Höchste Arbeitsrichterin verteidigt Bagatellkündigungen
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Von JUSTUS LEICHT, 9. Januar 2010 –
Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in Erfurt, Ingrid Schmidt, hat in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung Ende letzten Jahres die öffentliche Kritik an der fristlosen Kündigung von Arbeitnehmern wegen Kleinst- bzw. Bagatelldelikten zurückgewiesen und die von Arbeitslosigkeit Betroffenen scharf angegriffen.
Seit 1984, als das BAG eine entsprechende Grundsatzentscheidung fällte, gilt vor deutschen Arbeitsgerichten, dass Diebstahl oder Unterschlagung von Eigentum des Unternehmens durch den Arbeitnehmer grundsätzlich eine fristlose Kündigung rechtfertigen. Dabei soll es auf den Wert der gestohlenen Sache nicht ankommen. Darüber hinaus reicht nach der Rechtsprechung schon ein Verdacht zur Kündigung aus, auch wenn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Arbeitnehmer eingestellt wird.
Letztes Jahr hatte sich die öffentliche Empörung über diese Praxis besonders am Fall Emmely entzündet, einer Berliner Supermarkt-Kassiererin, die nach über 30 Jahren Betriebszugehörigkeit mit der Begründung gefeuert wurde, sie habe angeblich zwei von Kunden liegen gelassene und nicht wieder abgeholte Pfandbons im Wert von insgesamt 1,30 Euro selbst eingelöst. Die Kündigung von Emmely wurde in zwei Instanzen bestätigt und wird in den nächsten Monaten vom Bundesarbeitsgericht erneut geprüft.
Seither sind immer neue Kündigungen wegen angeblichen Straftaten bekannt geworden, eine absurder als die andere – wegen einer vom Büffet verzehrten Boulette, wegen einer gegessenen Milchschnitte, einem vom Müllmann aus dem Müll mitgenommenen Kinderbettchen, und sogar weil ein Arbeiter sein Handy an der Firmensteckdose aufgeladen hatte.
Die SPD will im Januar einen Gesetzesantrag im Bundestag einbringen, wonach bei Bagatellfällen grundsätzlich erst im Wiederholungsfall eine Kündigung ausgesprochen werden darf. Auf diese Idee kommt sie allerdings erst, nachdem sie nicht mehr in der Regierung vertreten ist. Von 1998 bis 2009 hatte sie sowohl den Arbeits- wie den Justizminister gestellt und genügend Gelegenheit für eine Gesetzesänderung gehabt.
Die Praxis, Arbeitnehmer wegen Nichtigkeiten zu feuern, gilt seit zweieinhalb Jahrzehnten, und der Fall Emmely wurde fast das ganze vergangene Jahr über heftig debattiert. Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) hatte sich wegen seiner Kritik am Emmely-Urteil sogar heftige Angriffe von Juristen und Juristenverbänden gefallen lassen müssen. Doch die SPD will das Gesetz erst ändern, nachdem sie es nicht mehr kann. Die derzeitige Bundesregierung aus CDU und FDP hat eine solche Änderung mittlerweile abgelehnt.
Umso bemerkenswerter ist der Auftritt von Ingrid Schmidt.
Da ist zunächst Ihre unverhüllte Einmischung in Angelegenheiten des Gesetzgebers. Den angekündigten Gesetzentwurf der SPD lehnte sie mit der Bemerkung ab, “neue Gesetze sollten mehr Probleme lösen als schaffen”. Man dürfe einem Arbeitgeber weder fünf noch zehn noch 50 Euro als Bagatellgrenze zumuten.
Üblicherweise reagieren die sehr auf ihre Unabhängigkeit bedachten Richter recht empfindlich auf Kritik aus Regierung und Parlament, halten sich aber auch ihrerseits mit Kritik an den anderen Gewalten zurück. Wie offen sich Schmidt hier in einer politischen Debatte auf die Seite von CDU/CSU, FDP und Arbeitgeberverbänden schlägt, ist ungewöhnlich und erinnert an die wütende Tirade des Münchener Professors Volker Rieble in der neuen Juristischen Wochenschrift. Rieble hatte den Fall Emmely zum Anlass genommen, die Justiz vor jedem Nachgeben gegenüber sozialer Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu warnen.
Dann ist da die Aggressivität und Grobschlächtigkeit der Argumentation von Schmidt im Interview mit der Süddeutschen. Für “völlig daneben” erklärte sie Thierses Kritik an der richterlichen Absegnung von Emmelys Kündigung. Obwohl das Gesetz für eine fristlose Kündigung ausdrücklich einen “wichtigen” Grund fordert, meint Schmidt sogar, rechtlich gesehen gebe es “keine Bagatellen”.
Das bedeutet, auch der Fall des Handy-Aufladens, wo der Schaden für den Arbeitgeber bei 0,014 Cent (nicht Euro) liegt, ist für Schmidt ein Kündigungsgrund. Offenbar rhetorisch gemeint stellt sie die Frage: “Wie kommt man eigentlich dazu, ungefragt Maultaschen mitzunehmen?” Oder auch “eine Klorolle”? “Warum solche Eigenmächtigkeiten?” Das habe “mit fehlendem Anstand” zu tun.
Schmidt spielt damit auf reale Fälle an. Im ersten hat eine 58-jährige Pflegerin in einem Altenheim sechs übrig gebliebene Maultaschen mitgenommen, da sie nach eigener Aussage an jenem Abend noch an einer internen Fortbildung teilnehmen musste und deshalb keine Zeit mehr hatte, daheim zu Abend zu essen. Außerdem wären die Maultaschen ohnehin im Müll gelandet.
In seinem Urteil betonte das Gericht laut Spiegel Online, dass die Pflegerin damit gegen die ausdrückliche Anweisung des Arbeitgebers verstoßen habe. Es sei verboten gewesen, sich mit Essen der Heimbewohner zu bedienen. Für das Personal werde täglich eine Extra-Verpflegung zum Preis von 3,35 Euro angeboten. “Der einzelne Arbeitnehmer kann nicht seinen Willen nach Gutdünken und gegen ein bestehendes Verbot über denjenigen des Arbeitgebers stellen.” Das war der wirkliche Kern der Sache und nicht der Wert der für den Müll bestimmten Maultaschen. Der “fehlende Anstand” bedeutete hier: Wer nicht spurt, fliegt.
Bei dem anderen Fall ging es um einen Busfahrer im thüringischen Ilmenau. Er hatte sich wegen Magenproblemen eine Rolle Klopapier aus der kameraüberwachten Betriebstoilette mit in den Bus genommen. Dort hatte er sie nach seinen Angaben nach Dienstschluss auch gelassen. Das kostbare Klopapier hatte also demnach das Betriebsgelände des Arbeitgebers noch nicht einmal verlassen. Sofort verlassen musste das Betriebsgelände aber der Busfahrer.
Man kann sich die Gerichtsverhandlung vorstellen: Mit wichtiger Miene werden von den Damen und Herren Richtern Videobänder ausgewertet, Zeugen befragt, und das alles, um die Frage zu klären, von der die soziale Existenz des Arbeiters abhängt: Wo ist sie abgeblieben, die Rolle Klopapier? Hatte der Busfahrer ein oder gar mehrere Blätter davon “eigenmächtig” benutzt?
So lächerlich diese Fälle eigentlich sind, für die betroffenen Arbeiter sind sie bitterernst. Meistens haben sie schon etliche Jahre oder gar Jahrzehnte für ihren Arbeitgeber gearbeitet, der sie nun “anstandslos” feuert. Viele sind schon über 40 oder 50 Jahre alt. Zu jung für die Rente, bekommen sie in der Regel nirgendwo sonst mehr einen Arbeitsplatz und werden zum Sozialfall, abhängig von den kargen Hartz-IV-Leistungen.
Ganz offen gibt Schmidt zu, dass es in Wirklichkeit meistens gar nicht um Maultaschen oder Klopapier geht: “Ein Arbeitnehmer erwartet doch von seinem Arbeitgeber nicht nur, dass er sein Geld bekommt. Er erwartet auch Anerkennung, und dass er wie ein Mensch behandelt wird. Aber umgekehrt ist es genauso: Ein Arbeitgeber erwartet, dass ein Arbeitnehmer das Interesse des Unternehmens mitdenkt. Wenn diese Beziehung gestört ist, dann kommt es dazu, dass ein Arbeitnehmer etwas mitgehen lässt und ein Arbeitgeber auch bei Kleinigkeiten die Vertrauensfrage stellt.”
Mit anderen Worten, die höchste Arbeitsrichterin ist sich bewusst, dass bei Kündigungen die angeführten angeblichen Bagatelldelikte nur ein Vorwand sind, um Arbeitnehmer loszuwerden, die das “Interesse des Unternehmens” nicht ausreichend “mitdenken”. Besonders perfide ist dabei, dass vor Gericht der Arbeitnehmer beweisen muss, dass es dem Arbeitgeber in Wirklichkeit um etwas anderes geht, was praktisch kaum möglich ist. Für den Arbeitgeber reicht dagegen der begründete Verdacht einer noch so nichtigen “Straftat” als Kündigungsgrund aus.
Dies ist in der Wirtschaftskrise besonders relevant. Laut Spiegel Online gab es 2009 rund 11 Prozent mehr Verfahren, in denen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber streiten, Klagen gegen Kündigungen seien mancherorts sogar um mehr als 20 Prozent gestiegen.
Auf den Hinweis der Süddeutschen, es habe sich “bei den Leuten der Eindruck breitgemacht: Wer seine Firma ruiniert, kriegt eine Abfindung; wer sich sechs Maultaschen nimmt, kriegt die fristlose Kündigung”, reagierte die Präsidentin des Bundearbeitsgerichts mit einem Achselzucken: Solche “fundamentalen Gerechtigkeitsfragen” könnten nicht “stellvertretend von den Arbeitsrichtern beantwortet werden”.
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In dieser Situation erfährt es die arbeitende Bevölkerung nun aus berufenem Munde: Vor deutschen Arbeitsgerichten hat ein Arbeitnehmer keine Gerechtigkeit zu erwarten.
Quelle: wsws.org