Wenn die Lebenden auf die Toten warten
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Beinahe zwei Wochen befand sich die kurdische Stadt Silvan im Südosten der Türkei im Belagerungszustand. Polizei und Armee patroullierten durch die Straßen, eine Ausgangssperre wurde verhängt –
Von INGA LÄUTER, 16. November 2015 –
In der Dunkelheit erreicht Ali Atalan Silvan. Der Abgeordnete der linken kurdischen Partei HDP begibt sich auf direktem Weg ins Rathaus. Dort, im vierten Stock hat sich eine Art Krisenstab zusammengefunden. Viel zu tun, außer Warten, gibt es allerdings nicht. „Sie versuchen jeden Tag, die Blockade zu durchbrechen, aber bisher erfolglos“, erzählt Atalan. Moralische Stärkung für die Zivilbevölkerung und Öffentlichkeitsarbeit, das ist im moment alles, was hier getan werden kann.
Im Hintergrund laufen pausenlos Nachrichten über den Bildschirm. Die HDP-Abgeordnete für Diyarbakir, Çaglar Demirel, gibt ein Telefoninterview für einen kurdischen Sender. Sie hat sich dafür auf einen der beiden Balkone im obersten Stockwerk des Rathauses zurückgezogen und spricht mit aufgeregter Stimme in den Hörer. Jederzeit könnte das Mobilfunknetz wieder unterbrochen sein.
Von hier aus kann man erahnen, wo die drei Stadtviertel Mescit, Konak und Tekel liegen, die seit nunmehr knapp zwei Wochen von türkischer Polizei und Armee abgeriegelt sind und unter Beschuss stehen: Es ist der Teil der Stadt, der im Dunkeln liegt. Bereits zum sechsten mal in diesem Jahr hat die Staatsmacht Strom, Wasser und Kommunikationsnetze abgeschaltet. Rund 5000 Bürger seien betroffen, schätzt Demirel. Auch Nahrungsmittel und Wasser, erzählt sie, würden nicht durchgelassen. Immer wieder durchdringen Schüsse das Dunkel. Eine rote Leuchtrakete zieht einen Streifen vor dem schwarzen Hintergrund. Am nächsten Morgen sind auf den umliegenden Hügeln Panzer zu erkennen.
Politik für die Bevölkerung in Zeiten des permanenten Ausnahmezustands: HDP-Abgeordnete Caglar Demirel und Ali Atalan |
Atalan hat die Nacht beim stellvertretenden Bürgermeister der Stadt, Kerem Canpolat, verbracht. Viel Schlaf allerdings soll er nicht bekommen. Gegen ein Uhr klingelt es an der Tür. Zuhal Tekiner, die Bürgermeisterin von Silvan hat einen anonymen Anruf erhalten. Ein Mann liege verletzt nahe der Grenze des abgeriegelten Stadtteils. Gemeinsam fahren Atalan, Bürgermeisterin und Stellvertreter zum Krankenhaus, organisieren eine Ambulanz. Aber man lässt sie nicht durch. „Die Polizisten haben uns gesagt, weder könnten sie selber den Verletzten heraus holen, noch ein Krankenwagen hinein. Aus Sicherheitsgründen. Wir könnten aber selbst hinein gehen. Am nächsten Morgen fand man seine Leiche.“ Die wiederum wurde bereits morgens um halb acht in eine staatliche Autopsiestelle in Diyarbakir gebracht. Nun warten die Menschen in Silvan auf die Rückkehr seiner sterblichen Überreste, um sie zum Friedhof zu geleiten wie es der Islam vorsieht. Er soll an zwei Schüssen in Brust und Seite verstorben sein, sagt Tekiner.
Stunden vergehen, die Atalan zwischen Rathaus und HDP-Büro verbingt. Immer wieder heißt es, gleich komme ein Konvoi von Autos mit dem Verstorbenen aus Diyarbakir. Dann wieder warten. Schließlich beschließen einige des Krisenstabes, dem Leichenzug entgegen zu fahren. Kurz nachdem sie Silvan hinter sich gelassen haben, wird klar, dass noch immer niemand auf dem Weg ist. Die beiden Wagen wenden, um in die Stadt zurück zu fahren. Aber vor dem Stadtschild warten bereits ein gepanzerter Polizeiwagen und einige Männer in Zivil. Sie tragen Gewehre und beginnen mit den Insassen des ersten Autos eine Debatte. Atalan zeigt seinen Parlamentsausweis, doch auch das beschleunigt hier nichts.
Vor seinem Wagen wird weiter diskutiert. Schließlich steigt er aus, wird von einem der Männer aufgefordert, sich auszuweisen. Aber Atalan bleibt gelassen, fordert sein Gegenüber ebenfalls auf, sich auszuweisen. Ein anderer holt eine Videokamera, beginnt, die Szenerie und die einzelnen Personen aufzunehmen. Kein ungewöhnliches Bild bei Menschenansammlungen im kurdisch dominierten Osten der Türkei. Seit längerem machen Gerüchte über eine Geheimpolizei die Runde, die direkt Ankara, mit anderen Worten, Recep Tayyip Erdogan unterstellt sein soll. Niemand aber weiß genaueres. In Diyarbakir und Silvan berichten Augenzeugen von Männern in zivil, die schwer bewaffnet in verdunkelten Autos ohne Nummernschilder unterwegs seien.
Als es endlich weiter geht sagt Atalan: „ Der konnte sich selbst nicht ausweisen, warum soll ich ihm da meine Dokumente zeigen? Er ist ein wenig in Panik geraten, darum können wir jetzt weiter.“ Zurück vor dem Büro der HDP haben sich mittlerweile mehrere Dutzend Menschen eingefunden und es werden ständig mehr. Die gesamte Stadt scheint ihr Alltagsgeschäft unterbrochen zu haben, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen, ganz egal, wie lange das noch dauern mag. Aber die Verzögerungen sind eigentlich ein Verstoß gegen die islamischen Bestattungsregeln. Innerhalb eines Tages nämlich soll ein Toter begraben werden, damit der Todesengel die Seele zum Himmel geleiten kann. Verstirbt jemand am Abend oder in der Nacht, soll das Begräbnis am nächsten Morgen erfolgen. In Silvan ist es bereits Nachmittag geworden, die Dämemrung bricht langsam herein, als sich endlich der Leichenzug in Richtung Friedhof in Bewegung setzen kann. Währenddessen wird in den abgeriegelten Straßen von Silvan weiter geschossen.
Trotz allem nicht aufgeben: Trauergäste eines Begräbnisses zeigen das Victory-Zeichen |
Und schließlich, löst die Polizei auch den Trauerzug – es ist der zweite, der an diesem Tag durch Silvan zieht – mit Wasserwerfern und Tränengas auf. „Es gab keine Ausschreitungen und keine Vorwarnung von Seiten der Polizei“, sagt Atalan. Die Verzögerungen bei der Herausgabe des Verstorbenen, Tränengas, Wasserwerfer, all das sei keine Seltenheit und pure Schikane des Staates gegen die Kurden, da sind sich Atalan und seine HDP-Kollegen einig. Dass bei den militärischen Angriffen Zivilisten getötet werden, sei den Sicherheitskräften völlig egal. Von Ausgangssperren und militärischen Angriffen sind derzeit auch die Städte Cizre, Nusaybin, Yüksekova und Sur, ein Stadtteil von Diyarbakir, betroffen.
Nach dem vergangenen Mittwoch wurden in Silvan auch Hubschrauberangriffe geflogen. Ein Vertreter des Innenministeriums soll gesagt haben, man werde diese Stadtteile Silvans vond er Karte tilgen, so Ziya Pir von der HDP. Und während die Anzahl der Toten auf beiden Seiten täglich größer wird, werden die Chancen für eine Wiederaufnahme des Friedesnprozesses in der Türkei immer kleiner.
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# Fotos: Sylvio Hoffmann