Gegen Muslime und sozial Schwache
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Eine aktuelle Studie belegt, wie das Bürgertum in der Krise verroht –
Von REDAKTION, 3. Dezember 2010 –
In der Gruppe der Besserverdienenden ist ein deutlicher Anstieg abwertender Einstellungen gegenüber verschiedenen schwachen Gruppen in der deutschen Gesellschaft zu beobachten. Rechtspopulistische Einstellungen nehmen bei den Einkommensstarken deutlich wahrnehmbar zu. Sie verbinden sich mit islamfeindlichen Haltungen und sind aggressiv aufgeladen.
So lauten die wichtigsten Zwischenergebnisse der empirischen Langzeituntersuchung „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, die ein Team um den Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer am Freitag in Berlin vorgestellt hat. Mit Heitmeyer auf dem Podium saßen seine Kollegen Beate Küpper und Andreas Zick. Der frühere Finanzminister Peer Steinbrück, der eingeladen gewesen war, die Forschungsresultate zu kommentieren, hatte dagegen kurzfristig abgesagt.
Seit 2002 führen die Forscher jährlich eine telefonische Befragung einer repräsentativen Auswahl der deutschen Bevölkerung durch. Die jüngste Untersuchung zeigt, dass die ökonomische Krisenwahrnehmung im Untersuchungszeitraum von 2009 bis 2010 deutliche „gesellschaftliche Vergiftungserscheinungen“ nach sich gezogen hat. „Insbesondere höhere Einkommensgruppen verweigern schwachen Gruppen ihre Unterstützung“, fassten die Wissenschaftler ihre Forschungsresultate zusammen: „Während sich Arme mit Hilfsbedürftigen solidarisieren ist dies in den höheren Einkommensgruppen weniger der Fall.“
Immerhin 29 Prozent der Befragten habe angegeben, dass unsere Gesellschaft zu viel Rücksicht auf „Versager“ nehme.
Die Anhänger des Prinzips der Leistungsgerechtigkeit, das in höheren Einkommensgruppen besonders häufig eingefordert wird, forcierten die Abwertung von Gruppen, denen eine geringe Leistungsbereitschaft zugesprochen werde: Langzeitarbeitslose, Migranten und Wohnungslose.
Diese Einstellungsveränderungen stellten die Wissenschaftler explizit in einen Zusammenhang mit den Sloterdijk- und Sarrazin-Debatten der vergangenen zwei Jahre. Dabei handele es sich nicht um Integrationsdebatten, wie immer behauptet werde, sondern um Desintegrationsdebatten.
Unter den Besserverdienenden zeige sich eine zunehmende Islamfeindlichkeit: „Bildung wirkt in diesem Fall der Abwertung nicht entgegen. Islamfeindlichkeit ist konsensfähig, auch bei jenen, bei denen es bisher nicht zu erwarten war.“ Zwar sei die Islamfeindlichkeit im rechten politischen Spektrum besonders ausgeprägt, doch steige sie signifikant in der politischen Mitte und sogar bei jenen Befragten, die sich selbst links von der politischen Mitte verorten.
Die Islamfeindlichkeit sei in Deutschland deutlich höher als in allen anderen westeuropäischen Ländern, auch höher als in den Niederlanden, betonten die Wissenschaftler.
Heitmeyer wies darauf hin, dass sich die Krise politisch in einer steigenden Demokratieverdrossenheit bemerkbar mache – und das trotz der Bewegung gegen Stuttgart 21 und dem auflebenden Widerstand gegen die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken.
Er stellte fest, dass Wohlhabendere zunehmend ihre eigene ungerechte Behandlung reklamieren, obwohl objektiv eine Umverteilung von unten nach oben nachweisbar ist. Er sprach von einem ungeniert geführten semantischen Klassenkampf von oben.
„Zivilisierte, tolerante, differenzierte Einstellungen in höheren Einkommensgruppen scheinen sich in unzivilisierte, intolerante – verrohte – Einstellungen zu wandeln. Es geht um die Sicherung bzw. Steigerung eigener sozialer Privilegien durch Abwertung und Desintegration volkswirtschaftlich etikettierter Nutzloser sowie um die kulturelle Abwehr durch Abwertung“ (etwa hinsichtlich der Islamfeindlichkeit). Es mehren sich Hinweise, dass sich die angebliche Liberalität höherer Einkommensgruppen in reaktionäre Einstellungen wandelt – wenn sich diese Ergebnisse zu Trends verdichten sollten“, heißt es in der von Heitmeyer und seinem Team herausgegebenen Presseinformation: „Der Aufruf zur Gründung einer Partei rechts von der CDU ist bereits gestartet, das Potenzial dazu ist ebenso vorhanden wie die schon markierten Opfer von Abwertung und Diskriminierung aus ökonomischen wie kulturell entwickelten Gründen. Eine solche Partei scheint eher unwahrscheinlich, aber eine verdeckte Bewegung, die sich nicht auf der Straße zeigt, aber in den Mentalitäten aufschaukelt, existiert längst.“
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Deutliche Kritik äußerte Heitmeyer in diesem Zusammenhang an den Medien. Erst am Donnerstag habe Peter Sloterdijk auf zwei Seiten in der Zeit hinsichtlich rechtspopulistischer Zuspitzungen wieder zugelegt. Er, Heitmeyer, verstehe die Zeitungswelt nicht mehr.
Ausführlich dargestellt und von einer Reihe von sachkundigen Autoren kommentiert werden die Ergebnisse der Studie in einem Buch, das von Heitmeyer herausgegeben wird und gerade bei Suhrkamp erschienen ist: Deutsche Zustände. Folge 9. Berlin 2010, 15 Euro.