Werbeverbot für rezeptpflichtige Arzneimittel soll verschwinden
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von JÖRG SCHAABER, 5. November 2007:
Pharmaindustrie will Patientinnen und Patienten durch Werbung informieren
– Die europäische Pharmaindustrie scheint entschlossen, das Werbeverbot für rezeptpflichtige Arzneimittel zu kippen. Das wurde jüngst auf einer Tagung in Brüssel klar. Die EU-Kommission laviert noch herum, will den Firmen aber offensichtlich den direkten Zugang zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern ermöglichen. Strategie ist es, alles was nicht direkt wie Werbung aussieht, als ‚Information’ umzudefinieren.
EU-Kommission und Pharmaindustrie ziehen an einem Strang und treiben eine Änderung der Gesetze für die Pharmawerbung voran. Dabei wird eine erstaunliche Rhetorik betrieben, die das eigentliche Ziel des Vorhabens vernebelt. Vordergründig geht es um eine Verbesserung der Information für Patienten. Doch tatsächlich wird gezielt der Weg für eine Legalisierung von Werbung, die sich direkt an pharmazeutische Laien wendet, eröffnet. Einzig die „Qualität der Information“ soll zählen, nicht aber deren Quelle. Denn die Industrie habe ein Recht, über ihre Produkte zu „informieren“. EU-Kommission und Industrie wehren sich gegen den Begriff der „unbeeinflußten Information“, der die Industrie als informierenden Patientenratgeber weiter ausschließen würde. Nach den verbindlichen Richtlinien der EU muß sogar Werbung – egal ob sie sich an Ärzte oder Patienten richtet – hohen Qualitätsanforderungen genügen.
Was schreibt die EU bisher für die Pharmawerbung vor?
Die folgenden Artikel sind Auszüge aus der Richtlinie 2001/83/EG, die zuletzt durch die Richtlinie 2004/27/EG geändert wurde:
„Artikel 87
(2) Alle Elemente der Arzneimittelwerbung müssen mit den Angaben in der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels vereinbar sein.
(3) Die Arzneimittelwerbung
– muß einen zweckmäßigen Einsatz des Arzneimittels fördern, indem sie seine Eigenschaften objektiv und ohne Übertreibung darstellt;
– darf nicht irreführend sein.
Artikel 88
(1) Die Mitgliedstaaten verbieten die Öffentlichkeitswerbung für Arzneimittel, die
– gemäß Titel VI nur auf ärztliche Verschreibung abgegeben werden dürfen“
Die Praxis sieht anders aus
Die Werbepraxis zeigt, wie wenig das funktioniert. Auf einer Konferenz von Health Action International (HAI) am 12. Oktober 2007 in Brüssel wurde der Sprecher des europäischen Pharmaindustrieverbandes EFPIA erfrischend deutlich: Wenn es denn notwendig sei, müsse man den Artikel 88 eben einfach ändern, damit die Industrie die Verbraucherinnen und Verbraucher direkt ansprechen könne, so Industriesprecher Dr. Scott Ratzan. Artikel 88 der EU-Richtlinie 2001/83/EG untersagt ausdrücklich an pharmazeutische Laien gerichtete Werbung für rezeptpflichtige Medikamente.
Dr. Ratzan sagte deutlich, daß die Industrie über ihre Medikamente unter Nennung des Markennamens „selbst informieren“ wolle. Diese Art von „Information“ sei keine Werbung. Überhaupt wollte er unter Werbung nur aktives Marketing beim Patienten verstehen (sog. Push-Marketing). Wenn sich Patienten (durch was auch immer angeregt) selbst an den Hersteller wendeten, so sei das, was der Hersteller dann kommuniziere, keine Werbung. Dummerweise nennt man das in der Werbesprache aber Pull-Marketing, sprich: Marketing, also Werbung.
Fachleute sind gegen neue Werberichtlinien
HAI hatte unterschiedlichste Fachleute eingeladen, über die Problematik beeinflußter Information zu berichten. Es wurde deutlich, daß es bereits heute eine Unmenge von irreführender ‚Information’ und versteckter Werbung gibt, an der die Pharmaindustrie wesentlich beteiligt ist.
Nicola White von der British Medical Association betonte, daß informierte Patienten wichtig für den Therapieerfolg seien. „Es ist aber unabdingbar, daß solche Informationen von unabhängigen kompetenten Quellen stammen und frei von kommerziellem Einfluß sind. […] Die Ressourcen im Gesundheitswesen sind begrenzt und ihr Einsatz muß vom medizinischen Wissen und nicht von raffinierter Werbung entschieden werden. Das Primat des Dialogs zwischen Ärzten und Patienten muß gesichert werden und vor dem potentiell schädlichen Einfluß der Desinformation geschützt werden.“
Irreführung ist die Regel
Die BUKO-Pharma-Kampagne dokumentierte in den letzten Jahren zahlreiche Beispiele für die Irreführung von Ärzten und Patienten durch die Industrie. Im Jahre 2003 schockierte etwa der Pharma-Konzern Pfizer in Frankreich und Kanada mit dem Bild einer Leiche die Öffentlichkeit (siehe Titelbild). Am Zeh hing ein Etikett: Männlich, Alter 47 Jahre, gestorben an Herzinfarkt. Der Slogan der Werbung: „Was hätten Sie lieber, einen Cholesterintest oder eine Obduktion?“ Das empfohlene Rezept: Gegen Herzinfarkt einen Cholesterin-Senker schlucken. Es gibt aber überhaupt keine überzeugenden Belege, daß – anders als bei bereits vorhandener Herzerkrankung – bei gesunden Erwachsenen die Einnahme eines Statins, also eines Mittels zur Senkung des Cholesterinspiegels, Todesfälle verhindern kann. Selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) war alarmiert und schrieb „die verbreitete Information enthält irreführende Aussagen und Auslassungen, die voraussichtlich unnötigen Medikamentengebrauch und vermeidbare Risiken auslösen wird.“ Die WHO forderte die Behörden und Krankenversicherungen auf, entschieden gegen solche Kampagnen einzuschreiten und selbst für gute, seriöse Informationen zu sorgen. (6)
Das „Recht auf Informationsfreiheit“ der Industrie
Auch wenn Dr. Ratzan auf der erwähnten Konferenz von Health Action International (HAI) nicht müde wurde zu betonen, daß man keine Fernseh- und Zeitschriftenwerbung im US-Stil anstrebe, reagierte er ablehnend auf die Aufforderung, die US-Webseiten der Firmen für Internetnutzer aus anderen Ländern zu sperren. Nachdem er zunächst behauptete, das sei technisch nicht möglich, wurde er am Beispiel der US-Seiten i-tunes für Musiktitel eines Besseren belehrt: Diese Web-Seiten sind nämlich nur von den USA aus zugänglich. Dann pochte Dr. Ratzan auf das „Recht auf Informationsfreiheit“. Doch daß die Verbreitung von Werbung zu den grundlegenden Menschenrechten gehört, darf wohl bezweifelt werden.
Vorgeschobene Probleme
Besonders beklagte Dr. Ratzan, daß die Firmen den Patienten nicht einmal den Beipackzettel zur Verfügung stellen dürfen, und so den Kranken grundlegende Information vorenthalten müßten. Schon ein Blick in das aktuelle Dokument der EU-Kommission zum Thema (1) zeigt, daß die Industrie hier Krokodilstränen vergießt: In fast allen EU-Staaten sind die Beipackzettel im Internet erhältlich. Ausnahmen sind Deutschland, Österreich, Zypern und Norwegen. In dem skandinavischen Land sind dafür aber – wie in vielen anderen EU-Staaten auch – die Fachinformation für Ärzte frei zugänglich. In Irland dürfen die Hersteller selber die Beipackzettel abgeben, in Großbritannien betreiben die Firmen sogar zusätzlich zu der britischen Behörde eine eigene Webseite mit Beipackzetteln.
Darüber hinaus sind die Beipackzettel und Fachinformationen zu allen durch die EMEA zugelassenen und damit europaweit erhältlichen Medikamenten ohnehin seit Jahren in allen EU-Sprachen im Internet frei zugänglich. (2) Wem das nicht reicht, der kann sich den umfangreichen Bewertungsbericht der Behörde auf Englisch herunterladen.
Die EU-Kommission eiert herum
Der Vertreter der EU-Kommission, Christian Siebert, betonte auf der Tagung in Brüssel, die Kommission werde Werbung wie in den USA nicht zulassen. Anderer¬seits betonte er immer wieder un-geniert, es sei egal, wer die Infor¬mation verfasse. Siebert scheint mit seinem Chef, dem Industrie-Kom¬missar Günter Verheugen, die falsche Hoff¬nung zu hegen, daß die Pharmaindustrie willens und in der Lage sei, wirklich objektive Informationen anzubieten. Dabei können Firmen allein schon aus wirtschaftlichen Gründen kein Interesse an wirklich ausgewogener Information haben, da sie ja – wie sie selber bei passenden Gelegenheiten immer wieder betonen – keine Wohltätigkeitsunternehmen sind.
Werbung durch die Hintertür?
Auch wenn Christian Siebert betont hat, am Artikel 88, der bekanntlich Werbung für rezeptpflichtige Arzneimittel verbietet, nicht rütteln zu wollen, bleiben doch erhebliche Zweifel angesichts der engen Definition dessen, was die EU-Kommission als Werbung verstanden wissen will. Da gibt es nämlich auch noch den Artikel 86, der sich auf Gesundheitsinformationen bezieht. Dort wird im letzen Satz derzeit noch ausdrücklich festgehalten, daß „Informationen über die menschliche Gesundheit oder Krankheiten“ nur erlaubt sind, „sofern darin nicht, auch nicht in indirekter Weise, auf ein Arzneimittel Bezug genommen wird.“
Die Industrie hält sich an dieses Verbot sowieso immer weniger. Deshalb wäre eine Umformulierung oder Streichung des Satzes eine für die Pharma-Industrie eine elegante Lösung, um den direkten Werbe-Zugang der Pharmaindustrie zu den Patienten zu legalisieren, ohne den Artikel 88 ändern zu müssen.
Demokratiedefizite
Eine wichtige Rolle in der Meinungsbildung der EU-Kommission spielt das Pharmaceutical Forum. Dieses Gremium ist einseitig zusammengesetzt und die Industrie stellt die Hälfte der Vertreter. (3) Auf diese Kritik erwiderte Siebert, es seien ja auch Krankenversicherer, Berufsverbände und eine Patientengruppe vertreten. Schließlich säßen einschließlich der Vertreter der EU-Mitgliedsstaaten rund 40 Leute am Tisch und die hätten schon genug unterschiedliche Meinungen. Würde man noch mehr gesellschaftliche Gruppen mit einbeziehen, käme man ja zu gar keinem Ergebnis mehr.
Ein merkwürdiges Verständnis von Demokratie, wenn man nur manchen Interessengruppen argumentativen Einfluß gewährt. Bedenkt man, daß die Patientengruppe dieses Gremiums eher der Industrieseite zuzurechnen (4) ist, läßt sich die Kommission überwiegend von Vertretern kommerzieller Interessen beraten.
Ende dieses Jahres will die EU-Kommission einen Zwischenbericht über ihre Bemühungen im Pharmabereich vorlegen. Gut informierte Kreise rechnen für Mitte 2008 mit einem Gesetzesvorschlag aus Brüssel.
Es kommt jetzt darauf an, eine breite öffentliche Debatte über die Wichtigkeit seriöser und objektiver Information für alle Patientinnen und Patienten zu führen, und dabei den Begriff Werbung vom Begriff Information eindeutig zu unterscheiden. Problem ist nicht, daß es keine guten unabhängigen Informationen zu Arzneimitteln gäbe (5), sondern vielmehr, daß es so viel schlechte, irreführende und eben häufig industriegesteuerte ‚Informationen’ gibt. Patientinnen und Patienten – und damit alle Menschen – vor solchen Pseudo-Informationen der Pharma-Industrie zu schützen, würde sich lohnen.
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(1) European Commission, Enterprise and Industry Directorate-General Draft report on current practice with regard to provision of information to patients on medicinal products in accordance with Article 88a of Directive 2001/83/EC, as amended by Directive 2004/27/EC on the Community code relating to medicinal products for human use. Brussels, 19 April 2007
(2) http://emea.europa.eu/htms/human/epar/eparintro.htm
(3) Mitglieder des Pharmaceutical Forum sind:
– European Federation of Pharmaceutical Industries & Associations
– European Generic medicines Association
– European Self-Medication Industry
– European Association for Bioindustries (EuropaBio)
– European Association of Full-Line Wholesalers
– European Patients Forum
– Standing Committee of European Doctors
– Pharmaceutical Group of the European Union (community pharmacists)
– Association Internationale de la Mutualité
– European Social Insurance Platform.
(4) Mit Macht zu mehr Marketing. Pharma-Brief 7-8/2006, S. 1
(5) Relevant health information for empowered citizens. Joint Declaration of HAI Europe, ISDB,AIM, BEUC, Medicines in Europe Forum 3 October 2006 www.isdbweb.org/pag/documents/relevant_health_information_000.pdf
(6) Quick et al. Ensuring ethical drug Promotion – whose responsibility? The Lancet 30 August 2003 p 747