„Menschenrechtlich fragwürdig“
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Hartz-IV Debatte: Parteien und Verbände plädieren mehrheitlich für Beibehaltung der Sanktionen
Am Montag beschäftigte sich der Bundestags-Ausschuss für Arbeit und Soziales mit den Sanktionsregelungen im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II), besser bekannt als Hartz-IV.
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen hatten zuvor eine Überprüfung der aktuellen Sanktionspraxis gegenüber Hartz-IV Empfängern beantragt. Während die Linke für eine bedingungslose Grundsicherung plädiert, und somit die Abschaffung aller Sanktionen fordert, weil nur so dem Sozialstaatsgebot Rechnung getragen werden könne, wollen die Grünen weiterhin an der sogenannten Mitwirkungspflicht der Leistungsempfänger festhalten, das „Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ dürfe jedoch nicht durch Sanktionen infrage gestellt werden. Sanktionen seien oftmals „demütigend, unnötig und kontraproduktiv“. Hartz-IV wurde im Jahr 2005 unter Rot-Grün eingeführt.
Zehn Jahre danach sei es Zeit „für eine kritische Bilanz und eine grundlegende politische Neuausrichtung“, so die Linke, deren Bilanz vernichtend ausfällt. Mit Hartz IV „wurde als zentrale Maßnahme die Arbeitslosenhilfe abgeschafft. Parallel wurde im Rahmen der Hartz-Reformen die Leistungsdauer für das Arbeitslosengeld massiv verkürzt. Die Sicherung gegen das soziale Risiko Erwerbslosigkeit wurde weitgehend an die nunmehr in Arbeitslosengeld II umbenannte Fürsorge delegiert. Fürsorge bedeutet: weniger als das Existenzminimum statt Lebensstandardsicherung, Bedarfsgemeinschaft und Bedürftigkeitsprüfung statt individueller Ansprüche, sukzessive Abschaffung der Beiträge zur Rentenversicherung und damit garantierte Altersarmut, „Ein-Euro-Jobs“ und kurzfristige Maßnahmen statt öffentlicher Beschäftigung und nachhaltiger Ausbildung und Qualifizierung so wie verschärfte Zumutbarkeitsregeln und Sanktionen.“ Kennzeichen der Hartz-IV-Reform seien „Armut, Ausgrenzung und ein Sonderrechtssystem“.
Vertreter der Wirtschaft, die Bundesagentur für Arbeit sowie Vertreter der Kommunen zeichneten während der Debatte im Ausschuss hingegen ein grundsätzlich positives Bild der Hart-IV-Reformen – und sprachen sich für die Beibehaltung der Sanktionspraxis aus.
Wiederholt verwiesen sie darauf, dass dank Hartz-IV die Zahl der Arbeitslosen deutlich gesenkt werden konnte. Tatsächlich ist die Zahl der nach SGB II Leistungsberechtigten seit der Einführung von Hartz-IV um knapp ein Drittel auf rund zwei Millionen gesunken. Neueste Zahlen der Bundesagentur der Arbeit scheinen dieses Argument zu bekräftigen: Mit 2,711 Millionen ist die Zahl der Arbeitslosen auf den niedrigsten Juni-Wert seit 1991 gesunken. Von Mai auf Juni hat die Erwerbslosigkeit demnach um 51 000 abgenommen; die Arbeitslosenquote sank um 0,1 Punkte auf 6,2 Prozent. Im Vergleich zum Vorjahr waren 122 000 Erwerbslose weniger in der amtlichen Statistik registriert.
Die vermeintliche Erfolgsgeschichte wird jedoch von zwei Faktoren relativiert. Zum einen liegt ihr eine statistische Schönrechnerei zugrunde. Denn zu den offiziell arbeitslos Geltenden müsste die Zahl der knapp vier Millionen Unterbeschäftigten hinzu addiert werden, um ein realistisches Bild der Arbeitsmarktlage zeichnen zu können. Wer sich beispielsweise als Hartz-IV-Bezieher im Monat hundert Euro durch einen Ein-Euro-Job dazu verdient, der gilt offiziell nicht mehr als arbeitslos. Folgerichtig stellt die Linke in ihrem Antrag fest, dass aktuell „für mehr als sechs Millionen Menschen das Fürsorgesystem Hartz IV die zentrale Institution zur sozialen Sicherung“ darstellt.
Die Linke weist zudem auf einen weiteren Aspekt hin, der berücksichtigt werden muss. Aus dem Anstieg der Anzahl der Erwerbstätigen bei gleichzeitiger Senkung der Zahl der Erwerblosen kann nicht automatisch geschlossen werden, dass auch mehr Beschäftigung geschaffen wurde. Denn „das Gesamtvolumen der Arbeitsstunden ist im Vergleich zum Jahr 2000 nahezu konstant geblieben“. Gewachsen seien dagegen der Niedriglohnsektor, die Anzahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse wie Teilzeitarbeit und Minijobs, Leiharbeit und prekäre Selbstständigkeit. „Soweit nach 2005 beschäftigungspolitische Zuwächse zu verzeichnen sind, sind diese auf die gute Konjunktur in Deutschland und Maßnahmen der betriebsinternen Flexibilität zur Abfederung der Finanzmarktkrise 2008/09 zurückzuführen und nicht auf die arbeitsmarktpolitischen Strukturreformen.“
Im Zentrum der Debatte stand jedoch nicht die Hartz-IV-Gesetzgebung als solche, sondern die damit verbundene Sanktionspraxis. Die verhängten Leistungsminderungen beziehen sich zu neunzig Prozent auf Kürzungen der Regelleistungen, während in zehn Prozent der Fälle der Rotstift bei Miet- und Heizungskosten angesetzt wird.
Dreiviertel der Sanktionen werden wegen sogenannter Meldeversäumnisse ausgesprochen, also weil ein Termin nicht wahrgenommen wurde. Der Rest entfällt auf sogenannte „Pflichtverletzungen“, also der Weigerung, eine angebotene Arbeit anzunehmen oder an einer Schulungsmaßnahme teilzunehmen. Pflichtverletzungen ziehen beim ersten Mal eine 30-prozentige Kürzung der Regelleistungen für drei Monate nach sich. Für unter 25-Jährige gelten jedoch schärfere Bestimmungen. Ihnen wird bereits beim ersten Mal die Regelleistung komplett gestrichen.
Bei einer „100-Prozent-Sanktion“ sei das Existenzminimum nicht mehr gesichert, gab die Vertreterin des Vereins für öffentliche und private Vorsorge zu bedenken. Auch die Caritas hält verschärfte Sanktionen für Jugendliche für unzumutbar. Sie führten nicht zu einer höheren Beschäftigungswahrscheinlichkeit bei jungen Arbeitslosen. Stattdessen könnten sie Obdachlosigkeit zur Folge haben, wodurch Jugendliche in kriminelle Bereiche abzurutschen drohten. Für eine Abschaffung der Sanktionen plädierte der Vertreter der Diakonie Deutschland. Sie seien „menschenrechtlich fragwürdig und verschärfen soziale Ausgrenzung“.
„Erzieherische Effekte“
Selbst die Bundesagentur für Arbeit (BA) räumte ein, dass sich Sanktionen „kontraproduktiv auf die Integrationschancen der Betroffenen auswirken“, wenn damit „besondere Einschränkungen der Lebensbedingungen“ verbunden seien. „Dies gilt insbesondere dann, wenn Leistungsberechtigte in Situation wie Obdachlosigkeit geraten“ und den Kontakt zum Jobcenter abbrechen. Dennoch hält die BA das Sanktionssystem im Rahmen des gesetzlichen Auftrags nach dem Motto „Fördern und Fordern“ für notwendig. Sanktionen gegenüber ihren „Kunden“ stellten keine Strafe dar, sondern seien „eine Konsequenz auf unzulängliche Mitwirkung“. „Die geringe Sanktionsquote der letzten Jahre von ca. 3 Prozent zeigt, dass sich die Mehrheit der Kunden in der Grundsicherung verantwortungsvoll verhält und die Jobcenter ebenso verantwortungsbewusst mit dem Instrumentarium umgehen“, so die Bundesagentur.
Bei den unter 25-Jährigen liegt die Sanktionsquote mit knapp 10 Prozent jedoch dreimal höher, da für sie schärfere Bedingungen gelten. Die BA sprach sich dagegen aus, die unterschiedlichen Regelungen für verschiedene Altersgruppen beizubehalten, da sie zu Intransparenz führten.
Auch der Deutsche Städtetag und der Deutsche Landkreistag kritisierten die unterschiedliche Behandlung von jungen und älteren Arbeitslosen. Schon aus Gründen der Kostenersparnis sollten einheitliche Regelungen gelten, um die Verwaltung zu vereinfachen – und den älteren Arbeitslosen das Leben zu erschweren.
Denn die strengeren Regelungen für die unter 25-Jährigen sollten ihrem Willen nach künftig auch für sie gelten. Immerhin sparen die Kommunen mit jeder verhängten Sanktion Gelder ein. Die Vertreter der Wirtschaftsverbände schlossen sich der Forderung an.
Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (VBW) hält die härteren Sanktionen für unter 25-Jährige für „angemessen“. Auch nach Ansicht der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) würden diese zu einer stärkeren Kooperation der Arbeitsuchenden mit den Jobcentern führen. Von einer Abschwächung solle daher abgesehen werden. Nach Ansicht der BDA-Vertreterin seien die „großen Erfolge“ bei der Integration Langzeitarbeitsloser in den Arbeitsmarkt auch auf Sanktionen zurückzuführen – dabei hatte die Bundesagentur für Arbeit selbst vor einem Jahr mit dem neoliberalen Märchen aufgeräumt, dass sich die Hartz-IV-Reformen positiv auf die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit ausgewirkt haben. (1)
Die Sanktions-Befürworter weisen explizit auf die erzieherischen Effekte hin, die von den Unterhaltskürzungen ausgehen sollen. „Negativ-Anreize“ seien notwendig, um die „gesellschaftlich gewünschte Verhaltensänderung“ zu bewirken, erklärte der Vertreter der VBW. Gerade bei den unter 25-jährigen, die am „beginn der Berufslebensphase“ stünden, seien „härtere Sanktionen“ geeignet, Anstoß für ein „vernunftgeleitetes Handeln“ zu geben. Der Vertreter des Deutschen Handwerks sprach hingegen von einem „heilsamen Druck“, der von den Kürzungen ausgehe.
In ihrem Antrag hatte die Linke den der Hart-IV-Gesetzgebung zugrunde liegenden sogenannten Aktivierungsansatz kritisiert, demzufolge „nicht das kapitalistische Wirtschaftssystem und die neoliberale Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik für die Massenerwerbslosigkeit“ verantwortlich seien, „sondern die mangelnde Motivation der Erwerbslosen“. Unter dem Motto „Fördern und Fordern“ würden „die Opfer des Arbeitsmarktes zu den Schuldigen der Arbeitsmarktkrise umgedeutet. Soziale Sicherheit gilt in dem neoliberalen Aktivierungsdenken als Fehlanreiz für die Aufnahme einer Beschäftigung.“ Sanktionen seien Ausdruck eines Sozialstaats, „der in dieser Hinsicht als paternalistischer Erziehungsstaat“ agiert.
Nach Ansicht des in den Ausschuss geladenen Einzelsachverständigen Helmut Apel sind die von den Wirtschaftsvertretern behaupteten positiven Sanktions-Effekte wissenschaftlich nicht nachweisbar. Festzustellen sei aber, so der Sozialwissenschaftler, dass die Sanktionen „gravierende Auswirkungen“ auf das Leben der Betroffenen hätten. Vereinsamung und Verschuldung seien die Folge. Vielfach würden die Betroffenen dann den Kontakt zum Jobcenter abbrechen, weil sie „irgendwann nicht mehr können“, nachdem sie „jahrelang alles getan“ haben. Wer in einer Region lebe, in der es keine Jobs gibt, und nach 150 erfolgslosen Bewerbungen mit Sanktionen konfrontiert werde, fühle sich „entmutigt“ und „gedemütigt“. Es sei schwer, „in einer Atmosphäre, wo Konsequenzen schneller erfolgen können als bei Fehlverhalten im Strafrecht“, Vertrauen zu den Jobcentern aufzubauen. Generell herrsche eine „große Angst“ unter den Leistungsberechtigten, Opfer von Sanktionen zu werden – was erklären dürfte, warum sich laut der Bundesagentur für Arbeit die „Mehrheit der Kunden in der Grundsicherung verantwortungsvoll verhält“.
Angst und Schrecken
Nennenswerte positive arbeitsmarktpolitische Effekte durch die Sanktionen sind offenbar nicht zu konstatieren. Zynisch ließe sich einwenden, dass von ihnen immerhin ein positiver Effekt auf die Arbeitslosenstatistik ausgeht – stellen doch viele der leistungsberechtigten „Kunden“, gegen die Sanktionen verhängt wurden, ihre „Zusammenarbeit“ mit dem Jobcenter gefrustet ein, und gelten damit offiziell nicht mehr als arbeitslos.
Angst und Schrecken unter den Erwerbslosen durch Disziplinierungen zu verbreiten, dürfte der tiefere Sinn sein, der mit dem Sanktionsregime verbunden ist. Jeder dritte Hartz-IV-Empfänger ist laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) psychisch krank und leidet an Depressionen, oder weist neurotische Belastungsstörungen wie Angst- oder Zwangsstörungen oder damit zusammenhängende körperliche Beschwerden auf. (2) Weil sie deswegen kaum Jobchancen hätten, bräuchten sie eine bessere Förderung.
Doch gerade sie sind besonders häufig Opfer von Sanktionen, da sie aufgrund ihrer psychischen Leiden oftmals nicht in der Lage sind, einen Termin wahrzunehmen. Die darauf folgenden Leistungsminderungen verstärken wiederum den psychischen Druck.
Das Risiko einer Depression liegt laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts bei Arbeitslosen dreimal höher als bei Erwerbstätigen. (3) Entsprechend kann das Ergebnis der Studie auf die Formel „Arbeitslosigkeit und Hartz IV machen Angst“ runtergebrochen werden.
Die mit Hartz-IV verbundene Sanktionspraxis diszipliniert demnach nicht nur die Arbeitslosen, sondern auch die Erwerbstätigen, die lieber schlechte Arbeitsbedingungen in Kauf nehmen, als in Jobcentern als „Kunde“ vorstellig zu werden.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Position des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Der DGB-Vertreter sprach sich zwar für eine Entschärfung der Sanktionen aus, nicht aber für deren Abschaffung. Leistungskürzungen sollten auf maximal dreißig Prozent beschränkt werden.
Eine Abschaffung der Sanktionen sei ungerecht gegenüber den Hartz-IV-Empfängern, die „mitziehen“. Zudem trügen Sanktionen zur „Akzeptanz“ der steuerfinanzierten Grundsicherung in der Gesellschaft bei.
Mit ihrer Position, die Erwerbslosen untereinander und gegen die Erwerbstätigen auszuspielen, hat sich die Gewerkschaft endgültig von dem Standpunkt verabschiedet, die gemeinsamen Interessen derjenigen zu vertreten, die gezwungen sind, vom Verkauf ihrer Arbeitskraft zu leben.
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Anmerkungen
(1) Siehe dazu: http://www.hintergrund.de/201306262651/soziales/sozialabbau/langzeitarbeitslose-abgehaengt-in-einer-parallelwelt.html
(2) http://www.focus.de/finanzen/news/arbeitsmarkt/arbeitslosigkeit/alarmierende-zahlen-studie-zeigt-jeder-dritte-hartz-iv-empfaenger-ist-psychisch-krank_aid_1145393.html
(3) http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsK/2013_2_depression.pdf