EU setzt weiter auf Konfrontation mit Russland
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Zum Jahreswechsel tritt das Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine in Kraft. Moskau reagiert mit Schutzzöllen –
Von REDAKTION, 22. Dezember 2015 –
Das Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit der Ukraine wird zum Jahreswechsel gegen Einwände Russlands in Kraft treten. Gespräche mit Moskau, die sich über eineinhalb Jahre hinzogen, seien gescheitert, berichtete EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström am Montag in Brüssel. „Russland kam die ganze Zeit mit Ergänzungsanträgen“ und habe sich „unflexibel“ gezeigt, behauptete die EU-Kommissarin.
Das im Juni 2014 unterzeichnete Abkommen wird am 1. Januar 2016 wirksam. Ursprünglich sollte es schon im November 2014 in Kraft treten – der Termin war dann aber vor allem aufgrund russischer Einwände verschoben wurden. Am Montag teilte zudem der EU-Ministerrat seine Entscheidung mit, die Sanktionen gegen Russland zu verlängern. EU-Vertreter hatten die Verlängerung wegen unzureichender Fortschritte im Minsker Friedensprozess, für die sie allein Moskau verantwortlich machen, bereits am vergangenen Freitag auf den Weg gebracht.
Das Verhalten der Europäischen Union sei unlogisch, erklärte daraufhin das Außenministerium in Moskau. Russland werde für etwas bestraft, wofür es nichts könne. Die Ukraine werde ermutigt, die Friedensvereinbarungen für den Konflikt im Osten des Landes weiter zu sabotieren, sagte der Diplomat Andrej Kelin nach Angaben der Agentur Interfax. Dabei müsse Kiew jetzt laut der Minsker Vereinbarung Wahlen mit den Aufständischen in Donezk und Lugansk absprechen. Die ukrainische Regierung sei auch verpflichtet, den besonderen Status dieser Gebiete in der Verfassung festzuschreiben.
Doch die russischen Bedenken lässt Brüssel nicht gelten – auch nicht im Fall des Freihandelsabkommens mit der Ukraine. Dabei hatte der damalige EU-Handelskommissar Karel De Gucht zu Beginn der Verhandlungen mit Moskau noch eingeräumt, dass das Assoziierungsabkommen zwischen Kiew und Brüssel Risiken für die Wirtschaftsbeziehungen Russlands mit seinem Nachbarn in sich birgt.
Zwischen beiden Ländern besteht selbst ein Freihandelsabkommen. Moskau fürchtet, die heimische Wirtschaft könne durch das Abkommen der EU mit Kiew Nachteile erleiden, weil zollfreie Importe über die Ukraine auch nach Russland gelangen könnten. „Unter diesen Umständen müssen wir unseren Markt und unsere Produzenten schützen und verhindern, dass unter dem Deckmantel ukrainischer Waren Produkte aus anderen Staaten eingeführt werden“, zitiert Sputnik News den russischen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew. (1) Moskau kündigte an, den Freihandel mit seinem Nachbarland einzustellen und ab dem 1. Januar Zölle auf Waren einzuführen, die aus der Ukraine ins Land gelangen. Die Höhe der Zölle soll sieben Prozent betragen.
Der Streit um die Handelsabkommen war der zentrale Auslöser der nun seit zwei Jahren anhaltenden Krise zwischen Russland und der EU. Im Oktober 2011 hatten Russland und die Ukraine das Freihandelsabkommen unterzeichnet. Es sollte die Integration beider Länder innerhalb der seinerzeit vorbereiteten Eurasischen Wirtschaftsunion vorantreiben.
Gleichzeitig verhandelte der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch mit der EU über ein Assoziierungsabkommen. Die Ukraine hätte somit als Brücke zwischen Moskau und Brüssel dienen können, doch die EU-Kommission „sagte den Ukrainern kategorisch, sie müssten sich entscheiden: Russland oder Europa“, beschreibt Michael Stürmer, einstiger Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, die Handlungsmaxime der Brüsseler Kommission. Diese „wollte das Gesicht der Ukraine nach Westen drehen und dann sehen, was passiert. Auf russischer Seite wurde das als Schlag ins Gesicht wahrgenommen; auf ukrainischer Seite dagegen als Belohnung für strategische Westorientierung“. Die Europäische Union habe „aus einer mit Russland langfristig verhandelbaren und durch Ausgleich der Interessen gestaltbaren Kommerzfrage eine strategische Richtungsentscheidung gemacht“, so der ehemalige Direktor der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik am Dienstag in einem Artikel für die Welt. (2)
Für Brüssel sollte ein Abkommen mit der Ukraine zugleich ein Abkommen gegen Russland sein. Im November 2013 entschied sich Janukowitsch schließlich, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen, da es seinem Land erhebliche wirtschaftliche Nachteile eingebracht hätte. Die Vereinbarung hätte die Ukraine verpflichtet, die Wirtschaft den technischen Standards der Europäischen Union anzupassen, um dorthin exportieren zu können.
Nach Einschätzungen der ukrainischen Regierung hätte der Anpassungsprozess 165 Milliarden Euro im Laufe von zehn Jahren gekostet. Kiew verlangte daher entsprechende Konzessionen von Brüssel, die ihm jedoch versagt wurden. Die EU zweigte sich laut dem damaligen Regierungschef Nikolai Asarow lediglich bereit, für den Fall der Unterzeichnung des Vertrages einen Kredit in Höhe von einer Milliarde Euro bereitzustellen – Kiew lehnte ab.
Die EU – in Verbund mit den USA – unterstützte daraufhin massiv die prowestliche Maidan-Protestbewegung, die im gewaltsamen Sturz der Janukowitsch-Regierung resultierte und zum Bürgerkrieg in Teilen des Landes führte. Die weitere Annäherung an Russland wurde damit ebenso unterbunden wie eine mögliche Brückenfunktion der Ukraine zwischen Ost und West. Entsprechend der prowestlichen Ausrichtung der neuen Regierung trat Kiew nicht der Anfang 2015 in Kraft getretenen Eurasischen Wirtschaftsunion bei, der neben Russland Kasachstan, Weißrussland, Armenien und Kirgisistan angehören.
Die wirtschaftliche Grundlage, die Janukowitsch einst veranlasst hatte, die Verhandlungen über das EU-Assoziierungsabkommen auf Eis zu legen, hat sich auch nach knapp zweijähriger Herrschaft der neuen Machthaber nicht verbessert. Im Gegenteil: Der ohnehin stark geschrumpfte Warenverkehr mit dem (einst) wichtigsten Handelspartner wird weiter sinken, wenn die russischen Zölle in Kraft treten. Der sinkende Handel Richtung Osten kann jedoch nicht durch eine Ausweitung des Warenverkehrs Richtung Westen kompensiert werden.
Denn der ukrainischen Wirtschaft fehlen „in der Breite wettbewerbsfähige Produkte für den EU-Binnenmarkt“, heißt es in der aktuellen Ausgabe der von der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen herausgegebenen Ukraine-Analysen. (3) Der seit April 2014 „einseitig gewährte Marktzugang in die EU“ habe der Ex-Sowjetrepublik „trotz massiv verbesserter preislicher internationaler Wettbewerbsfähigkeit“ infolge des Wertverlustes der einheimischen Währung „keine eindeutigen Wachstumsimpulse für den Außenhandel generiert“. „Obwohl nun zum Jahresanfang 2016 die formelle Implementierung des umfassenden Freihandelsabkommens mit der EU ansteht, ist daher Skepsis in Bezug auf die kurzfristigen positiven Wirkungen, etwa in Bezug auf die Handelsumlenkung und vor allem zusätzliche Exporterlösgenerierung, angebracht.“
Es sei insgesamt eher mit einem Exportrückgang zu rechnen aufgrund des schrumpfenden Handels mit Russland. „In den letzten Wochen zeigte sich in Bezug auf diesen Faktor auch eine Beunruhigung unter Offiziellen in der Ukraine“, heißt es in der Analyse. Die EU habe „allerdings klargemacht, dass sie keine unmittelbare finanzielle Entschädigung für drohende potenzielle Verluste in Betracht zieht“. Insofern sei mit „weiteren kurzfristigen Anpassungskosten auf Seiten der Ukraine zu rechnen, während die potentiellen mittelfristigen Vorteile des EU-Binnenmarktzugangs (bestenfalls) erst viel langfristiger wirken.“
Auch sonst fällt die Bilanz der Osteuropa-Experten verheerend aus. Ausländische Direktinvestitionen blieben weiter aus, deren Zuwachs erscheine „angesichts der noch sehr fragilen Gesamtlage derzeit nicht realistisch“. Zwar sei im nächsten Jahr mit einer geringen Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von einem bis zwei Prozent zu rechnen, allerdings basiert diese Rückkehr zum Wirtschaftswachstum „vor allem auf dem niedrigen Ausgangsniveau“ – 2015 sank das BIP um 11,2 Prozent, im Vorjahr um 6,8 Prozent – und „der Annahme, dass es nicht zu neuerlichen negativen Schocks kommt“ – wie etwa einem Wiederaufflammen des Krieges in der Ostukraine.
Der wirtschaftliche Niedergang drückt sich in wachsender Armut der Bevölkerung aus. Die Reallöhne seien in den vergangenen zwei Jahren um ein Drittel gesunken, die Wohnkosten hätten sich seitdem verdoppelt. Die Preise für Strom und Wasser stiegen um die Hälfte, die Gaspreise haben sich sogar verdreifacht. Ein Drittel der Ukrainer verfüge nicht mehr über die Mittel, „notwendige Nahrungsmittel“ zu kaufen. Die Lebensmittelpreise galoppieren weiter nach oben, und stiegen 2015 noch einmal um ein Drittel, nachdem sie sich im Vorjahr bereits um ein Viertel erhöht hatten. Die extreme Armut sei „dramatisch gestiegen“.
Mit dem Inkrafttreten des Freihandels mit der Ukraine zum Jahreswechsel hat Brüssel, gut zwei Jahre nachdem sich Ex-Präsident Janukowitsch geweigert hatte, dafür grünes Licht zu geben, seine Ziele letztlich erreicht – allerdings zu einem hohen Preis, den jedoch vor allem die Ukrainer zahlen müssen.
(mit dpa)
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Anmerkungen
(1) http://de.sputniknews.com/wirtschaft/20151221/306644931/russland-beendet-zollfreiheit-mit-ukraine.html
(2) http://www.welt.de/print/welt_kompakt/debatte/article150227544/Wem-gehoert-die-Ukraine.html
(3) http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen161.pdf