Krise in Brasilien verschärft sich
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Rezession und Legitimitätsverlust fordern die regierende Arbeiterpartei zunehmend heraus –
Von REDAKTION, 17. Dezember 2015 –
Die in einer tiefen politischen Krise steckende brasilianische Regierung unter Präsidentin Dilma Rousseff ereilt eine neue Hiobsbotschaft: Die Rating-Agentur Fitch senkte am Mittwoch die Einstufung für brasilianische Staatsanleihen von BBB- auf BB+, was als Ramsch-Niveau bezeichnet wird. Anleihen gelten dann als spekulative Anlage, es muss mit Zahlungsausfällen gerechnet werden. Das in eine tiefe Rezession abgerutschte Brasilien bekommt dadurch immer größere Probleme, sich international frisches Geld zu beschaffen. Die Herabstufung der Bonität signalisiert, dass Brasilien aus Sicht von Fitch kein vertrauenswürdiger Schuldner mehr ist. Die Agentur geht davon aus, dass sich die ökonomische Talfahrt fortsetzen wird.
Die Wirtschaft des größten lateinamerikanischen Landes werde in diesem Jahr um 3,7 und im kommenden Jahr um 2,5 Prozent schrumpfen. Das Staatsdefizit werde 2015 bei über zehn Prozent der Wirtschaftsleistung liegen. Im kommenden Jahr werde der gesamte staatliche Schuldenberg siebzig Prozent der Wirtschaftsleistung betragen. Nach Standard & Poor’s ist Fitch die zweite der drei großen Ratingagenturen, die die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt auf Ramsch-Niveau herabgestuft hat, nur bei Moody’s steht Brasilien noch etwas besser da.
Drei Quartale in Folge ging die Wirtschaftsleistung zurück, das hatte es zuletzt im Jahr 1990 gegeben. Die Inflation liegt bei rund zehn Prozent. Die einheimische Währung befindet sich weiter im Sinkflug. Zeitweilig fiel der Real Ende September mit einem Tauschverhältnis von 4,2 gegenüber dem US-Dollar auf den niedrigsten Wert seit der Einführung der Währung im Jahr 1994.
Neben vielen strukturellen Problemen macht dem vom Rohstoffexport abhängigen Land vor allem der seit Monaten sinkende Ölpreis schwer zu schaffen. Das Land mit seinen zweihundert Millionen Einwohnern ist auf dem Erdölsektor praktisch autark. Allein der Ölkonzern Petrobras fördert pro Tag mehr als zwei Millionen Barrel Rohöl. Rund ein Viertel davon geht in den Export.
Lange Zeit galt Brasilien als Erfolgsbeispiel für ein aufstrebendes Schwellenland. Zwischen 2004 und 2011 wuchs das Bruttoinlandsprodukt im Schnitt noch um knapp fünf Prozent jährlich. Die Ende 2002 an die Macht gewählte Arbeiterpartei (PT) hat es in ihrer Regierungszeit geschafft, Millionen Landsleute aus der Armut zu holen. Durch das Engagement im BRICS-Staatenbündnis wuchs auch der Einfluss des südamerikanischen Landes auf dem diplomatischen Parkett. (1)
Der als gemäßigt links geltenden PT ist es jedoch nicht gelungen, Brasilien „vom Rohstoffland zu einem Industrieland weiter zu entwickeln“, analysierte Heiner Flassbeck vor einem Monat die wirtschaftliche Lage des Amazonasstaates.
Nach Ansicht des Ökonomen begann die Fehlkonstruktion „unmittelbar nach dem historischen Wahlsieg von Präsident Lula da Silva im Jahr 2002“. Dieser habe die noch im Wahlkampf artikulierten Ideen „über alternative Wege in der Wirtschafts- und Sozialpolitik“ mit nicht zum Ziel führenden konservativen finanzpolitischen Mitteln umzusetzen versucht – aus Angst vor den Kapitalmärkten.
Insbesondere habe es Lula da Silva versäumt, die Unabhängigkeit der Zentralbank infrage zu stellen. Aus Furcht von (Hyper-)Inflationen betreibt letztere traditionell eine Hochzinspolitik. „Die hohen Zinsen waren nicht nur schlecht für die private Investitionstätigkeit (…), sondern auch für den Staat, der sich über die Kapitalmärkte refinanziert. Die hohen Zinsen hatten aber zudem den fürchterlichen Nebeneffekt, privates Spekulationskapital aus der ganzen Welt anzuziehen (…)“, so der Wirtschaftswissenschaftler. Das habe unter Präsident da Silva „zu einer fast dauernden Aufwertung des Real“ geführt und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit Brasiliens massiv beeinträchtigt.
Flassbeck benennt das in seinen Augen bestehende Dilemma der Reformpolitik der Arbeiterpartei: „Man hat zu Anfang der eigenen Regierungszeit ein wenig getan, um die Einkommensungleichheit zu bekämpfen, aber der wirtschaftliche Durchbruch ist nicht gelungen, weil die makroökonomischen Bedingungen nie so waren, dass es einen nachhaltigen, nicht nur von außen begünstigten Aufschwung gegeben hätte.“ Die Arbeiterpartei sei einer „traditionellen wirtschaftspolitischen Rollenverteilung“ verhaftet geblieben, und habe sich nicht getraut, „sich dem ökonomischen Mainstream entgegenzustellen“. (2)
Zukunft Rousseffs ungewiss
Neben den teils hausgemachten wirtschaftlichen Problemen hat Brasiliens Regierung mit einem massiven politischen Legitimitätsverlust zu kämpfen. Am vergangenen Wochenende gingen insgesamt achtzigtausend Menschen auf die Straße und forderten eine Amtsenthebung der Staatschefin. Das waren zwar deutlich weniger als noch bei den beiden vorherigen Anti-Rousseff-Protesten im März und August. Doch die gegenwärtig bei nur noch rund zehn Prozent liegenden Zustimmungswerte für die Präsidentin zeigen, dass es nach wie vor fraglich ist, ob Rousseff bis zum Ende ihrer Amtsperiode im Dezember 2018 durchhalten wird.
Im Parlament sieht sie sich mit einer Blockade-Politik der rechten und konservativen Kräfte konfrontiert, die über eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus verfügen.
Ihr ärgster Widersacher ist jedoch Parlamentspräsident Eduardo Cunha, der sie ihres Amtes entheben will. Das Parlament gab vor zwei Wochen grünes Licht zur Einleitung eines entsprechenden Verfahrens. Die letztlich für eine Amtsenthebung notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit dürfte die Opposition jedoch nicht zusammen bekommen.
Allerdings kann sie auch auf Stimmen aus den Reihen des wichtigsten Koalitionspartners der PT zählen, der Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB). Cunha ist ein führender Kopf der Mitte-Rechts-Partei.
Ihm droht allerdings selbst ein Amtsenthebungsverfahren aufgrund von Korruptionsvorwürfen. Dabei geht es unter anderem um Schmiergelder beim Bau von Bohrinseln des Petrobras-Konzerns – der Korruptionsskandal um Auftragsvergaben des halbstaatlichen Ölkonzerns war Auslöser der Proteste im März.
Ein inhaftierter Bauunternehmer hatte ausgesagt, Cunha habe fünf Millionen US-Dollar bekommen. In der Schweiz waren dem Politiker zugeordnete Konten mit Summen in dieser Höhe aufgetaucht. Am Dienstag durchsuchte die brasilianische Bundespolizei Häuser und ein Büro des Parlamentspräsidenten.
Einen Tag später forderte Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot den Obersten Gerichtshof dazu auf, den Politiker seines Amtes zu entheben. Janot kritisierte nach Medienberichten, Cunha benutze den Posten „im eigenen Interesse, nur um weitere Ermittlungen zu verhindern“. Zudem nutze er sein Amt, um Zeugen einzuschüchtern, um so Korruptionsermittlungen gegen ihn zu blockieren.
Die Fehde zwischen Cunha und Rousseff trägt neben der Blockadehaltung der Opposition zusätzlich zur Lähmung der Regierung bei, die dadurch wichtige Maßnahmen nicht umsetzen kann – was den Unmut der von der Wirtschaftskrise gebeutelten Bevölkerung nur vergrößert.
Noch sind es vor allem Angehörige der Mittel- und Oberschicht, die es auf die Straße treibt. (3) Unter den ärmeren Schichten genießt die Regierung aufgrund ihrer Sozialpolitik einen gewissen Rückhalt. Doch gerade die sozial Benachteiligten ächzen unter der Inflation und den sich daraus ergebenden steigenden Lebenshaltungskosten. Angesichts leerer Kassen ist die Regierung zudem gezwungen, auch bei Sozialprogrammen den Rotstift anzusetzen. Die Fortsetzung einer Politik zugunsten der sozial Schwächeren – die von westlichen Konzernmedien gerne als „Klientelpolitik“ denunziert wird – steht damit auf dem Spiel.
(mit dpa)
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Anmerkungen
(1) Siehe dazu: http://www.hintergrund.de/201512113775/politik/welt/multipolare-weltordnung.html
(2) http://www.flassbeck-economics.de/brasilien-oder-warum-weltweit-die-sozialdemokraten-systematisch-scheitern/
(3) Siehe dazu: http://www.hintergrund.de/201508193632/politik/welt/druck-auf-brasiliens-regierung-waechst.html