Reformen

Die Wirtschaft wächst – die Mittelschicht schrumpft

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Von SEBASTIAN RANGE, 27. August 2015 –

Laut offiziellen Zahlen war die Arbeitslosenquote in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren nie so niedrig wie heute. Für 2015 wird mit einer neuen Rekordbeschäftigung gerechnet. Fast 43 Millionen Menschen werden nach Einschätzung der Bundesregierung in diesem Jahr in Deutschland erwerbstätig sein.

Dennoch ist die Mittelschicht in den vergangenen zwanzig Jahren deutlich geschrumpft, wie nun eine Studie – „Die Mittelschicht in Deutschland unter Druck“  – des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen feststellt. (1)

Nach ihrem Markteinkommen bemessen hat sich die Zahl der Haushalte mit mittlerem Einkommen von 56 Prozent im Jahr 1992 auf 48 Prozent im Jahr 2013 erheblich verringert. Gleichzeitig stieg der Anteil der Unterschicht um fünf Prozentpunkte auf  34,7. Die Verteilung „ist somit ungleicher geworden und hat sich durch die Ausdünnung der Mitte und den Zuwachs an den Rändern zunehmend polarisiert“, heißt es in der Studie.

Dank staatlicher Umverteilung – also Steuern, Sozialabgaben und Sozialtransfers – liegt der Anteil der mittleren Einkommensgruppen auf Basis des verfügbaren Einkommens zwar mit insgesamt 77,8 Prozent um fast dreißig Prozentpunkte über dem Anteil, der sich aus dem Markteinkommen ergibt, doch auch in der sogenannten Sekundärverteilung „schrumpfte der Anteil der Mittelschichten von 83 Prozent im Jahre 2000 auf 78 Prozent im Jahre 2013.“

Demnach habe der Wohlfahrtsstaat die wachsende Ungleichheit in der primären Einkommensverteilung „zu einem großen Teil, aber nicht vollständig“ auffangen können. Dieser Rückgang könne mit der „Expansion des Niedriglohnsektors und prekärer Beschäftigungsformen“ erklärt werden.

Die Zahlen zeigen, dass immer mehr Menschen nicht von ihrer Arbeit leben können. Entsprechend wächst die Bedeutung staatlicher Zahlungen für die unteren Schichten. „In der Unterschicht entfällt gerade einmal ein gutes Drittel der Einkünfte auf Markteinkommen, die gerade in dieser Gruppe überwiegend aus Erwerbstätigkeit stammen.“ Auch in der unteren Mittelschicht sind es nur wenig mehr als die Hälfte. Damit sank der Anteil eigener Markteinkommen am gesamten Einkommen in der Unterschicht in den letzten zwanzig Jahren um knapp acht und in der unteren Mittelschicht um knapp vier Prozent.

Verursacht wurde diese Entwicklung durch eine Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Schon Mitte der 1990er Jahre arbeiteten nur rund 60 Prozent der Angehörigen der Unterschicht in Vollzeit. „Im Zeitverlauf ging der Anteil der Vollzeitbeschäftigten in der Unterschicht um rund 20 Prozentpunkte auf rund 42 Prozent in den Jahren 2011 bis 2013 zurück.“ Auch in der unteren Mittelschicht ließ sich im selben Zeitraum ein starker Rückgang um rund 17 Prozentpunkte auf knapp 60 Prozent verzeichnen – fast zehn Prozentpunkte unter dem Wert der Gesamtwirtschaft.

Die „starke Ausweitung von Minijobs und Teilzeitstellen“ ist laut des Instituts dafür verantwortlich, dass immer weniger Menschen von ihren Erwerbseinkünften leben können.

Hinzu kommt ein sich verschlechterndes Lohnniveau in den unteren Schichten. Mittlerweile arbeiten zwei von drei Beschäftigten aus der Unterschicht im Niedriglohnsektor. Auch in der unteren Mittelschicht ist das Niedriglohnrisiko von gut 35 Prozent auf knapp 46 Prozent deutlich angestiegen und liegt damit „weit über dem Durchschnitt“, bilanziert die Studie.

Die im Jahr 2003 unter Rot-Grün eingeführte Agenda 2010 („Hartz IV“) hat sich damit als massives Lohnsenkungsprogramm erwiesen und zu einem wachsenden Auseinanderspreizen der „sozialen Schere“ geführt. Das Institut Arbeit und Qualifikation stellt fest: „Seit Mitte der 1990er Jahre ist die Einkommensungleichheit in Deutschland stärker als in vielen anderen europäischen Ländern gestiegen.“

Was die im sogenannten Gini-Koeffizient ausgedrückte Vermögensungleichheit betrifft, ist Deutschland schon seit Jahren Spitzenreiter innerhalb der Eurozone. Die Agenda 2010 hat diesbezüglich ganze Arbeit geleistet: Besaßen Arbeitslose im Jahr 2002 im Schnitt noch rund 30 000 Euro Vermögen, schmolz der Betrag binnen zehn Jahren auf rund 18 000 Euro zusammen.

Gerade angesichts der im europäischen Maßstab außergewöhnlich guten hiesigen Beschäftigungsentwicklung im letzten Jahrzehnt sei die weitere Polarisierung der Markteinkommen „besonders besorgniserregend“, heißt es im Fazit der Mittelschichts-Studie. „Wenn der Sozialstaat schon in guten Zeiten so stark vom Ausgleich ungleicher Markteinkommen beansprucht wird, besteht die Gefahr, dass er in Krisenzeiten überfordert ist.“

Einen Grund für die Misere sieht die Studie in dem Überangebot an gering Qualifizierten. „Unser Bildungssystem hält nicht Schritt mit der steigenden Nachfrage nach Fachkräften und ‚produziert‘ stattdessen am Markt vorbei zu viele Jugendliche ohne Berufsabschluss, die dann nur sporadisch oder in Teilzeit beschäftigt werden.“

Wie dringend die geforderte Steigerung der Investitionen in (Aus-)Bildung geboten wäre, verdeutlichen aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Demnach lag im vergangenen Jahr die Armutsgefährdungsquote für gering qualifizierte Personen ab 25 Jahren mit 30,8 Prozent exakt doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung – und wuchs seit 2005 um fast acht Prozent. (2)

Keine Investitionen trotz voller Kassen

Angesicht voller Staatkassen stünden die Mittel für Investitionen in eine Bildungsoffensive bereit: Laut Statistischem Bundesamt hat der deutsche Staat  im ersten Halbjahr 2015 einen Rekordüberschuss von 21,1 Milliarden Euro eingenommen – so viel wie noch nie in einer ersten Jahreshälfte.

Forderungen aus den Reihen der Linken und der Grünen, diese Gelder in die auch von Wirtschaftsverbänden seit Jahren beklagte marode Infrastruktur, oder in Schulen und Kitas zu investieren, erteilten CDU-Politiker bereits eine Absage.

Während der stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Michael Fuchs vor neuen Ausgaben warnt, hält es der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung der Union, Carsten Linnemann, für die „beste Zukunftsinvestition“, die zusätzlichen Einnahmen in die Schuldentilgung fließen zu lassen.

Die „Schwarze Null“ im Haushalt geht der Union über alles, auch wenn es eine ökonomische Binsenweisheit ist, dass sich dem Staat in Zeiten niedriger Zinsen eine buchstäblich günstige Gelegenheit bietet, massive Investitionen zu tätigen. Die davon ausgehenden wirtschaftlichen Impulse bescheren dem Fiskus höhere Einnahmen, aus denen dann die neuen Schulden getilgt werden können – jedoch zu einem vergleichsweise niedrigen Zinssatz.

Immerhin spricht der Unions-Politiker aus, dass es sich nur um die halbe Wahrheit handelt, wenn das Statistische Bundesamt den „robusten Arbeitsmarkt und die günstige Konjunkturentwicklung“ für den Rekordüberschuss verantwortlich macht: „Die derzeitigen Überschüsse sind nicht nur aus eigener Kraftanstrengung entstanden. Sie sind unter anderem auf ein niedriges Zinsniveau zurückzuführen, das politisch motiviert ist. Dadurch spart allein der Bund jährlich weit mehr als 20 Milliarden Euro ein“, so Linnemann gegenüber der Welt. (3)

Das Springerblatt illustriert die Aussage mit einem Rechenbeispiel: „2008 musste der Finanzminister für den Schuldendienst durchschnittliche Zinsen von 4,14 Prozent berechnen. Das entsprach damals 43 Milliarden Euro. Heute liegen die Zinsen im Schnitt bei 2,19 Prozent. Die deutsche Finanzagentur geht von einer Zinslast von 24 Milliarden Euro aus“ – und das, obwohl die Staatsverschuldung seit 2008 um rund eine halbe Billion Euro gestiegen ist.

Dass der Haushaltsüberschuss weniger Finanzminister Schäubles Sparkünsten zu verdanken ist, sondern seine vielmehr eine Folge der Schuldenkrise in den südeuropäischen Staaten, stellte eine vor zwei Wochen veröffentlichte Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle fest.

Selbst bei einem kompletten Zahlungsausfall Griechenlands sei der deutsche Fiskus demnach Gewinner der Schuldenkrise, da er von 2010 bis heute aufgrund der durch die Krise gesunkenen Zinslasten mehr als 100 Milliarden Euro gespart habe – und damit deutlich mehr, als die rund 90 Milliarden Euro, die Griechenland Deutschland direkt und indirekt zum Beispiel über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) schuldet. (4)

Die deutsche Exportindustrie profitiert ohnehin vom Euro, da die Gemeinschaftswährung ihr einen Wettbewerbsvorteil durch eine „künstliche“ Verbilligung der Warenpreise verschafft.

Was das Arbeitsheer an gering Qualifizierten und den von Wirtschaftsverbänden vielbeschworenen Fachkräftemangel betrifft, so mag man sich im Bundeskanzleramt und den Konzernchefetagen die zynisch- kalkulierende Frage stellen: Wozu in die teure Ausbildung von Fachkräften investieren, wenn sich derzeit Millionen von ihnen auf den Weg nach Europa machen, da ihre Heimatländer – Irak, Syrien, Libyen…  – von der „westlichen Wertegemeinschaft“ und ihren Verbündeten in den letzten Jahren ins Chaos gestürzt wurden, und sie dazu noch bereit sind, zu niedrigeren Löhnen als die einheimischen Fachkräfte zu arbeiten? Durch die Mitnahme eines solchen „Spareffektes“, durch den die Ausbildungskosten hierzulande gesenkt werden können, bleibt auch das hiesige Überangebot an gering Qualifizierten bestehen, wodurch der Niedriglohnsektor stabilisiert wird – welcher schließlich einer der wichtigsten Erfolgssäulen der deutschen Exportindustrie ist.   

Vorbei sind jedenfalls die Zeiten, in denen laut der Mittelschichts-Studie „alle politischen Parteien“ den „Ausbau des Wohlfahrtsstaates als attraktive Alternative“ zur in Osteuropa bestehenden sozialistischen Systemkonkurrenz förderten. Eine am Wohlstand teilhabende breite Mittelschicht galt als Beweis für die Überlegenheit des kapitalistischen Gesellschaftmodells in Form einer sozialen Marktwirtschaft. Die Erosion der Mittelschicht ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass dieser Beweis nicht mehr angetreten werden muss – die real-existierende Marktwirtschaft ist wieder „frei“. Sozial war gestern.

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Anmerkungen
(1) Die Studie zählt diejenigen Haushalte zur Unterschicht, die über weniger als sechzig Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Zur Mittelschicht werden alle Haushalte gezählt, die mindestens über mehr als sechzig und höchstens über nicht mehr als zweihundert Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Da eine so breite Definition die Gefahr birgt, dass Einkommensverschiebungen innerhalb der Mittelschicht übersehen werden, die von ähnlicher oder sogar noch größerer Bedeutung sein können als Verschiebungen zwischen den drei Einkommensgruppen, wurde die Mittelschicht in drei Untergruppen unterteilt: 1. Untere Mittelschicht (zwischen 60 und 80 Prozent des mittleren Einkommens  2. Mittlere Mittelschicht ( zwischen 80 und 120 Prozent des mittleren Einkommens) 3. Obere Mittelschicht (zwischen 120 und 200 Prozent des mittleren Einkommens).
Die Studie ist nachzulesen unter: http://www.iaq.uni-due.de/iaq-report/2015/report2015-04.pdf
(2) https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2015/08/PD15_311_228.html;jsessionid=D290A1363AD192AD9941008970E66EA5.cae3
(3) www.welt.de/politik/deutschland/article145642425/Wohin-mit-Schaeubles-zusaetzlichen-Milliarden.html
(4) http://www.iwh-halle.de/d/publik/presse/30-15.pdf

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