„Wenn sich etwas geändert hat, dann nur durch massiven Druck von unten“
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Interview mit BAKI SELCUK, 27. Juni 2013 –
Nicht nur in der Türkei versucht die Regierung des Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan die Massenproteste, die Ende Mai nach der polizeilichen Niederschlagung einer Basisbewegung gegen ein Bauvorhaben am Istanbuler Gezi-Park begannen, mit Gewalt und Verhaftungen zu schwächen. Offenbar sekundieren nun auch die deutschen Behörden. Am gestrigen Mittwoch ließ die Bundesanwaltschaft Dutzende Wohnungen und Vereinsräumlichkeiten der Anatolischen Föderation durchsuchen, vier Menschen wurden festgenommen, ihnen wird Unterstützung der verbotenen linken Organisation DHKP-C unterstellt. Thomas Eipeldauer traf BAKI SELCUK, einen der Vorsitzenden der Konföderation der unterdrückten Immigranten in Europa (AvEG-Kon), in Berlin und sprach mit ihm über die jüngste Repressionswelle.
Seit dem Sturm auf den Taksim-Platz und den Gezi-Park scheint die Bewegung in der Türkei ja etwas abgeflaut zu sein. Mit diesem Abflauen begann eine Repressionswelle gegen linke Aktivisten. Können Sie uns ein wenig über das Ausmaß des Angriffs des Staates erzählen?
Man kann nicht sagen, dass die Bewegung abgeflaut ist. Die Massendemonstrationen auf der Straße sind zwar etwas zurückgegangen, aber es wird in anderen Formen weitergemacht. Es wird viel diskutiert, in Parks und an öffentlichen Orten. In Stadtteilen auf regionaler Ebene haben sich Foren zum Austausch gebildet. Man bespricht, wie es weitergehen soll. Man diskutiert beispielsweise auch, ob man von der Basis aus eine Art Volksräte gründen wird, die die Bewegung wieder in Schwung bringen können. Die Bewegung hat also keineswegs aufgehört.
Die Repressionswelle, die jetzt stattfindet, richtet sich hauptsächlich gegen die linken sozialistischen Kräfte, die an der Gezi-Park-Bewegung aktiv teilgenommen haben und ihr wichtige Impulse gegeben haben. Insgesamt verhaftet wurden ja im Zuge der Proteste tausende, die jüngeren Verhaftungen während der Stürmungen von Parteibüros, Zeitungsredaktionen, Wohnungen und Radiosendern liegen etwa bei 150 bis 200. Am stärksten ist hier die Sozialistische Partei der Unterdrückten (ESP) betroffen, aber auch andere Organisationen bis hin zu Fußballfangemeinschaften stehen im Fokus. Die meisten wurden in Istanbul verhaftet, aber auch in anderen Städten gibt es Festnahmen, etwa in Izmir, in Adana, Ankara, Erzincan. Es ist damit zu rechnen, dass die Repressionswelle sich fortsetzt, denn die AKP-Regierung möchte mit allen Mitteln verhindern, dass es erneut zu einem Aufschwung der Bewegung kommt.
Es gibt ja zwei verschiedene „Arten“ von Verhaftungen: Diejenigen, die während der Prozesse zu tausenden mitgenommen, geschlagen und wieder freigelassen wurden, und die gezielten Verhaftungen jetzt. Steht in Aussicht, dass die gezielt verhafteten Personen auch schnell wieder freikommen?
Wir gehen davon aus, dass letztere länger inhaftiert sein werden. Die Verfahren gegen die ESP-Gefangenen sind nicht öffentlich. Es ist Geheimhaltung angeordnet worden, so dass die Anwälte auch nicht erfahren können, was ihren Mandaten eigentlich genau vorgeworfen wird. Das ist schon ein Zeichen dafür, dass es überhaupt erst in Monaten oder einem Jahr Gerichtsverhandlungen geben wird. Bis jetzt ist völlig unklar, wie die Vorwürfe lauten, zwar wird irgendeine Verbindung zu verbotenen Organisationen hergestellt, aber etwas Konkretes liegt nicht vor.
Wie sieht die Strategie aus, um mit diesen Verhaftungswellen umzugehen?
Die Bewegung geht in die Offensive. Wenn es Festnahmen gibt, wird auch massiv dagegen protestiert, teilweise auch vor den Polizeikasernen oder den Gerichtsgebäuden. Allerdings sind es nicht mehr die Massen, wie etwa am Taksim, die hier demonstrieren, sondern es handelt sich um die organisierten Kräfte. Auch in den öffentlichen Foren wird darüber diskutiert, welche Strategie man gegen die Repression wählen soll, aber hier steht ein endgültiges Ergebnis noch aus.
Angesichts dieses Angriffs auf die Bewegung ist internationale Solidarität sehr wichtig, wir werden in Kürze eine internationale Kampagne starten. Denn es ist so, dass etwa die gesamte Infrastruktur der fortschrittlichen Nachrichtenagentur ETHA zerstört wurde, sodass sie unter sehr schweren Bedingungen arbeiten muss. Der Zeitung Atilim wurde das gesamte Archiv gestohlen, auch technische Geräte wurden zerstört, sie kann derzeit nur durch die solidarische Unterstützung einer anderen Zeitung, Özgür gündem, erscheinen. Um diesen Medien wieder kritische Berichterstattung zu ermöglichen und die Freilassung der Inhaftierten, darunter auch Journalisten, zu erreichen, werden wir eine internationale Kampagne starten.
Gestern gab es ja eine Pressemitteilung der deutschen Bundesanwaltschaft, dass es Hausdurchsuchungen in Düsseldorf, Hamburg und Köln gegeben hat, vier türkische Aktivisten wurden festgenommen. Ist damit zu rechnen, dass nun auch die türkischen Aktivisten im Exil stärker verfolgt werden?
Das kann man durchaus erwarten. Denn obwohl die deutsche Bundesregierung beispielsweise Verständnis für die Bewegung äußerte, stand die deutsche Politik doch immer an der Seite der türkischen Regierung. Immer wenn die Türkei gegen bestimmte Organisationen vorgegangen ist, ist man auch hier gegen sie vorgegangen. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Regierungen der europäischen Länder nicht wirklich für die Demokratisierungsbewegung stehen, sondern die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen im Vordergrund stehen. In Wirklichkeit möchte man nicht, dass eine oppositionelle Bewegung in der Türkei Veränderungen voranbringt, sondern höchstens, dass die Regierung von oben über Gesetzesänderungen oder Ähnliches etwas verändert. Allerdings wissen wir aus der Geschichte der Türkei, dass das gar nichts bringt. Wenn sich etwas geändert hat, dann nur durch den massiven Druck von unten.
Gibt es – jenseits von den verbalen und auch offensichtlich nicht sehr ernst gemeinten Distanzierungen der USA und der EU von Erdogan – internationalen Druck auf die AKP-Regierung, etwa von NGOs?
Amnesty International hat Stellung bezogen und eine Kampagne gegen die Polizeigewalt gestartet. Insgesamt kommt von den NGOs eher weniger, was es aber gibt, sind Solidaritätsdemonstrationen und Protestaktionen in verschiedenen Ländern. Basisbewegungen haben Erklärungen verabschiedet, dass sie sich mit dem Widerstand im Gezi-Park und am Taksim solidarisieren und dass sie gegen die Verhaftungen protestieren. Damit ist auch weiterhin zu rechnen, diese Aktionen werden verstärkt weitergehen.
Sie haben vorhin angesprochen, dass die Bewegung nicht schwächer wird, aber ihre Formen verändert, sich verlagert, zum Beispiel in Stadtteilräte. Wie kann eine Langzeitperspektive der Proteste aussehen?
Die Langzeitperspektive hat zum einen mit den in Kurdistan zur Zeit laufenden Gesprächen zur Kurdenfrage zu tun. Die demokratischen Rechte der Kurden müssen anerkannt werden. Im türkischen Teil muss auch auf jene Impulse in Richtung mehr demokratische Rechte gesetzt werden. Der Gezi-Park-Widerstand wird das bleibende Resultat haben, dass solche Aktionsformen in Zukunft sicherlich häufiger und stärker vorkommen werden. Selbst wenn die Bewegung jetzt etwas ruhiger wird, aber die Veränderungen im Bewusstsein der Menschen, in ihrem Selbstvertrauen werden bleiben. Dieses Unterdrückungsregime wird langfristig nicht bestehen können.
Auch die Regierung hat das gesehen. Der Bürgermeister von Istanbul meinte, er werde in Zukunft bei allen Projekten, selbst wenn er eine Bushaltestelle errichten möchte, das Volk befragen. Das ist ein Zeichen, dass auch die Herrschenden damit rechnen, dass das Volk sich nicht mehr alles gefallen lassen wird.
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Der kurdische Friedensprozess, den Sie erwähnt haben, befindet sich ja derzeit auch in einer Phase der Stagnation. Die Führung der kurdischen Partei BDP und der PKK-Kommandant Murat Karayilan haben ihre Unzufriedenheit mit dem Prozess zum Ausdruck gebracht, die türkische Regierung hat bislang keine Forderungen der kurdischen Bewegungen erfüllt …
Wir haben immer gesagt, dieser Prozess kann nur vorangebracht werden, wenn er durch Massenbewegungen unterstützt wird. Das war in den letzten Monaten nicht der Fall. Es gab Ende Mai in Ankara, Mitte Juni in Diyarbakir Konferenzen zu Demokratisierung und Friedensprozess, am kommenden Wochenende wird es eine weitere in Brüssel geben. Dort wurde auch diskutiert, wie der Prozess vorangebracht werden kann. Was fehlt ist die Massenbewegung, sollte sie ausbleiben, wird die Regierung sich keinen Millimeter bewegen. Ziel der Regierung ist es, die PKK aufzulösen und die kurdische Bewegung zu schwächen. Das, denke ich, werden auch die Kurden mittlerweile eingesehen haben, indem sie beobachten konnten, dass sich in der sogenannten 1. Phase des Friedensprozesses nicht sehr viel getan hat. Es war ja in dieser Phase nicht nur der Abzug der bewaffneten Kräfte vorgesehen, sondern die Regierung hatte auch Forderungen zu erfüllen, was sie aber nicht getan hat. In der 2. Phase nun wird, wenn es zu einer Massenbewegung kommt, die Regierung gezwungen sein, sich zu bewegen. Die kurdische Bewegung hat sehr viel Erfahrung auch in solchen Situationen.