„Wir hätten schon auf der Krim angreifen müssen“
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Der Maidan drängt auf eine harte Gangart gegen Russland –
Von SUSANN WITT-STAHL, Kiew, 6. Mai 2014 –
Der Maidan hat abgerüstet in den vergangenen Wochen. Kämpfer mit Helmen, Sturmhauben, ballistischen Westen, Schilden, Schlag- oder gar Schusswaffen sind kaum mehr zu sehen. Die Besetzer wissen schon lange, dass sie hier in Kiew die (vorläufigen) Sieger sind. Janukowitschs Polizeiapparat ist zerschlagen, und es droht keine Gefahr mehr. Daher beschränken sich die Pro-Maidan-Aktivisten auf legere Tarnkleidung und nationalistische Symbole, um ihre Macht zu demonstrieren.
Kiewer Frühling: Es weht ein laues Sommerlüftchen, aber das politische Stimmungsbarometer steht auf Sturm. Foto: Susann Witt-Stahl |
Ist der Kiewer Frühling angebrochen? Die Demilitarisierung und die entspannte, lockere, beinahe fröhliche Atmosphäre, die sich bei Sonnenschein und angenehmen Temperaturen zwischen 20 und 25 Grad einstellt, kann aber über eines nicht hinwegtäuschen: Wo ein laues Sommerlüftchen weht, steht das politische Stimmungsbarometer auf Sturm.
Daran lassen allein schon die Schlagzeilen der Kyiv Post, einer sehr einflussreichen und aggressiv prowestlichen Wochenzeitung, die einem britischen Unternehmer gehört und in englischer Sprache erscheint, keinen Zweifel. Da ist von „Kreml-Terrorismus“ die Rede. Es wird eine Enthüllung von Putins „Zehn-Punkte-Plan“ zur „Zerstörung der Ukraine“ präsentiert, und dem russischen Präsidenten wird bescheinigt, er verfolge die gleichen „imperialen Träume“ wie einst der „sowjetische Diktator“ Josef Stalin.
Die reißerische Berichterstattung korrespondiert mit der herrschenden Meinung auf dem Maidan. Die Mehrheit will die offene Konfrontation mit Russland, den Separatisten und jeglicher Opposition, die nach Unabhängigkeit von Kiew strebt und sich nur im Osten und Süden des Landes öffentlich regen kann.
Wer an der drohenden Spaltung der Ukraine schuld ist, das ist hier längst geklärt. „Hätte Putin nicht die Invasion gestartet, dann hätten wir uns längst um die Probleme im Innern kümmern können“, sagt Svetlana*, die sich an der „Revolution“ beteiligt hatte und nun große Hoffnungen in ihren Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen am 25. Mai legt: Den Schokoladen- und Medien-Titan Pjotr Poroschenko – er war schon in nahezu allen einflussreichen politischen Lagern angesiedelt, bekleidete diverse Ministerposten und positioniert sich heute radikal prowestlich –, derzeit auf Platz sieben im Ranking der ukrainischen Oligarchen liegt. Svetlanas Freundin Marina* nickt zustimmend: „Es gibt kein Zurück mehr“, sagt sie und erwartet von ihrer Regierung eine harte Gangart gegen Russland.
Die Menschen hätten Angst vor den Russen, die die öffentlichen Gebäude in der Ostukraine besetzt halten, sagt Voychuk Ivan Gavrilovich, Jurist, Mitarbeiter von Julia Timoschenkos Vaterlandspartei und Schriftsteller, gegenüber Hintergrund. „Aber wir begrüßen es sehr, dass die NATO, die EU und Deutschland uns unterstützen, und wir sind uns sicher, dass wir siegen werden.“
Musik statt Molotow-Cocktail: Maidan-Kämpfer haben abgerüstet. Foto: Susann Witt-Stahl |
Gavrilovich hofft, dass die Jazenjuk-Regierung spätestens nach dem 69. Jahrestag der Befreiung und des Sieges über Nazi-Deutschland am 9. Mai „harte militärische Maßnahmen ergreifen wird, um die Separatisten zu stoppen“. Auch „alle anderen Gruppen und Organisationen“, die pro Maidan sind, sollen sich an den Aktionen beteiligen, fordert Gavrilovich. Die Frage, ob er auch den Rechten Sektor, das Bündnis aus militanten Nationalisten und Faschisten, meint, beantwortet er ohne Zögern mit einem klaren Ja. Sie sollen „an der Seite des Militärs und mit Unterstützung der NATO und EU“ kämpfen – eine Aussage, die den Eindruck bestätigt, dass das während der Massenproteste und -gewaltausbrüche geschmiedete Bündnis des liberalen Bürgertums im Westen der Ukraine mit den militanten Nationalisten und Faschisten seit dem Umsturz am 22. Februar weiterhin besteht.
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Soll die NATO notfalls auch mit Truppen aushelfen? „Selbstverständlich. Bislang haben sie ihre Versprechen nicht eingehalten, nun müssen sie uns helfen“, meint Gavrilovich und beruft sich auf das Budapester Memorandum, mit dem die USA, Großbritannien und Russland 1994 im Rahmen einer KSZE-Konferenz der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan als Gegenleistung für deren Atomwaffenverzicht volle Souveränität innerhalb der bestehenden Grenzen zugesichert hatten.
Im Hauptquartier des Rechten Sektors, einen Steinwurf vom Maidan entfernt, sind erwartungsgemäß auch keine versöhnlichen Töne gegenüber den politischen Feinden zu vernehmen: „Der einzige Weg, den es gibt, ist ein Krieg mit Russland“, meint Nicolai, der ein mobiles Einsatzkommando der Organisation anführt. „Wir werden siegen, weil wir dieses Land, unsere Fahne, unsere Hymne lieben.“
Was momentan im Osten der Ukraine geschehe, sei „russischer Terrorismus“. Die Situation sei schwierig, weil die Regierung nicht ernsthaft für die Nation kämpfe – nicht einmal für die Befreiung der drei von russischen Separatisten festgehaltenen Mitglieder der ukrainischen Elite-Antiterroreinheit Alpha. „Ich würde töten für diese Männer, denn es sind Leute, auf die wir stolz sein sollten“, so Nicolai. Da auf die Armee kein Verlass sei, solle nur die Nationalgarde zusammen mit dem Rechten Sektor und anderen nationalistischen Organisationen in den Osten vorrücken. Es seien auch bereits bewaffnete Kämpfer des Sektors vor Ort, verkündet Nicolai mit einem triumphierenden Lächeln. „Wir hätten schon auf der Krim angreifen müssen“, ergänzt sein Kamerad Oleg. „Wir haben ihnen einen Finger gereicht, und sie haben uns den halben Arm abgeschnitten.“
Diese radikalen Positionen werden von vielen Passanten draußen auf dem Maidan geteilt. Dem „Aggressor von außen“ müsse die Stirn geboten und alle Bestrebungen der Separatisten und Föderalisten unterbunden werden, will der Timoschenko-und-Poroschenko-Anhänger Sergei*. „Unsere Regierung handelt nicht. Die Mehrheit der Leute hier ist sehr von ihr enttäuscht.“ Das gilt auch für die EU. „Sie verlangt laut der Genfer Vereinbarung, dass wir die Separatisten nicht militärisch angreifen. Aber wie sollen wir gegen sie vorgehen – sie haben moderne automatische Waffen?“, fragt Sergei.
Andere Saiten gegenüber den prorussischen Kräften möchte auch Andrew aufziehen. „Zunächst muss die Polizei und das Militär im Osten ausgetauscht werden, denn die Soldaten können nicht in einer Gegend kämpfen, wo ihre Familien leben. Und die Polizei schaut nur zu, wenn in Donezk proukrainische Demonstranten von den Separatisten verprügelt werden“, meint der junge Mann, der der Überzeugung ist, dass das „korrupte System“ noch nicht beseitigt werden konnte, weil „der Krieg mit Russland alle positiven Veränderungsprozesse einfriert“. Der Übergangsregierung traut er, wie so viele hier auf dem Maidan, nicht über den Weg. „Das sind doch Lügner“, findet Andrew, der sich wünscht, dass mehr Geld in die Bewaffnung der Soldaten investiert wird. „Die Ukraine muss ihre Grenzen verteidigen.“ Bei den Präsidentschaftswahlen – wenn sie denn überhaupt noch stattfinden – will Andrew das „kleinere Übel“ unterstützen und für den Rechten-Sektor-Chef Dmitry Yarosh stimmen. „Ich sympathisiere mit ihm, weil er auf den Wahlkampf verzichtet, um den militärischen Widerstand zu organisieren. Er tut alles, was er kann.“
* Name von der Redaktion geändert
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