Multidimensionale Katastrophe: Japan stürzt in eine Wirtschaftskrise, die globale Auswirkungen haben wird
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Von REDAKTION, 14. März 2011 –
Nach Erdbeben, Tsunami und Atomkatastrophe droht nun eine schwere Wirtschaftskrise in Japan, die auch die Weltwirtschaft in Mitleidenschaft ziehen könnte. Immerhin handelt es sich bei der asiatischen Industrienation um die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, die zudem stark mit anderen Volkswirtschaften in der Region verflochten ist. Das tatsächliche Ausmaß der multidimensionalen Katastrophe kann jedoch bislang nur schwer eingeschätzt werden.
Sicher ist, dass die japanische Notenbank schon jetzt Milliarden in den heimischen Finanzmarkt pumpt, um die Wirtschaft nach dem Jahrhundertbeben zu stützen. Umgerechnet mehr als 130 Milliarden Euro wurden als kurzfristige Notfall-Geldspritze bereitgestellt, weitere mehr als 40 Milliarden Euro für zusätzliche Wertpapierankäufe.
Die japanische Börse war am Montag um mehr als 6 Prozent abgestürzt. Steil nach unten ging es für Versicherer, Energieversorger und Eisenbahntitel. Deutliche Verluste verbuchten auch die Unternehmen der Automobilindustrie. Zahlreiche Firmen mussten ihre Produktion stoppen. Denn viele Fabriken wurden zerstört und der Strom fiel aus. Auch viele Einzelhandelsgeschäfte waren im Zentrum von Tokyo am Montag geschlossen. Tokyo Electric Power plant Stromrationierungen in der Region um Tokio, da das Unternehmen von den Atomschmelzen in seinen Reaktoren in der Präfektur Fukushima betroffen ist.
Sony setzte unterdessen den Betrieb in der Fabrik für Klebebänder bei Kanuma, nördlich von Tokio, aus. Auch der Elektronikriese Toshiba kündigte an, dass in Fukaya bei Tokio die Produktion von Flachbildschirmen eingestellt werde.
Versicherungsbranche und Automobilindustrie
Der Autobauer Toyota Motor kündigte einen Produktionsstopp von Montag bis Mittwoch in all seinen inländischen Fabriken an. Die dreitägige Betriebspause komme einem Verlust von 40.000 produzierten Autos gleich, berichtete Kyodo News. Auch die Toyota-Töchter Daihatsu Motor und Hino Motors wollen dem Beispiel folgen. Die Firma Isuzu Motors wollte ihre Produktion sogar von Montag bis Freitag lahmlegen. Weil zu wenig Autoteile geliefert wurden, musste auch Honda Motor seine Produktion in der von Erdbeben betroffenen Region einstellen. Auch das japanische Nutzfahrzeuggeschäft des Stuttgarter Autoherstellers Daimler ruht in dieser Woche. Produktion und Verwaltung der japanischen Tochter Mitsubishi Fuso blieben geschlossen, teilte das Unternehmen mit.
Die Versicherungsbranche muss sich nach dem verheerenden Erdbeben in Japan voraussichtlich auf Schäden in zweistelliger Milliardenhöhe einstellen. Alleine an Gebäuden dürfte das Beben versicherte Schäden von bis zu 35 Milliarden Dollar angerichtet haben, wie die Experten des auf Risikoanalysen spezialisierten Versicherungsdienstleisters AIR Worldwide am Wochenende errechnet haben. Die Folgen des Tsunami sowie Schäden an Straßen und Produktionsausfälle in der Industrie kommen noch hinzu.
Die höchsten Belastungen hätten voraussichtlich die größten Rückversicherer der Welt zu tragen, heißt es in einer am Montag veröffentlichten Studie der Ratingagentur Moodys. Dabei werden ausdrücklich Marktführer Munich Re sowie die Rückversicherer Swiss Re und Hannover Rück genannt. Die Höhe der erwarteten Verluste beziffert Moodys nicht. Große europäische Erstversicherer wie Allianz und Zurich hätten in Japan nur einen geringen Marktanteil. In der Schaden- und Unfallversicherung beherrschten drei japanische Konzerne nahezu 90 Prozent des Marktes.
Folgen von Atomunfällen gelten als nicht versicherbar
Die Unfälle in den Atomkraftwerken müssen die Versicherer hingegen kaum fürchten. „Erwartet wird auch, dass die Auswirkungen der schweren Unfälle in den japanischen Atomkraftwerken die private Versicherungswirtschaft nicht signifikant betreffen werden“, heißt es bei der Munich Re. „Bei der Versicherung von Schäden an den Reaktoren und Gebäuden sind die Folgen von Erdbeben und Tsunamis ausgeschlossen“, erläuterte Dirk Harbrücker, Geschäftsführer der Deutschen Kernreaktor Versicherungsgemeinschaft (DKVG), gegenüber der Financial Times Deutschland (FTD).
Dem Blatt zufolge hat der japanische Kraftwerksbetreiber Tepco seit September zudem keine Sachversicherung für seine Kraftwerke gekauft, sondern zahlt Schäden an seinen Werken selbst. Dabei beruft sich die Zeitung auf Angaben aus Rückversicherungskreisen. Den größten Teil des Schadens dürfte dem Bericht zufolge auf die Betroffenen und die japanische Regierung entfallen. Die Folgen von Atomunfällen gelten in der Branche als nicht versicherbar. Die Schäden sind kaum zu kalkulieren, die Prämien für eine solche Versicherung würden unermessliche Höhen erreichen.
In Deutschland versichern private Anbieter einschließlich der DKVG Sachschäden an Kernkraftwerken bis zu 1,1 Milliarden Euro, schreibt die FTD. Kommt es zu einem Zwischenfall, bei dem Dritte geschädigt werden, greift die Haftpflichtversicherung – allerdings zahlt sie lediglich bis zu 256 Millionen Euro. Für den restlichen Betrag müssen die Kraftwerksbetreiber geradestehen, die sich bei der Haftung gegenseitig unter die Arme greifen.
Der deutsche Atompool DKVG deckt als Rückversicherer auch Risiken in Japan. In der Organisation haben sich 35 deutsche Versicherer und Rückversicherer zusammengeschlossen. Neben Schutz für Atomkraftwerke im eigenen Land übernimmt die DKGV Anteile an Atomrisiken im Ausland. „Wir sind auch in Japan aktiv, aber wir haben aus den aktuellen Ereignissen keinen Schaden“, sagte Harbrücker.
Schwierige Folgenabschätzung
Nach Einschätzung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) werden die Folgen des Erdbebens die japanische Industrieproduktion für unabsehbare Zeit beeinträchtigen. Dies gelte wahrscheinlich auch für Unternehmen, die außerhalb der Katastrophenregion liegen. Denn diese litten ebenfalls unter ausbleibenden Zulieferungen und Energieengpässen, teilte das als unternehmerfreundlich geltende Institut am Montag in Köln mit. Dass viele Menschen durch die Katastrophe ihr Zuhause und ihre Arbeit verloren haben, werde sich zunächst negativ auf den Konsum auswirken.
Die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft schätzt das IW bislang noch als moderat ein. Deutschland etwa exportiere nur ein Prozent seiner Güter nach Japan, die Importe machten etwa drei Prozent aus. Auch Postbank-Chefvolkswirt Marco Bargel versucht zu beschwichtigen. Die Weltwirtschaft sei robust genug, um die ökonomischen Folgen der verheerenden Erdbeben in Japan zu schultern.
Allerdings würde sich die Lage dramatisch zuspitzen, wenn der Großraum Tokio aufgrund einer Kernschmelze evakuiert werden müsste: „Das würde zu immensen Produktionsausfällen führen mit entsprechenden Folgen für Beschäftigung und Produktion – eine Dimension, die wir uns bisher kaum vorstellen können.“
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Nach Bargels Schätzung liegen die bisherigen Kosten der Naturkatastrophe im dreistelligen Milliarden-Euro-Bereich oder in der Größenordnung von fünf Prozent des japanischen Bruttoinlandsproduktes (BIP). „Eine genaue Bezifferung ist aber noch nicht möglich – und die Schätzung gilt nur in dem Fall, dass keine weiteren Katastrophen nachfolgen.“
Unterdessen sind die Finanzminister der Eurozone am Montag in Brüssel zusammengekommen, um über die Konsequenzen der Erdbeben- und Atomkatastrophe in Japan zu beraten, wie Teilnehmer berichteten. Auf der offiziellen Tagesordnung des regulären März-Treffens steht das Thema nicht. „Wir beschäftigen uns mit den Fragen, wie das Auswirkungen auf die Weltwirtschaft und die Finanzmärkte haben wird“, sagte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). „Keiner weiß es im Augenblick.“ In zwei Wochen solle bei einem schon länger geplanten Treffen der Finanzminister der G20-Gruppe über Reaktionen gesprochen werden.