Zwischen Aufbruch und Gefahr
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Die Kurden Syriens wollen Demokratie und Selbstbestimmung. Einfach ist das unter den derzeitigen Bedingungen nicht –
Von THOMAS EIPELDAUER, 30. Juli 2013 –
Der „Aufbau der Demokratischen Autonomie schreitet voran“, konnte das kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad mit Blick auf Syrien kürzlich vermelden. „Demokratische Autonomie“, das meint ein Konzept, das die kurdische Befreiungsbewegung und hier maßgeblich der auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierte Abdullah Öcalan in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Anzustreben sei, so Öcalan, ein „System der demokratischen Selbstorganisierung der Gesellschaft mit konföderalem Charakter“. Dieses Projekt baue auf der „kommunalen Selbstverwaltung auf, die sich in Form von Bürgerversammlungen, Kommunen, Gemeinden, Kommunalparlamenten und Volkskongressen organisiert“. (1)
Man kann durchaus sagen, dass die einzige, der oppositionellen Bewegungen in Syrien, die tatsächlich eine demokratische Umgestaltung anstrebt, die kurdische ist. Ihre stärkste Partei, die Partiya Yekitîya Demokrat (PYD), verfolgt keine Strategie der ethnischen oder religiösen Spaltung, sondern will Autonomie und den Aufbau basisdemokratischer Strukturen.
Wie weit dieser Prozess bereits gediehen ist, zeigt eine Fotoreportage der Tageszeitung junge Welt aus dem 50 Kilometer von Aleppo entfernten Afrin. Während ersteres von den Kämpfen zwischen FSA und Armee schwer in Mitleidenschaft gezogen ist, sieht man in Afrin „ein gänzlich anderes Leben“. Hier kontrolliert der militärische Arm der PYD, die Volksverteidigungseinheiten YPG, die Zugänge zur Stadt und hält bewaffnete Konflikte draußen. „Nachdem sich Polizei und Armee aus der Region zurückzogen, genießen die Bewohner ein ungekanntes Ausmaß an Freiheit. In den Schulen wird Kurdisch unterrichtet. Im Rathaus hängen Öcalan-Porträts neben Gedenkbannern für gefallene kurdische Kämpfer. Die Straßen sind voller Menschen. Der Zuzug von mehr als 100 000 Flüchtlingen aus allen Teilen des Landes verdoppelte die Einwohnerzahl. Die Integration scheint reibungslos zu funktionieren. Flüchtlinge sind in Wohnungen untergebracht, können regulär arbeiten, und ihre Kinder besuchen Schulen.“ (2)
Dass das die westliche Wertegemeinschaft, die auf die Freie Syrische Armee (FSA) und die islamistischen Milizen bei der Bekämpfung der Regierung von Baschar Al-Assad setzt, so wenig interessiert, liegt möglicherweise daran, dass die Kurden weder an einem US-Marionettenregime, noch an der Zerschlagung und Aufsplitterung Syriens interessiert sind. „Wir glauben an ein demokratisches Modell für ganz Syrien. Die Demokratie ist die politische Lösung für Syriens Probleme. Wir wollen Syrien nicht spalten, wir glauben daran, als Brüder in einem demokratischen Syrien leben zu können”, erklärte Asya Muhammed Abdullah, die Vizevorsitzende der PYD, im Juni 2013. (3) Immer wieder wird den Kurden Assad-nähe vorgeworfen, weil sie sich nicht an Angriffen auf die Armee beteiligen, anstatt dieses Vorgehen und den Aufbau sowie Schutz demokratischer Strukturen als das wertzuschätzen, was es ist: besonnen und überlegt.
Allerdings findet der Aufbau demokratischer Strukturen in Westkurdistan (dem syrischen Teil Kurdistans) nicht ohne Widerstände statt. Immer wieder kommt es zu militärischen Auseiandersetzungen zwischen kurdischen und islamistischen Milizen. Immer wieder kommt es an der türkisch-syrischen Grenze zu Gefechten mit der Al-Qaida nahestehenden Al-Nusra-Front und anderen radikalislamischen Gruppen, die von der Türkei hofiert und unterstützt werden. Al-Nusra kämpft dabei, wie bei der aus Fanatikern bestehenden Gruppe üblich, nicht allein gegen die YPG-Einheiten, sondern terrorisiert die gesamte Bevölkerung. So entführte sie am 20. Juli etwa 500 Kurden aus Til Ebyad und hielt sie als Geiseln. Nach Kämpfen können sich die Islamisten über die türkische Grenze zurückziehen, ihre Verwundeten wurden in türkischen Krankenhäusern behandelt und die türkische Armee half auch beim Beschuss kurdischer Stellungen. Doch die YPG konnte sich behaupten: „Die kurdischen Kämpfer fügten den islamistischen Angreifern, die Hunderte Zivilisten als Geiseln nahmen, schwere Verluste zu und übernahmen die Kontrolle über die Grenzstadt Serekaniye (Ras Al-Ain)“, berichtet der Journalist und Publizist Nick Brauns. (5)
Nachdem die PYD Mitte Juli angekündigt hatte, die kurdischen Gebiete in Syrien unter eine eigene Verwaltung stellen zu wollen, scheint sich zumindest teilweise ein Umdenken bei der türkischen Regierung anzukündigen. Die türkische Regierung lud PYD-Vorsitzenden Salih Muslim zu Gesprächen, es kam unter anderem zu einem Treffen mit dem türkischen Außenminister Ahmet Davutoğlu. In der türkischen Tageszeitung Radikal fasst Muslim die Ergebnisse zusammen. Seiner Einschätzung nach waren die „Gespräche sehr positiv“, es gebe eine „Veränderung der Politik in der Türkei“. Was die türkische Unterstützung der Al-Nusra betrifft, fasst der PYD-Vorsitzende zusammen: „Wie sie wissen, gibt es anhaltende Gefechte mit der Al-Nusra. Auch darüber haben wir gesprochen. Sie [die türkischen Staatsvertreter] erklärten uns gegenüber: ‘Die Nusra ist nicht nur euer Feind, sondern der Feind des gesamten Mittleren Osten und auch unser Feind.’ Wir haben ihnen geantwortet, dass ‘die Nusra über euren Norden auf unser Seite kommt’. Sie versprachen, Maßnahmen dagegen zu treffen. Abwarten.“ (6)
Eine vorläufige kurdische Zivilverwaltung in Syrien will die Türkei akzeptieren, ist zudem aus Medienberichten zu erfahren. Abgesehen von der Frage, warum die Zivilverwaltung einer Region in Syrien von der Anerkennung durch die Türkei abhängig sein soll, sind derartige Versprechungen mit Vorsicht zu genießen. Wie der gegenwärtig laufende Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Arbeiterpartei PKK zeigt, bewegt sich die Regierung nur sehr langsam bis gar nicht. Während die PKK ihre Zusagen einhielt, waren bisher von der türkischen Seite keine realen Schritte zu beobachten, was Sprecher der kurdischen Bewegung mittlerweile auch dazu veranlasst, den Friedensprozess durchaus kritisch zu bewerten.
Abgesehen davon, ob die türkische Regierung zumindest im Hinblick auf die syrischen Kurden einen Strategiewechsel vollzieht, bleibt die Gefahr der Vereinnahmung. Die militärischen und politischen Erfolge der syrischen Regierungstruppen gegen die FSA und Al-Nusra in den vergangenen Monaten könnte auch den Westen zu einem Strategiewechsel nötigen. „Die Kurden könnten helfen, einen Kurswechsel im Krieg in Syrien herbeizuführen“, titelt Voice of America, der offizielle staatliche Auslandssender der USA. Und tatsächlich könnte die NATO-Kriegskoalition versuchen, die Autonomiebestrebungen der Kurden zu nutzen, um Syrien entlang konfessioneller und ethnischer Grenzen in unterschiedliche Staaten aufzuspalten und so als Regionalmacht auszuschalten. Zwar entspricht das nicht den Interessen der PYD, aber einige Äußerungen kurdischer Sprecher dokumentieren zumindest eine gewisse Naivität hinsichtlich dieser Bedrohung.
Selahattin Demirtaş, der Vorsitzende der kurdischen Partei BDP, kommentierte Voice of America zufolge den Besuch Salih Muslims mit den Worten: „Saleh Muslims Besuch in Istanbul ist ein konkretes Anzeichen dafür, dass die Türkei ihre Politik ändert, die Kurden immer nur als Bedrohung sieht. (…) Das wird nicht nur die türkisch-kurdischen Beziehungen verändern, sondern auch den Gang der Dinge in Syrien, da es den Druck auf das Regime erhöht.“ Und weiter: „Die Kurden können in Syrien effektiv sein und wir brauchen mehr Unterstützung für sie. Die Länder des Westens, auch die Vereinigten Staaten, sollten geeignete Verbindungen mit den Kurden Syriens aufbauen.“ Ob engere Verbindungen zu jenen Staaten, die gerade in dieser Region nie etwas anderes als imperialistische Machtpolitik verfolgt haben, dem Demokratisierungsprozess in Kurdistan allerdings tatsächlich nutzen, kann mit Recht bezweifelt werden. Denn ein demokratischer Naher Osten, in dem die Völker der Region selbst über ihre Geschicke entscheiden, liegt wohl kaum im Interesse Washingtons oder Ankaras.
Abo oder Einzelheft hier bestellen
Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.
Anmerkungen
(1)Abdullah Öcalan: Krieg und Frieden in Kurdistan, International Initiative Edition, Köln 2012, S. 34 f.
(2)http://www.jungewelt.de/2013/04-06/004.php
(3)http://www.dw.de/neues-selbstbewusstsein-der-syrischen-kurden/a-16825496
(4)http://www.diekurden.de/news/immer-noch-300-kurdische-zivilisten-in-den-handen-der-al-nusra-terroristen-1323505/
(5)http://www.jungewelt.de/2013/07-30/006.php
(6)http://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/pressekurdturk/2013/31/01.htm
(7)http://www.voanews.com/content/reu-kurds-could-help-shift-course-of-war-in-syria/1712197.html