Zweite Befreiung - Lateinamerika löst sich von der Dominanz der Industriestaaten
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Von HARALD NEUBER, 17. März 2009 –
Lateinamerika befindet sich im Aufbruch. Galt das links regierte Kuba noch vor einem Jahrzehnt als Exot in der regionalen Staatengemeinschaft, als Überbleibsel aus dem Kalten Krieg, hat inzwischen ein halbes Dutzend Länder südlich der USA einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ zur Leitlinie ihrer Politik erklärt. Angeführt wird diese Bewegung von Venezuela, Bolivien und Ecuador. Was ihren Sozialismus von dem gescheiterten Vorgängersystem in Europa unterscheiden soll, ist zwar erst in groben Zügen geklärt. Auch bestehen in seiner Auslegung durch die verschiedenen Staaten zum Teil erhebliche Unterschiede. Doch eines eint die neue Linke in Südamerika sogar mit den sozialdemokratischen und liberalen Führungen der Region: die Ablehnung des ultraliberalen Wirtschaftsmodells, das ihnen von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank über Jahrzehnte hinweg aufgezwungen wurde. Politisch und wirtschaftlich will Lateinamerika souverän sein. Das Wort der „zweiten Befreiung“ macht die Runde. Die erste wurde gegen die spanischen Kolonisatoren durchgesetzt – vor rund 200 Jahren.
In den USA und Europa trifft das neue Selbstbewusstsein südlich des Rio Bravo auf ein geteiltes Echo. Während die Linke auch in Deutschland das Geschehen in Lateinamerika mit wachsender Sympathie verfolgt, reagieren konservative Kreise mit alten Feindbildern. „Durch staatszentralistische Maßnahmen werden die Ressourcen der venezolanischen Bevölkerung für die eigenen populistischen Zwecke des Staatspräsidenten Chávez missbraucht“, beklagte die Unionspolitikerin Anette Hübinger noch Anfang Juni 2008 im Bundestag.[1] Der Sozialdemokrat Ditmar Staffelt kritisierte mit Blick auf Venezuela, dass dort „freie Gewerkschaften und auch freie Medien in ihrer Arbeit behindert“ würden.[2] Die Verfechter der lateinamerikanischen Linken lassen sich jedoch nicht beirren. Die Regierungen in Venezuela und Bolivien erhielten von der Bevölkerung Unterstützung, um „endlich die desaströsen Folgen des Neoliberalismus zu überwinden“, sagte die Bundestagsabgeordnete der Linken, Monika Knoche.[3] Von ihrer Parteigenossin Cornelia Hirsch stammt die pointierte Äußerung, sie hoffe, dass „etwas von der revolutionären Kraft Lateinamerikas auch hier ankommt“.[4]
Auf beiden Seiten wird die Debatte von positiven und negativen Vorurteilen bestimmt. Sozialismus – dieses Reizwort lenkt oft von einem sachlichen Blick auf das politische Geschehen in Lateinamerika ab. Unbeachtet bleibt dadurch oft, dass die dortigen linken Projekte auf eine sehr unterschiedliche Geschichte zurückblicken. Vor allem aber wird außer Acht gelassen, dass es der Neoliberalismus war, der die soziale Krise in Lateinamerika verursacht und zu einem Zusammenbruch der alten politischen Machtsysteme geführt hat.[5] Die linken Führungen sind wie Phönix aus der Asche gestiegen. Und sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie weder eine Rückkehr der alten neoliberalen Ordnung noch der Herrschaft der prowestlichen Oligarchien zulassen werden.
Venezuela: Arme und Armee
Bestes Beispiel dafür ist Venezuela. Unter direktem Einfluss Washingtons hatten dort Sozial- und Christdemokraten 1958 einen politischen Pakt mit dem Ziel geschlossen, die linken Kräfte, allen voran die Kommunistische Partei, aus dem politischen System auszuschließen. Diese „paktierte Demokratie“, von der Politologen heute sprechen, führte zu einer Phase innenpolitischer Gewalt, die die venezolanische Gesellschaft bis heute nicht überwunden hat.[6] Zehntausende Menschen verloren im Kampf zwischen einer von der KP Venezuela unterstützten Guerilla und den Regierungstruppen ihr Leben. Die Ausgrenzung der Linken sollte ursprünglich den Einfluss der Sowjetunion in Südamerika mindern. Als Folge der militärischen Unterdrückung entstand in Venezuela aber eine Oligarchie, die sich in Christdemokraten (COPEI) und Sozialdemokraten (AD) organisierte – zwei Parteien, die sich über Jahrzehnte hinweg die Macht zuspielten. Die politische Marginalisierung ging mit wirtschaftlicher Ausgrenzung großer Teile der Bevölkerung einher. Wiesen die Statistiken in Venezuela 1975 noch 33 Prozent der Bevölkerung als arm aus, waren es 1995 bereits 70 Prozent.[7] Die tief greifende soziale Krise hatte bereits 1989 zu einem Aufstand der Bevölkerungsmassen geführt, der sich von der Hauptstadt Caracas über das ganze Land ausbreitete.[8] Die militärische Niederschlagung der Rebellion durch den Sozialdemokraten Carlos Andres Pérez markierte den Anfang vom Ende des alten Parteiensystems. 1998 setzte sich der politische Neuling Hugo Chávez gegen die weitgehend diskreditierten Christ- und Sozialdemokraten durch. Chávez übernahm ein Land am Rand des Abgrunds. Wenige Jahre vor seinem Wahlsieg war die Inflation unter dem christdemokratischen Präsidenten Rafael Caldera auf gut 194 Prozent gestiegen.[9]
Chávez hatte eine längere politische Vorgeschichte als vielen Beobachtern zunächst klar war. Bereits 1983 hatte der ehemalige Oberstleutnant sich mit anderen Militärs und politischen Aktivisten in der klandestinen Bewegung MBR-200 (Bolivarische Revolutionsbewegung) organisiert. Erfolgreich war diese politische Arbeit vor allem nach 1989. Nachdem die Armee gegen Demonstranten eingesetzt wurde – Schätzungen gehen von bis zu 3.000 Toten aus – wuchs der Unmut in der Truppe. So gelang es Chávez nach seinem Wahlsieg 1998, eine Allianz aus Militärs und linken Gruppierungen zu schaffen. Ihr Ziel: Eine Reform des demokratischen Systems, ein Ende der neoliberalen Privatisierungspolitik, die Stärkung des Staates und Kontrolle der Schlüsselindustrien.
Die bisherige Bilanz ist beachtlich: Gut ein Dutzend Sozialprogramme wurden aufgelegt, vor allem im Bildungs- und Gesundheitswesen.[10] Rund 25.000 Ärzte aus Kuba sind an dem Ausbau dieses Nothilfesystems beteiligt. Sie mussten angeworben werden, weil venezolanische Mediziner, die fast ausschließlich aus der gehobenen Mittel- oder der Oberschicht stammen, nicht bereit waren, in den Armenvierteln Dienst zu tun.[11] Subventionierte Supermärkte gewährleisten in Venezuela die Nahrungsmittelversorgung, während die andauernde Weltwirtschaftskrise in Haiti und anderen Staaten der Region Hungerrevolten provoziert. Doch geht es der Regierung Chávez mitnichten nur um eine Umverteilung der Erdölgelder. So wurde das Genossenschaftswesen massiv gefördert, kleine und mittelständische Betriebe wurden unterstützt. Ende 2006 bestanden in Venezuela laut offiziellen Angaben 181.000 Kooperativen. Im Vergleich zu 2005 nahm ihre Zahl bis dahin um 195 Prozent zu. Bei Chávez Amtsantritt im Februar 1999 bestanden gerade einmal rund 800 dieser Gemeinschaftsbetriebe.[12]
Inzwischen wurden die Wirtschafts- und Sozialprogramme Venezuelas sogar auf das europäische Ausland ausgeweitet. In einem einzigartigen Abkommen mit dem ehemaligen Bürgermeister von London, Ken Livingstone, etwa. Die Regierung der britischen Hauptstadt half Venezuela bei städtebaulichen Projekten und bei der Reorganisierung des öffentlichen Nahverkehrs in Caracas. Venezuela lieferte im Gegenzug billigen Treibstoff an die Londoner Verkehrsbetriebe. Bis zur einseitigen Aufkündigung des Vertrags durch Livingstones rechtskonservativen Nachfolger Boris Johnson im Sommer 2008 konnten bis zu 250.000 einkommensschwache Londoner so ein eigens geschaffenes Sozialticket nutzen.[13] Die Idee des solidarischen Austauschs findet auch in anderen Bereichen Anwendung: Für die Entsendung der kubanischen Ärzte nach Venezuela liefert die Regierung Chávez täglich rund 100.000 Barrel (1 Barrel = 159 Liter) Erdöl nach Kuba. „Komplementärer Handel“ heißt das in Lateinamerika – ein Erfolgskonzept.
Besonders in den USA wird diese Politik aber mit Sorge verfolgt. Venezuela ist für die Weltmacht der größte Zulieferer von Erdöl, zuletzt wurden täglich rund 1,2 Millionen Barrel des schwarzen Goldes in die Vereinigten Staaten verschifft. Zwar ist die Abhängigkeit beidseitig – Venezuela könnte es sich nicht leisten, die Lieferungen abrupt einzustellen. Doch die Zuwendungen an Länder der Region und die Erschließung neuer internationaler Märkte wie China durch die staatliche venezolanische Erdölgesellschaft PdVSA sorgen in Washington für Unruhe.
Bolivien und Ecuador: Für sozialen Staat
Beim Blick auf Bolivien werden die politischen Parallelen zu Venezuela deutlich. Rund 80 Prozent der Bevölkerung dieses Andenstaates stammt von den Ureinwohnern ab. Doch schon eine Fahrt durch La Paz, den Regierungssitz, macht deutlich: Bolivien besteht aus zwei Staaten. In den Städten lebten die Angehörigen der meist weißen, aus Europa stammenden Oberschicht. Sie kontrolliert auch die ressourcenreichen Provinzen des Tieflandes im Osten. Die Mehrheit der Bevölkerung aber lebt in den Bergen in ärmlichen Verhältnissen. „Mit Präsident Evo Morales kam Mitte Dezember 2005 erstmals einer ihrer Vertreter an die Macht“, sagt der bolivianische Botschafter in Deutschland, Walter Prudencio Magne gegenüber Hintergrund, „und das kann die weiße Elite einfach nicht ertragen“. Ebenso wie die Staatsführung in Venezuela treten Morales und seine Bewegung zum Sozialismus für eine Neuverteilung des Reichtums des Landes ein.[14] Und ebenso wie in Venezuela im Jahr 2000 geschehen, soll in Bolivien die alte Verfassung reformiert werden, um den Zugang aller mündigen Bürger zum politischen und wirtschaftlichen System abzusichern.
Der Streit um dieses Vorhaben zieht sich nun bereits seit eineinhalb Jahren hin. Die Präfekten (Gouverneure) der östlichen Provinzen wehren sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mittel gegen eine Neuordnung des Staates, der sie ihrer Privilegien berauben würde. Mit einer deutlichen rassistischen Haltung ziehen die Anhänger der oppositionellen „Jugendunion“ gegen den indigenen Staatschef zu Felde: Hitlergruß und Hakenkreuzfahnen inklusive. Trotz aller Widerstände ist es der Regierung Morales gelungen, große Teile der für Bolivien bedeutenden Erdgasindustrie wieder unter staatliche Kontrolle zu bringen. Die Mehreinnahmen wurden für eine geringe, aber pauschale „Rente der Würde“ sowie Kindergeldzahlungen genutzt. Die Verfassungsfrage aber wird über das Schicksal des Reformprojektes entscheiden. Nach einem jüngsten Abkommen soll die Volksabstimmung über das neue Grundgesetz im Januar 2009 stattfinden. Doch solche Vereinbarungen sind von den Gegnern der Regierung in der Vergangenheit schon öfter über den Haufen geworfen worden.
Das dritte Land im Aufbruch heißt Ecuador. Präsident Rafael Correa kam Mitte Januar 2007 nach jahrelangen Unruhen an die Macht. Anders als Chávez und Morales war der Ökonom aber kein Neuling in der ecuadorianischen Politik. Im Jahr 2005 war er bereits für wenige Monate Finanzminister, um sein Amt dann aus Protest gegen die Einflussnahme von IWF und Weltbank niederzulegen. Der Rücktritt brachte ihm hohe Popularität ein. Die letzten führenden Politiker in dem südamerikanischen Land waren schließlich von Protestbewegungen aus den Ämtern gejagt worden, eben weil sie die Interessen von IWF und Weltbank verteidigten. Der 45-jährige Correa stammt zwar aus der Mittelschicht und vertritt damit zum Teil dieses alte Establishment. Trotzdem tritt auch er für ein Ende der Dominanz der Industriestaaten ein. Während in Venezuela die „Bolivarische Revolution“ und in Bolivien die „politische und kulturelle Revolution“ ausgerufen wurden, propagiert Correa eine „Bürgerrevolution“ mit dem Ziel, das parlamentarisch-demokratische System zu erneuern. Wie Venezuela und Bolivien setzt er sich für neue Formen der demokratischen Teilhabe ein. Die partizipative Demokratie, eine direkte Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen, soll dauerhaft verankert werden. Trotz der Widerstände der Oberschicht wurde Ende September 2008 in Ecuador eine neue Verfassung auf der Basis dieser Vorschläge von der Bevölkerung bestätigt.[15]
Auch wenn die Regierungen der drei Staaten – Venezuela, Bolivien und Ecuador – eine unterschiedliche Vorgeschichte sowie politische und kulturelle Prägung haben, sind Parallelen auszumachen. Alle drei Staatsführungen genießen die weitgehende Unterstützung sozialer Bewegungen. Im Falle Boliviens ist die Regierung sogar aus diesen Bewegungen hervorgegangen. Gemeinsam ist auch die Orientierung auf eine neue staatliche Sozialpolitik und die Kontrolle über die Ressourcen. Und schließlich ziehen die Staaten der neuen lateinamerikanischen Linken eine regionale Zusammenarbeit der Kooperation mit Industriestaaten vor. Davon profitiert vor allem auch Kuba, das zum 50. Jahrestag seiner Revolution im Januar 2009 wieder integraler Bestandteil der lateinamerikanischen Gemeinschaft ist. Spannend ist vor diesem Hintergrund nicht nur die Geschichte, sondern gerade auch die Perspektive. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist bislang nur ein politisches Schlagwort.[16] Die kommenden Jahre werden zeigen, ob daraus eine kohärente Theorie entsteht, die es schafft, die neoliberale Dominanz zu durchbrechen.
Fakten werden geschaffen
Unterstützt werden könnte ein solcher Trend durch konkrete Entwicklungsprojekte, die in den vergangenen Jahren vor allem auf Initiative Venezuelas forciert wurden. Bekanntestes Beispiel ist die Bolivarische Alternative für Amerika (ALBA).[17] Ende 2005 wurde dieses Staatenbündnis als Gegenpol zu der US-dominierten Gesamtamerikanischen Freihandelszone (ALCA) von Hugo Chávez und dem damaligen kubanischen Staats- und Regierungschef Fidel Castro ins Leben gerufen.[18] Erklärtes Ziel sind solidarische Handelsbeziehungen, bei denen jeder Beteiligte die ihm zu Verfügung stehenden Ressourcen einbringt. Weil Venezuela vor allem Erdöl beisteuerte, brachte dies der Regierung in Caracas den Vorwurf ein, sich über die günstigen Energielieferungen politischen Einfluss zu erkaufen. Doch auch andere Staaten folgten dem Beispiel. Inzwischen sind der ALBA Bolivien, Nicaragua, Honduras und der kleine Karibikstaat Dominica beigetreten. Ecuador prüft eine Teilnahme.
Im Rahmen der Bolivarischen Alternative wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche weitere Initiativen ins Leben gerufen, die eine regionale Integrationspolitik ohne Einfluss der USA und der EU absichern sollen. Auf große Resonanz stieß die Idee einer Bank des Südens. Der Gründungsvertrag für die multinationale Entwicklungsbank wurde bereits im Dezember 2007 unterzeichnet, damals mit einem Stammkapital von umgerechnet sieben Milliarden US-Dollar. Seither sind die Mitgliedsstaaten Argentinien, Bolivien, Brasilien, Ecuador, Paraguay, Uruguay und Venezuela mehrfach zusammengekommen, um die Aufnahme der Geschäfte vorzubereiten. Zwar nimmt die Gründung des Projektes mehr Zeit in Anspruch, als zunächst geplant war. Doch beweist es auch, dass nach zwei Jahrzehnten neoliberaler Fremdbestimmung das Interesse an einer unabhängigen Entwicklungspolitik der lateinamerikanischen Staaten weit über die Grenzen Boliviens, Ecuadors und Venezuelas hinausreicht.
Besonders Venezuela versucht, die regionale Integrationspolitik international abzusichern. Schon bei einem Besuch in Deutschland im Juli 2000 verwies Chávez auf die Notwendigkeit einer multipolaren Weltordnung. „Wir glauben nicht an eine bipolare Welt oder gar an die Herrschaft einer einzigen Großmacht. Viele Menschen haben in den vergangenen Jahrzehnten gegen eine solche Zentralisierung von Macht in ganz unterschiedlichen Bereichen – auch in der Wirtschaft – gekämpft. Wir sehen unsere Politik in dieser Tradition“, sagte Chávez damals in einem Interview.[19] Seither hat Venezuela vor allem mit Russland und China Abkommen unterzeichnet. Aber auch Iran zählt zu den engen Alliierten Caracas´ – wirtschaftlich und, etwa in der Organisation der Vereinten Nationen, auch politisch. Auch wenn diese Bündnisse von Sympathisanten Venezuelas im europäischen Ausland oft kritisch beäugt wurden, haben sie erreicht, dass die Regierung in Caracas gegen Druckmittel aus den USA unempfindlicher ist. Ein Waffenembargo Washingtons gegen Venezuela blieb weitgehend ohne Ergebnisse. Die Geschäfte wurden seither mit Moskau abgewickelt. Vor allem aber auf zivilem, wirtschaftlichem Gebiet wird die Zusammenarbeit ausgebaut. In Mischunternehmen mit Iran werden in Venezuela Traktoren für neue Landwirtschaftsbetriebe gebaut, Industriefahrzeuge stammen aus Belarus, Computer werden mit Hilfe chinesischer Unternehmen im Land gebaut.
USA und EU kritisch
Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union verfolgen die Entwicklung in Lateinamerika mit großen Vorbehalten. Unter dem scheidenden US-Präsidenten George W. Bush wurde eine harte Linie gegen die linken Staaten Lateinamerikas durchgesetzt: Die seit 1962 bestehende Wirtschaftsblockade gegen Kuba wurde verschärft, Sanktionen gegen Venezuela und Bolivien durchgesetzt. Mit dem fortschreitenden Integrationsprozess im Süden des amerikanischen Kontinentes sind solche Maßnahmen aber auch auf mehr Widerstand getroffen. Am 11. September 2008 erklärte Bolivien den US-Botschafter Philip Goldberg zur unerwünschten Person. Goldberg, der in den 1990er Jahren in diplomatischer Mission die Sezession von Bosnien unterstützt hatte, hatte zuvor engen Kontakt mit der rechtsgerichteten Opposition in dem Andenstaat gehalten.[20] Nach der Ausweisung des Botschafters strichen die USA Handelsvorteile für Bolivien. Zu Venezuela ist das Verhältnis Washingtons dagegen schon lange auf einem permanenten Tiefpunkt, seit die USA einen Putschversuch gegen die Regierung Chávez im April 2002 unterstützt hatten.
Die Europäische Union geht vorsichtiger vor. Auch in Brüssel aber stößt die Politik der neuen Linken in Lateinamerika auf Ablehnung. Seit Jahren versucht die EU, neoliberale Handelsabkommen mit den Staaten Mittel- und Südamerikas durchzusetzen. Der Linksruck und die zunehmenden Alternativen durch die regionale Integration machen den Brüsseler Wirtschaftsstrategen nun einen Strich durch die Rechnung. Entgegen offizieller Beteuerungen, man wolle mit regionalen Bündnissen wie der Andengemeinschaft nur en block verhandeln, ist die EU längst zu bilateralen Gesprächen mit einzelnen nach wie vor wirtschaftsliberal ausgerichteten Staatsführungen übergegangen. Solche Verhandlungen werden derzeit mit Kolumbien und Peru geführt.
Ob diese Versuche erfolgreich sind, ist vor allem in Zeiten der globalen Finanzkrise äußerst zweifelhaft. Aufgrund ihrer Abschottung gegen neoliberale Institutionen wie IWF und Weltbank scheinen die links regierten Staaten Lateinamerikas weniger anfällig gegen die Krise zu sein. Venezuela kommt zugute, dass es die hohen Erdölpreise der vergangenen Jahre genutzt hat, um seine Schulden bei IWF und Weltbank weitgehend auszugleichen. In der Folge haben diese US-dominierten Institutionen kaum mehr Einfluss auf die venezolanische Haushaltspolitik. Zudem sind die Liquiditätsreserven Venezuelas mit gut 40 Milliarden US-Dollar so hoch wie nie.
Im Gespräch mit Hintergrund gestand zwar auch der venezolanische Außenminister Nicolás Maduro ein, „dass der Süden noch keine Antworten auf diese Krise hat“. Der venezolanische Chefdiplomat sprach Ende Oktober 2008 auf einer Konferenz von Linksparteien und Gewerkschaften in Paris über die aktuelle Situation der Weltwirtschaft.[21] „Die Industriestaaten haben uns den Neoliberalismus als das perfekte Modell zu verkaufen versucht“, sagte er, „dabei ging es ihnen nur darum, sich zu Lasten unserer Länder zu bereichern“. Wie auch der ehemalige portugiesische Präsident Mario Soares bekräftigte Maduro die Tragweite der Geschehnisse. Beide Politiker erklärten, die Welt befinde sich „inmitten einer zivilisatorischen Krise“. Schon jetzt könne man aber sagen, „dass das Bretton-Woods-System tot ist“. Dieses System bezeichnet die seit Ende des Zweiten Weltkriegs gültige Orientierung an dem US-Dollar als internationale Leitwährung. Konsequenterweise forderte Maduro in Paris ein, den US-Dollar durch eine andere Währung zu ersetzen.
Im Gespräch mit Hintergrund zeigte sich Maduro auch davon überzeugt, dass die andauernde Finanzkrise Auswirkungen auf die internationale Politik haben wird. Sowohl IWF als auch die Weltbank und der Sicherheitsrat hätten beim Management der Krise versagt, beklagte er. „Es ist deswegen an der Zeit, dass neue Gremien entstehen, um das Zepter in die Hand zu nehmen“. Anzeichen dafür gebe es bereits: China, Indien, Russland und Lateinamerika hätten in den vergangenen Jahren zu neuer Stärke gefunden: „Das zeigt, dass sich die internationalen Machtblöcke neu formieren.“
Dieser Artikel erschien zuerst in Heft 1/2009 "Hintergrund – Das Nachrichtenmagazin".
Quellen und Anmerkungen
[1] Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht der 149. Sitzung der 16. Wahlperiode, 7. März 2008. Im Internet unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/16/16149.pdf (30.10.2008)
[2] Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht der 166. Sitzung der 16. Wahlperiode, 5. Juni 2008. Im Internet unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/16/16166.pdf (30.10.2008)
[3] Die Rede findet sich im Internet auf der Seite der Abgeordneten: http://www.linksfraktion.de/rede.php?artikel=1306431076 (30.10.2008)
[4] Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht der 149. Sitzung der 16. Wahlperiode, 7. März 2008. Im Internet unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/16/16149.pdf (30.10.2008)
[5] Marapacuto, Eduardo J.: AD y COPEI: "De aquellos polvos, estos lodos". In: Analitica.com, 10.10.2002. Im Internet: http://www.analitica.com/va/politica/opinion/4051008.asp (30.10.2008)
[6] Zur Begriffserklärung der paktierten Demokratie: http://de.wikipedia.org/wiki/Paktierte_Demokratie (30.10.2008)
[7] Riutort, Matias: El Costo de Eradicar la Pobreza. In: Un Mal Posible de Superar, Band 1, UCAB, 1999.
[8] Ein ausführlicher Beitrag über den Aufstand in spanischer Sprache findet sich hier: http://www.angelfire.com/nb/17m/prohibidoolvidar/27f.html (30.10.2008)
[9] Neuber, Harald: Die vergessenen 194,3 Prozent. In: Onlinemagazin Telepolis, 23.06.2007. Im Internet unter: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/25/25525/1.html (30.10.2008)
[10] Eine Übersicht bietet das deutschsprachige Portal amerika21.de: http://www.amerika21.de/fakten/soziales
[11] Bevor das Abkommen zwischen Caracas und Havanna getroffen wurde, auf dessen Basis die kubanischen Ärzte nach Venezuela kamen, hatte sich Präsident Chávez in einem öffentlichen Appell an die venezolanische Ärzteschaft gewendet, in den Barrios tätig zu werden. Es meldeten sich einige Dutzend Mediziner.
[12] http://www.amerika21.de/hintergrund/2007/bildet-2-3-tausende-kooperativen (30.10.2008)
[13] Siehe: http://amerika21.de/nachrichten/inhalt/2008/mai/Venezuela-Sozialticket (30.10.2008)
[14] Die Bewegung zum Sozialismus im Internet: http://www.masbolivia.org (30.10.2008)
[15] Der österreichische Standard berichtete über das Referendum: http://derstandard.at/?url=/?id=1224256027367
[16] Geprägt wurde der Begriff maßgeblich von den deutsch-mexikanischen Soziologen Heinz Dieterich.
[17] Die ALBA im Internet: http://www.alternativabolivariana.org (30.10.2008)
[18] Internetpräsenz der ALCA-Freihandelszone: http://www.ftaa-alca.org (30.10.2008)
[19] Neuber, Harald: „Wir haben die Idee einer multipolaren Weltordnung“ – Ein Gespräch mit Hugo Chávez. In: Tageszeitung junge Welt, 29.07.2000.
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[20] Goldberg war von 1994 bis 1996 als Assistent des damaligen US-Botschafters in Bosnien, Richard Holbrooke, aktiv. Später wurde er als Vertreter Washingtons in die südserbische Provinz Kosovo entsandt. Nach diesen Einsätzen trat er sein Amt als Botschafter in Bolivien an, wo die separatistischen Strömungen daraufhin an Stärke gewannen.
[21] Ein Bericht über die Konferenz in Paris findet sich auf dem Lateinamerika-Portal amerika21.de: http://amerika21.de/nachrichten/inhalt/2008/okt/gemeinsam-gegen-die-krise (30.10.2008)