Finanzwelt

„Die Rating-Agenturen gehören den Banken und Hedgefonds, die heute den Finanzmarkt beherrschen“

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Ein Gespräch mit Werner Rügemer über die Macht der privaten Bonitätsprüfer

19. Juni 2012 –

HINTERGRUND: Gegenwärtig entsteht der Eindruck, Rating-Agenturen hätten ihren Ursprung im Neoliberalismus und der Globalisierung. Aber in Wahrheit gibt es diese Unternehmen viel länger. Mit welchem Auftrag waren diese Agenturen ursprünglich angetreten?
Werner Rügemer: Rating-Agenturen kamen vor etwa 150 Jahren mit dem Aufstieg des amerikanischen Kapitalismus, insbesondere des Aktienwesens, auf die Welt. Teilweise trugen sie schon die Namen, mit denen sie heute bekannt sind, beispielsweise Poor’s, Moody’s oder Fitch. Diese Entwicklung war verbunden mit den vielen Eisenbahngesellschaften, die sich in den USA als Aktiengesellschaften konstituiert und sich durch den Börsengang ihr Kapital verschafft haben.
Bei den Anlegern entstand das Bedürfnis, sich über die vielen Eisenbahn-, später auch Stahl- und Textilaktiengesellschaften genauer zu informieren. Damals sind viele solcher Aktiengesellschaften sehr schnell pleitegegangen oder haben ihre Aktionäre betrogen. Die Rating-Agenturen, die zu jener Zeit noch Familienbetriebe mit wenigen Beschäftigten waren, haben dann regelmäßig Informationen über die Aktiengesellschaften herausgegeben – heute würden wir sagen, Newsletter. Die sind damals als Printprodukte auf dem freien Bücher- und Zeitschriftenmarkt verkauft worden, als Handbücher und Jahresberichte. So wurde über Jahrzehnte verfahren.
Die große systematische Veränderung begann in den 1970er Jahren unter der Präsidentschaft von Gerald Ford in den USA – mit den Anfängen der sogenannten neoliberalen Umgestaltung des Finanzwesens und der Wirtschaft. Damals wurden die Rating-Agenturen, die vorher freie kleine Unternehmen gewesen waren, mit staatlichen hoheitlichen Aufgaben betraut. Das heißt, sie wurden von der amerikanischen Börsenaufsicht Security and Exchange Commission (SEC) lizenziert und die Modalitäten ihrer Tätigkeit von der Finanzaufsicht festgelegt. Das hatte zur Folge, dass die Ratings in viele einzelne Gesetze für Investmentfonds, Pensionskassen und so weiter aufgenommen worden sind. Und auch wenn Banken einen Kredit vergeben haben, dann mussten sie ihr Eigenkapital nach der Risikobewertung der Rating-Agenturen richten. Ab Ende der 70er Jahre gab es in den USA ein gefestigtes privat-staatliches System. Mit der Globalisierung hat Wallstreet dieses System dann, vereinfacht gesagt, in Verbindung mit den jeweiligen amerikanischen Regierungen in alle Welt exportiert und verbindlich gemacht. Das galt für die Entwicklungsländer, die UNO, die sogenannten entwickelten Staaten, für den Internationalen Währungsfonds und vor allem für die öffentlich kaum bekannte Bank for International Settlements*, wie die Zentralbank der Zentralbanken mit Sitz in der Schweiz heißt. Die Amerikaner haben also durchgesetzt, dass praktisch alle anderen Staaten dieses System übernommen haben und sich damit auch der Vorherrschaft der drei großen US-Rating-Agenturen, deren Arbeitsweise und Kriterien unterordnen mussten.

HINTERGRUND: Hat man damit das System nicht quasi von den Füßen auf den Kopf gestellt, denn mit der Neuausrichtung hatten sich sowohl Auftraggeber als auch Finanzierungsverhältnisse verändert?
Werner Rügemer: Ja. Das war etwa 1975. Die amerikanische Bankenfinanzaufsicht, die die drei großen Rating-Agenturen lizenziert hatte, stimmte zu, dass der Bezahlmodus geändert wurde und nicht mehr die Kleinanleger oder Aktienkäufer die Ratings bezahlt haben. Vielmehr zahlten von nun an, und das ist seitdem unverändert, die Banken oder die Finanzakteure, die ein Paket von Aktien oder anderen Wertpapieren auf den Markt werfen – dazu gehören inzwischen auch Hedgefonds und Private Equity Fonds –, den Rating-Agenturen ein Honorar. Das heißt also, es hat eine vollständige Umkehrung des Bezahlmodus stattgefunden. Das hat natürlich dazu geführt, dass nach dem Motto „Wer zahlt, schafft an“ die Eliten, wie man in der Bankensprache sagt, also die Verkäufer der Aktien, auch Einfluss auf die Ratings selbst nehmen.

HINTERGRUND: Wie läuft das bei den Ratings für Staaten – müssen die auch dafür bezahlen?
Werner Rügemer: Das ist sehr unterschiedlich. Und da kommen wir zu einem Umstand, der in der Öffentlichkeit, trotz des vielen Geredes und Geschreibes darüber, kaum bekannt ist. Es gibt nämlich zwei unterschiedliche Arten von Ratings. Erstens die bestellten Ratings. Da sagt eine Bank oder ein Unternehmen: „Ich möchte eine Anleihe auf den Markt bringen“ und beauftragt dann eine Rating-Agentur: „Du machst mir dieses Rating, und dafür zahle ich dir 200000 Dollar.“ Manchmal holen sich aber auch Staaten eine Note bei einer Rating-Agentur. Zweitens gibt es unbestellte Ratings, vor allem in Krisenzeiten, wie auch jetzt in der Finanzkrise und in der sogenannten Staatsschuldenkrise. Das heißt, die Agenturen bestimmen in Eigenregie selbst den Zeitpunkt, an dem sie ein Rating vornehmen, beispielsweise für den Staat Griechenland oder die USA. Dafür bekommen sie kein Honorar, und da stellt sich natürlich die Frage: Warum tun sie das?

HINTERGRUND: Genau. Es wird ja suggeriert, Rating-Agenturen seien völlig unabhängig, eine neutrale Instanz, die wissenschaftliche Expertisen anfertigt. In welchem Beziehungsgeflecht stecken sie aber tatsächlich?
Werner Rügemer: Sie legen ja normalerweise viel Wert darauf, dass ihre Ratings sehr gut bezahlt werden. Ein Honorar für ein kompliziertes Rating beträgt manchmal eine Million Dollar. Wenn eine Agentur also darauf freiwillig verzichtet, dann muss es gewichtige Gründe geben. Die Erklärung ist leicht, wird nur nicht offengelegt: Die Agenturen werden als eigenständige, neutrale, objektive Akteure vorgestellt. Das sind sie aber nicht. Sondern sie gehören den Banken und Hedgefonds, die heute den Finanzmarkt beherrschen. Wenn sie dann mal eben – vor allem in Krisensituationen, in denen es wirklich um sehr viel Geld, mögliche Gewinne geht – ohne Honorar arbeiten, dann dürfen wir annehmen, dass sie das im Interesse ihrer Eigentümer tun. Denn ihre Kriterien unterscheiden sich ja keinen Deut von den Kriterien, die die großen Investmentbanken, Hedgefonds und andere Finanzakteure haben.

HINTERGRUND: Sie sagen auch, dass sich aus den Ratings private Profite erzielen lassen.
Werner Rügemer: Ja, die Eigentümer der Rating-Agenturen, etwa die großen Investmentbanken, wie Goldman Sachs, Deutsche Bank und die Hedgefonds, die wiederum die Eigentümer von Goldman Sachs und der Deutschen Bank sind, verdienen umso mehr, je mehr die Unternehmen oder Staaten Kredite aufnehmen und je mehr sie Schulden anhäufen. Das Interesse der Rating-Agenturen und ihrer Eigentümer, der Kreditgeber, liegt darin, möglichst viele Kredite zu vergeben. Daher kommt es, dass Staaten, obwohl sie sehr hoch verschuldet sind, wie die Vereinigten Staaten oder auch Deutschland und Japan oder Großbritannien, ein hohes Rating bekommen. Denn daran verdienen die Kreditgeber am meisten. Auch wenn in den Krisensituationen die Ratings sinken und die Zinsen für die Kredite in die Höhe schießen, ist das natürlich im Interesse der Kreditgeber.

HINTERGRUND: In Deutschland sind die Zinsen nach wie vor recht niedrig.
Werner Rügemer: Ja. Das verweist auf einen weiteren Punkt: Staatsanleihen werden von den großen Versicherungsgesellschaften wie Allianz oder den großen Investmentbanken oder sonstigen Finanzakteuren nicht deswegen vorrangig gekauft, weil sie etwa große Zinserträge bringen – sondern sie sind als Darlehen interessant, die Sicherheit bieten und auf die neue Finanzprodukte, sogenannte Derivate, gesetzt werden. Das heißt also, die Staatsanleihen, über die und deren Rückzahlung wir gegenwärtig am Beispiel Griechenland so viel diskutieren, werden von den Kreditgebern nur als Basis für ihre Spekulationen benutzt. Griechenland hat ja „nur“ etwa 300 Milliarden Euro Schulden, während aber die gesamten Derivate, die auf diesen Schulden aufgebaut werden, mindestens das Zehnfache betragen. In der heutigen Finanzindustrie wird versucht, aus jeder Bewegung auf den Finanzmärkten, jeder Veränderung des Kurswertes einer Aktie oder der Bonität einer Staatsanleihe Kapital zu schlagen – auf Basis der Derivate. Ob es rauf- oder runtergeht ist den Finanzakteuren dabei egal.

HINTERGRUND: Das bedeutet, die Profitmaximierung läuft offensichtlich in diesem ganzen System zusammen. Sie zitieren in Ihrem neuen Buch aus der Studie einer Schweizer Universität, in der nach dem „Kern der Kapitalmacht“ gesucht wurde. Diese Macht konzentriert sich auf 147 multinationale Konzerne.
Werner Rügemer: Diese Studie der Eidgenössischen Hochschule in Zürich hat alle – rund sechzig Millionen – Unternehmen in der Welt untersucht und jene Gruppe herausaggregiert, die heute in der Finanz- und Wirtschaftswelt dominierend ist. Sie besteht zum größten Teil aus Banken bzw. Hedgefonds. Es sind sehr wenige Unternehmen im klassischen Sinne darunter, also sogenannte produzierende Unternehmen. Diese Machtkonzentration kommt eben dadurch zustande, dass diese 147 – größtenteils Finanzunternehmen – ein tief verschachteltes System von Eigentumsanteilen unterhalten.

HINTERGRUND: Sie sagen auch, dass der Staat letztendlich dieses Geflecht der Profitmaximierung absichert.
Werner Rügemer: Ja. Die Macht der Rating-Agenturen hat zwei Quellen: Zum einen die mächtigen Finanzakteure, die Eigentümer der Agenturen sind; und zum zweiten die Macht, die ihnen durch die Staaten, die Gesetzgebung, die Integration der Ratings in die Regularien der Kreditvergabe zugeordnet worden ist. Die Propagandisten der Deregulierung haben seit den 1970er Jahren immer gesagt, wir müssen diesen Wust an staatlicher Regulierung der Banken, an staatlicher Bürokratie abschaffen, denn die behindern unsere Tätigkeit. Aber tatsächlich wurden bisherige finanzaufsichtliche Regelungen und Einschränkungen der Freiheit der Finanzakteure abgeschafft. Diese Leerstelle wurde wieder ausgefüllt durch eine kombinierte privat-staatliche Regelung, nach der die Privaten das Sagen haben. Weltweit wurde in Hunderten von Regulierungsvorschriften, zum Beispiel auch in den Zentralbanken, in der EZB, in der Deutschen Finanzaufsicht BaFin, den Rating-Agenturen und ihren Ratings von den jeweiligen Staaten sozusagen eine gesetzliche Rolle zugeschrieben.

HINTERGRUND: Wie erfolgt eigentlich die Bewertung der Bonität von Staaten. Was sind die Kriterien? Welche Daten werden erhoben?
Werner Rügemer: Das Kriterium ist ganz primitiv. Es geht nur um die Frage, ob die Staaten ihre bisherigen und zukünftigen Kredite sicher, pünktlich und vollständig zurückzahlen können. Und die Daten, die dafür erhoben werden – das behaupten jedenfalls die Rating-Agenturen –, sind konventionelle Daten, die eigentlich jedem bekannt sind: das Bruttosozialprodukt, die Zahl der Bewohner, das Einkommen, die Steuereinkommensverläufe der letzten und kommenden Jahre, die Höhe der Verschuldung sowie die bisherige und zukünftige wirtschaftliche Entwicklung. Also eigentlich ganz banale Daten. Das Problem sind vielmehr die Vorschläge, die gemacht werden, um die Rückzahlungsfähigkeit zu gewährleisten. Es gab zum Beispiel noch nie eine Rating-Agentur, die etwa im Fall Griechenland – dort gäbe es viele Gründe dafür – verlangt hat, die völlig überzogenen Rüstungsausgaben, pro Kopf der Bevölkerung die weitaus höchsten in der EU, zu reduzieren. Es hat auch keine Rating-Agentur gefordert, die besonders Vermögenden in Griechenland nachhaltig zu besteuern und vom Staat zu verlangen, das adäquate Instrumentarium dafür zu entwickeln. Stattdessen schlagen jene Kriterien durch, die in der neoliberalen Finanzindustrie und Wirtschaft herrschen: Es wird erst einmal im sozialen Bereich gespart, öffentlich Beschäftigte werden entlassen, die Renten werden reduziert und das Rentenalter erhöht. Die Sozialtransfers werden gekürzt, staatliche Unternehmen verkauft und so weiter.

HINTERGRUND: Die Rating-Agenturen können also durch ihre Beurteilung den Umbau einer Gesellschaft diktieren?
Werner Rügemer: Ja. Durch die Ratings werden Möglichkeiten eröffnet, die die Finanzakteure auch auf anderem Wege zu erreichen versuchen. Die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, der Verkauf öffentlicher Unternehmen und das private Betreiben der öffentlichen Infrastruktur ist unabhängig von den Rating-Agenturen ein Bestreben der Finanzakteure, das mit der Deregulierung begonnen hat. Doch wenn zusätzlich ein Staat heruntergestuft wird und er seine Zahlungsfähigkeit dadurch, dass öffentliche Unternehmen verkauft werden, wiederherstellen muss, dann ist das Rating ein zusätzlicher Hebel.

HINTERGRUND: Sie beschreiben in Ihrem Buch am Beispiel der Hartz-IV-Gesetze, wie die Rating-Agenturen nahezu erpresserisch sozialpolitische Maßnahmen forciert haben.
Werner Rügemer: Das tun die eigentlich immer. Auch wenn die Bonität von Unternehmen heruntergestuft wird. Dann werden als Maßnahmen, das Rating wieder zu verbessern, Lohnsenkungen, Entlassungen und so weiter gefordert. Der Staat wird also nicht besonders behandelt. Die Rating-Agenturen haben das Hauptkriterium: „Kann dieser Staat seine Kredite jetzt und in Zukunft zurückzahlen?“ Wenn er das nicht kann, dann muss er auf der sozialen Seite, der Lohnseite oder am Eigentum sparen. Bei einem Unternehmen kann die Forderung lauten, Teile zu verkaufen. Beim Staat lautet sie: verkauf deine Telekommunikationsunternehmen, deine öffentliche Eisenbahn oder sonst etwas. Standard & Poor’s hat Anfang der 2000er Jahre, während einer Pressekonferenz in Berlin, eine Herabstufung der Bundesrepublik Deutschland angedroht, für den Fall, dass die Agenda 2010 nicht bald beschlossen würde. Das heißt, Einsparungen bei den Sozialleistungen, Auflockerung des Arbeitsmarktes durch Leiharbeit und leicht kündbare Billigjobs, also 400-Euro-Jobs, Ein-Euro-Jobs und so weiter.

HINTERGRUND: Damit haben also nachweislich internationale Finanzakteure unmittelbaren Einfluss auf die bundesrepublikanische Politik genommen.
Werner Rügemer: Ja, natürlich! In den Entwicklungsländern ist das ständig passiert. Seit den 1970er Jahren haben sich die Staaten durch die neoliberale Praxis mehr als früher verschuldet, weil sie auf wesentliche Steuerquellen – zumindest zum Teil – verzichtet haben: die Besteuerung von hohen Einkommen, von Unternehmensgewinnen, von Erbschaften und Vermögen, von Kapitalgewinnen. In den 70er Jahren wurden zunächst nur selten, Ende des Jahrzehnts gerade einmal drei oder vier Staaten von den Rating-Agenturen bewertet. Dann gab es weltweit eine zunehmende Häufigkeit bei gleichzeitig ansteigender Staatsverschuldung, bis dann schließlich, wie heute üblich, praktisch alle Staaten geratet wurden.

HINTERGRUND: Werden Rating-Agenturen kontrolliert?
Werner Rügemer: Sie werden lizenziert, und sie sollen in den USA auch kontrolliert werden. Aber es wird nur kontrolliert, was auch gesetzlich festgeschrieben ist. Da aber die Rating-Agenturen die Methoden ihrer Notenvergabe selbst festlegen, haben sie sozusagen die Definitionshoheit.
Die Vorgaben für die Kontrolle werden damit im Grunde von den Rating-Agenturen selbst gemacht.

HINTERGRUND: Es gibt keinerlei staatliche Kontrolle?
Werner Rügemer: Es wird oft gesagt, sie werden kontrolliert, weil sie von der Finanzaufsicht lizenziert werden. Auch die Bundesdeutsche Finanzaufsicht BaFin hat vier Rating-Agenturen lizenziert, aber das Lizenzverfahren war eine Farce, denn die haben einfach – zum Beispiel für Standard & Poor’s oder Moody’s und Fitch – das abgeschrieben, was in der Genehmigung aus den USA stand.

HINTERGRUND: Der EZB-Präsident Jean-Claude Trichet erklärte wiederholt, die Rating-Agenturen fungieren in der Eurokrise als Brandbeschleuniger, und er machte sie damit zu Mitverantwortlichen. Sie aber sagen, die Eurokrise sei konstruiert und diene letztlich zur privaten Geldschöpfung bestimmter Finanzakteure.
Werner Rügemer: Ja, das ist richtig. Es gibt Vorläufer – etwa die Asien-Krise –, wo ganze Ländergruppen in ähnlicher Weise in die Krise geführt worden sind wie jetzt in Europa. Die Krise wurde nicht vorrangig von den Rating-Agenturen selbst verursacht, sondern von den Kreditgebern. In der Asien-Krise wollten die großen Finanzhäuser den asiatischen Markt aufrollen, auch die US-amerikanischen produzierenden Konzerne hatten dort sehr viele Kredite vergeben – für den Neuaufbau von Firmen, zum Beispiel Hightech-Firmen, oder sie hatten, wie das dann auch in Griechenland oder Spanien der Fall war, sehr viel in den Immobilienboom investiert. Als das dann zusammengebrochen ist, kamen die Werkzeuge der Rating-Agenturen zum Einsatz. Die sagten dann: „Was ihr jetzt alles an Krediten aufgenommen habt, das ist viel zu viel, das könnt ihr nicht zurückzahlen.“ Sie haben Herabstufungen vorgenommen, genauso, wie das in Europa gewesen ist. Dabei kommt dann die Möglichkeit ins Spiel, dass die Rating-Agenturen – insbesondere bei Staaten – aus dem Kalkül ihrer Eigentümer, ohne Auftrag und zeitlich genau platziert, ihre Ratings veröffentlichen können. Das konnte man in den letzten Jahren bei Portugal, Griechenland oder Spanien genau beobachten: Wenn die jeweiligen Regierungen vor der Entscheidung standen, Sparmaßnahmen zu verabschieden, kam ganz gezielt ein, zwei, drei Tage vor einer Parlamentssitzung die Drohung einer Rating-Agentur oder direkt die Vergabe einer schlechten Note.

HINTERGRUND: Sind Alternativen unter den bestehenden Bedingungen denkbar – also reale politische Forderungen?
Werner Rügemer: Das Problem ist, dass die Staaten selbst keine eigenen Bewertungsmethoden und -verfahren im öffentlichen Interesse oder im Interesse des Funktionierens der gesamten Volkswirtschaft entwickelt haben. Man könnte sich denken, dass Bewertungsagenturen durchaus notwendig sind, die aber andere Kriterien haben. Sicher müssten auch die zuerst einmal davon ausgehen: Es besteht ein Kreditverhältnis zweier Partner, und für die Kreditvergabe tragen beide Teile Verantwortung. Wenn der Kreditnehmer in Verzug gerät, muss gefragt werden, ob der Kreditgeber tatsächlich so sorgfältig verfahren war wie etwa bei Häuslebauern und bei Kleinkrediten? Hat er wirklich geprüft, ob zum Beispiel der Staat Griechenland in der Zukunft zahlungsfähig ist, oder hat er sich, sozusagen aus Kalkül, auf eine Rating-Agentur verlassen? Das heißt, wir müssten für volkswirtschaftlich förderliche Bewertungsmethoden andere Kriterien einführen. Wir müssten beispielsweise bedenken, wie eine öffentliche Infrastruktur beschaffen sein muss. Wie viele und wie qualifizierte Beschäftigte muss der öffentliche Dienst haben? Man darf nicht von vornherein davon ausgehen: Wenn ein Staat wie Griechenland nicht zahlen kann, muss er halt 25000 Beschäftigte entlassen – unabhängig davon, ob dann die öffentliche Verwaltung überhaupt noch funktionieren kann. Auch müssten Bewertungskriterien für Maßnahmen zur Verringerung von Arbeitslosigkeit oder um eine Wirtschaft wieder in Gang zu setzen eine wesentlichere Rolle spielen. Beispielsweise müsste ein Heilungsvorschlag darin bestehen, dafür zu sorgen, dass ein Staat die ihm zustehenden Steuern wirklich eintreiben kann oder dass er bestimmte notwendige Steuern, um aus einer Schuldenkrise herauszukommen, neu einführen muss. Es gäbe etwa auch die Möglichkeit, nach einer von den Banken verursachten Krise eine einmalige Abgabe für Banken zu erheben oder eine entsprechende Transaktionssteuer und vieles mehr. Auf solche Kriterien stützen sich die bisherigen Rating-Agenturen nicht.

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* Bank für Internationalen Zahlungsausgleich

Das Gespräch erschien zuerst in Hintergrund Heft 2, 2012.

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