück, die Abhängigkeit vom Ölverkauf ist dadurch nicht so stark wie bei anderen Produzenten. „Die, die geplant haben, den Preis zu senken, um anderen Ländern zu schaden, werden diese Entscheidung bereuen“, stellte der iranische Präsident Hassan Rohani bereits im Januar 2015 fest. „Wenn der Iran unter dem Fall der Ölpreise leidet, seien Sie gewiss, dass andere Öl produzierende Länder wie Saudi-Arabien und Kuwait mehr leiden werden.“

Der Ölpreiskrieg könnte sich bald als obsolet erweisen, weil er für alle Beteiligten zu teuer und zudem aus Sicht derer, die ihn angestoßen haben, nicht effektiv genug ist. Schon Mitte Februar 2016 mehren sich die Anzeichen dafür. Russland, Saudi-Arabien, Katar und Venezuela haben sich entschieden, die Produktion auf dem Niveau von Januar 2016 einzufrieren; Iran äußerte Zustimmung zu diesem Vorgehen.


Dieser Artikel erschien zuerst im Hintergrund-Magazin, 2-2016.

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Anmerkungen

(1)    http://www.faz.net/aktuell/finanzen/devisen-rohstoffe/wie-tief-faellt-der-oelpreis-noch-14018359.html
(2)    http://www.handelsblatt.com/finanzen/maerkte/devisen-rohstoffe/oelpreis-prognose-der-oelpreis-wird-unter-25-dollar-fallen/11240714.html
(3)    http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/konjunktur/laut-oelpreis-prognose-keine-stabilisierung-in-2016-14060354.html
(4)    https://www.tagesschau.de/wirtschaft/oelpreis-105.html
(5)    http://www.smh.com.au/business/energy/saudi-defends-countrys-strategy-to-abandon-opec-production-targets-20151207-glhl3p.html
(6)    https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/2015/10-06/043.php
(7)    http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/saudi-arabien-niedriger-oelpreis-reisst-90-milliarden-loch-in-haushalt-a-1069751.html
(8)    http://www.handelsblatt.com/politik/international/rohstoffe-iran-will-oelexporte-nach-sanktionsende-vorsichtig-steigern/12784386.html
(9)    https://amerika21.de/analyse/140440/kolumne-ramonet
(10)    http://www.theguardian.com/business/2015/dec/30/oil-iran-saudi-arabia-russia-venezuela-nigeria-libya
(11)    https://www.tagesschau.de/ausland/nigeria-351.html
(12)    http://www.finanzen.net/nachricht/devisen/Oelpreise-druecken-Rubelkurs-Russischer-Rubel-faellt-auf-Rekordtief-4696060
(13)    http://diepresse.com/home/wirtschaft/international/4905970/Wladimir-Putin_Ein-Gluckspilz-im-Realitaetsschock-
(14)    http://www.atlanticcouncil.org/blogs/new-atlanticist/what-the-falling-oil-price-means-for-russia-and-ukraine
(15)    http://www.usnews.com/news/blogs/data-mine/articles/2015-12-28/oil-sector-sheds-70-000-jobs-amid-low-prices
(16)    http://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/bp-exxon-shell-alle-oel-giganten-schmieren-ab/12910730.html
(17)    http://www.nytimes.com/2014/10/15/opinion/thomas-friedman-a-pump-war.html?_r=0
(18)    https://www.jungewelt.de/2016/01-12/072.php?sstr=%C3%B6lpreis

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