Hessisches Landessozialgericht: Hartz IV Sätze reichen nicht aus
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Von HELMUT LORSCHEID, 31. Oktober 2008:
„Die Hartz IV-Regelleistungen decken nicht das soziokulturelle Existenzminimum von Familien und verstoßen daher gegen das Grundgesetz.“ Zu diesem Ergebnis kam der 6. Senat des Hessischen Landessozialgerichts. Nach mündlicher Verhandlung beschloss er am 29.10.08, ein entsprechendes Verfahren dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen.(1)
Geklagt hatte eine Familie aus dem Werra-Meißner-Kreis, die als Bedarfsgemeinschaft Arbeitslosengeld II bezieht. Für die Eltern wurde jeweils der Regelsatz in Höhe von 311 Euro und für die 1994 geborene Tochter in Höhe von 207 Euro bewilligt. Nach Ansicht der Kläger ist damit ihr existenzminimaler Bedarf nicht gedeckt. Mit ihrem Antrag auf weitere 133 Euro für jedes Elternteil und 89 Euro für die Tochter blieben sie im Verwaltungsverfahren sowie vor dem Sozialgericht erfolglos. Die zuerkannten Leistungen seien rechtmäßig. Ein Verstoß gegen das Grundgesetz liege nicht vor. Dies entspricht der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, das dem Gesetzgeber bei der Bestimmung der Regelleistungen einen weiten Gestaltungsspielraum zugebilligt hat. Nach Einholung von vier Gutachten zur Bedarfsbemessung beanstandeten die Darmstädter Richter hingegen, dass der besondere Bedarf von Familien mit Kindern durch die Regelleistungen nicht berücksichtigt werde. Für die Begrenzung der Leistung für Kinder auf 60 % des Regelsatzes eines Erwachsenen fehle es an einer hinreichenden Begründung. Nicht ersichtlich sei auch, weshalb 14-jährige Kinder trotz höherem Bedarf die gleiche Regelleistung erhalten wie Neugeborene.
Das Bundesverfassungsgericht habe bereits 1998 im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung der Steuerfreibeträge den damals geltenden Regelsatz für Kinder beanstandet, weil dieser die außerschulischen Bildungsbedarfe von Kindern nicht berücksichtige. Diese höchstrichterliche Entscheidung sei, so das Landessozialgericht, bei der Hartz-IV-Gesetzgebung nicht beachtet worden. Für die steuerrechtliche Verschonungsgrenze und das sozialrechtliche Existenzminimum seien aber die gleichen Maßstäbe geboten. Daher seien die Regelsätze weder mit der Menschenwürde, dem Gleichheitsgebot noch dem sozialen Rechtsstaat vereinbar.
Das Urteil wurde von Hatz-IV-Initiativen begrüßt. Im Bundestag forderten Linke und Grüne eine deutliche Anhebung der Hartz-IV-Sätze. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erklärte der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Stregmann-Kuhn, das Landessozialgericht Hessen bestätige mit Hilfe von Gutachtern, was Sozialexperten und Die Grünen schon lange wüssten: „Die Regelleistungen für Hartz-IV-Beziehende reichen insbesondere für Familien mit Kindern nicht aus und müssen auf eine neue Bemessungsgrundlage gestellt werden. Eine Anhörung von
Sachverständigen im Bundestag hat dies bereits auf Antrag der Grünen im Juni 2008 offen gelegt.“
Unverdrossen und kaltblütig nehme die Bundesregierung in Kauf, so Stregmann-Kuhn, dass die strukturelle Unterversorgung von Langzeitarbeitslosen den sozialen Sprengstoff in unserem Land vergrößere. Sie müsse sofort handeln und die Regelleistungen neu bemessen. Der Abgeordnete kritisiert weiterhin, dass die Bundesregierung bislang eine Überprüfung der Regelleistungen allenfalls im Jahr 2010 in Aussicht gestellt habe. Lächerlich gering im Vergleich zu den drastischen Preissteigerungen, insbesondere für Nahrung und Energie sei die gestern vom Bundesfinanzministerium im Existenzminimumsbericht prognostizierte Erhöhung der Regelleistungen um 1,9 Prozent in 2009 und 2,3 Prozent in 2010. Da die Regelleistungen schon lange nicht mehr Existenz sichernd sind, müssen sie mindestens um 20 Prozent auf 420 Euro erhöht werden.
Klaus Ernst, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, freut sich, dass endlich „die Erkenntnis um sich greift, dass die Hartz-IV-Regelsätze zu niedrig sind“.
Wenn die Bundesregierung eine erneute Blamage in Karlsruhe verhindern wolle, müsse sie umgehend reagieren. Dabei reiche es nicht, den Regelsatz – wie im aktuellen Existenzminimumsbericht vorgeschlagen – entsprechend der Rentenerhöhungen in den Jahren 2009 und 2010 anzupassen. „Wer den Beziehern von Arbeitslosengeld II ein menschenwürdiges Leben ermöglichen will, muss den Regelsatz sofort auf 435 Euro anheben und dann regelmäßig entsprechend der Preisentwicklung anpassen,“ erklärte Ernst weiter. Zuletzt hatten der Deutsche Kinderschutzbund und der Paritätische Wohlfahrtsverband eine deutliche Erhöhung der Leistungen für Kinder und Jugendliche gefordert.(2) Der Paritätische Wohlfahrtsverband hatte dazu eine gründliche Expertise vorgelegt. (3)
Beim Bundesverfassungsgericht wird nun die Frage anstehen, wie viel Gestaltungsspielraum der Gesetzgeber hat, wenn es um Hilfe für Bedürftige geht. In welchem Umfang können Gerichte statistische Methoden kontrollieren oder verwerfen?
(1) (AZ L 6 AS 336/07 – Der Beschluss wird unter www.rechtsprechung.hessen.de ins Internet eingestellt.)
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(2) http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/0344e19b1c0f52901.php
(3) http://www.der-paritaetische.de/uploads/tx_pdforder/Expertise_Kinderregelsatz_web.pdf