Washington und Berlin fordern Flugverbotszone
Den unaufgeklärten Angriff auf einen UN-Hilfskonvoi nehmen Washington und Berlin zum Anlass, auf die Einrichtung einer Flugverbotszone in Syrien zu drängen
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Während der gegenwärtig in New York tagenden UN-Vollversammlung machen sich die Konfliktparteien gegenseitig für ein Scheitern der Waffenruhe in Syrien verantwortlich. Aufgeheizt wird die Debatte durch einen in der Nacht zu Dienstag erfolgten Angriff auf einen UN-Hilfskonvoi, bei dem über zwanzig Menschen getötet worden sein sollen.
Der aus Fahrzeugen der UN und des Syrischen Arabischen Roten Halbmondes (SARC) bestehende Konvoi war aus dem von der Regierung kontrollierten Westteil Aleppos gestartet, wo er zuvor tagelang festsaß, bevor Damaskus schließlich grünes Licht für die Weiterfahrt in die von Aufständischen kontrollierte Kleinstadt Urum al-Kubra erteilte. Nach seiner Ankunft an einem dort befindlichen SARC-Lager, wo die Hilfsgüter entladen werden sollten, erfolgte der Angriff. Bei diesem sind nach Angaben von Hilfsorganisationen 18 der insgesamt 31 Lastwagen zerstört worden.
„Alle unsere Informationen besagen eindeutig, dass dieses ein Luftangriff war, für den nur zwei Einheiten verantwortlich sein können: das syrische Regime oder die russische Regierung“, sagte der stellvertretende Sicherheitsberater von US-Präsident Barack Obama, Ben Rhodes, am Dienstagabend in New York. „Auf jeden Fall machen wir Russland für Luftangriffe in dieser Gegend verantwortlich“, sagte Rhodes.
Es werde nach einer vorläufigen Einschätzung davon ausgegangen, dass russische Kampflugzeuge den UN-Konvoi angegriffen haben, zitierte CNN dann zwei US-Regierungsvertreter, die nicht namentlich genannt wurden. „Alle Beweise, die wir haben, deuten auf diese Schlussfolgerung hin“, sagte einer der beiden dem US-Sender. Um welche Beweise es sich dabei handeln soll, wurde nicht mitgeteilt.
Das Außenamt in Moskau wies die Anschuldigungen strikt zurück. „Mit Empörung nehmen wir die Versuche (…) wahr, der russischen und der syrischen Luftwaffe die Verantwortung für den Zwischenfall zu geben“, hieß es nach Angaben der Agentur Interfax in einer Mitteilung. Für solche Anschuldigungen gebe es keine Beweise. „Das Militär wird die Vorgänge vom 19. September prüfen, um alle Details zu klären“, hieß es weiter.
Im Einklang mit den USA hat sich auch die Bundesregierung unverzüglich festgelegt, wer die Schuld an dem Angriff trägt. Kanzlerin Angela Merkel verurteilte diesen scharf. „Offensichtlich besteht aufseiten des Regimes und seiner Verbündeten kaum Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts“, ließ sie über die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer am Mittwoch verkünden.
Schuldzuweisung mit Widersprüchen
Russland hatte die Fahrt des Konvois mittels einer Aufklärungsdrohne bis zur Ankunft in Urum al-Kubra überwacht, woraufhin der Drohneneinsatz abgebrochen wurde. Entsprechendes Bildmaterial hatte das russische Verteidigungsministerium am Dienstag veröffentlicht. Damit hat sich Moskau selbst überführt – zumindest wenn man der Argumentation von Spiegel-Autor Christoph Sydow folgt, der in den Aufnahmen einen Beweis für Moskaus (Mit-)Täterschaft erkannt haben will: „Und vieles deutet auf einen gezielten Angriff durch die syrische oder russische Luftwaffe hin: Eine russische Drohne, die den Waffenstillstand in Aleppo und Umgebung überwachen sollte, filmte die Lastwagen, nachdem sie am östlichen Stadtrand von Urum al-Kubra eingetroffen waren. Der russische Staatssender RT stellte die Bilder live ins Internet. Darauf sind die Fahrzeuge deutlich zu erkennen. Das legt den Schluss nahe, dass die Angreifer ganz genau wussten, wen sie treffen.“
Diese Schlussfolgerung liegt allerdings nur demjenigen nahe, der zuvor bereits wie der Autor des zitierten Artikels den Schluss gezogen hat, dass die Verantwortlichen des Drohneneinsatzes mit den Angreifern identisch sein müssen. Wenn die russische Luftwaffe den Hilfskonvoi bombardiert hat, dann wusste sie „ganz genau“, wen sie trifft – nur müsste gerade das zunächst bewiesen werden, um eine solche Schlussfolgerung zu ziehen.
Ähnlich schwach fehlt die Begründung aus, warum die USA nicht für den Angriff verantwortlich sein können: „Für den Luftschlag kommen nur Assads Truppen und ihre russischen Verbündeten in Frage, denn die Anti-IS-Koalition der USA ist in dem Gebiet nicht aktiv – weil Urum al-Kubra und Umgebung nicht unter Kontrolle des “Islamischen Staats” (IS) stehen, das IS-Territorium liegt zig Kilometer entfernt.“
Hier wird unterschlagen, dass die US-Luftwaffe in Syrien zwar vornehmlich, aber nicht ausschließlich den IS ins Visier nimmt. Schon die ersten im September 2014 in Syrien durchgeführten Luftschläge der US-geführten Koalition waren nicht allein dem IS vorbehalten, sondern richteten sich auch gegen die Nusra-Front und ihrem Ableger, der Khorasan-Gruppe.
Im April dieses Jahres führte das US-Militär beispielsweise einen Luftschlag „gegen ein Treffen führender Al-Kaida-Mitglieder im Nordwesten Syriens durch, zahlreiche ‚Feinde‘ wurden getötet“, wie ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums erklärte – die genannten Angriffsziele lagen alle „zig Kilometer“ vom IS-Territorium entfernt.
Zum Zeitpunkt des Angriffs auf den UN-Konvoi soll Moskau zufolge eine US-Kampfdrohne vom Typ Predator das Gebiet in 3600 Meter Höhe überflogen haben, die vom Stützpunkt Incirlik in der Türkei aufgestiegen sei. Das könne mit Daten der Luftaufklärung „objektiv“ belegt werden, so das russische Verteidigungsministerium – Washington bestreitet diese Darstellung.
„Ich sage nicht, dass die USA den Konvoi bombardiert haben“, äußerte sich der Vizechef des Verteidigungsausschusses in Moskau, Franz Klinzewitsch. „Aber es ist klar, dass sie den Konvoi schamlos für einen Informationskrieg benutzen“, kritisierte er. Russlands Außenminister Sergei Lawrow drängte am Mittwoch im UN-Sicherheitsrat auf eine „eingehende und unabhängige Untersuchung“ des Vorfalls, den er als „inakzeptable Provokation“ bezeichnete.
„Ich schaue mir Möglichkeiten an, um diese und andere Gräueltaten gegen Zivilisten energisch zu untersuchen“, sagte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon am Mittwoch vor dem UN-Sicherheitsrat. Der Angriff sei eine „Schandtat“ gewesen.
Indes ist noch unklar, ob dieser überhaupt aus der Luft erfolgte. Zumindest sät Moskau Zweifel an dieser Darstellung: „Wir haben Videoaufzeichnungen geprüft und keine Anzeichen festgestellt, dass die Wagenkolonne von Munition – welcher Art auch immer – getroffen wurde. Zu sehen sind keine Bombentrichter, die Wagen weisen keine Schäden durch eine Druckwelle auf. Alles, was wir im Video gesehen haben, ist eine direkte Folge eines Brandes“, erklärte Generalmajor Igor Konaschenkow.
Aus bisher veröffentlichtem Bildmaterial lässt sich jedenfalls nicht zwingend schließen, dass der Angriff aus der Luft erfolgte – ausschließen lässt sich das jedoch auch nicht. Die UN spricht daher lediglich von einem „Angriff“. „Wir sind nicht in der Lage festzustellen, ob es sich tatsächlich um einen Luftangriff gehandelt hat“, sagte UN-Sprecher Jens Laerke am Dienstag.
Widersprüchlich sind die Angaben, wie der Luftangriff erfolgt sein soll. Hussein Badawi, der den „Syrischen Zivilschutz“ („Weißhelme“ *) in Uram al-Kubra leitet, sprach von einem Angriff durch Raketen und Hubschrauber, die „Fassbomben“ abgeworfen hätten. Die Attacke habe sich über Stunden hingezogen. Das Pentagon hingegen behauptet inzwischen, zwei russische Bomber vom Typ SU-24 hätten den Angriff geflogen, der zwei Stunden angedauert habe.
Angriff unter falscher Flagge?
Angesichts der Unmöglichkeit, die sich widersprechenden Aussagen und Vorwürfe überprüfen zu können, drängt sich dem außenstehenden Beobachter die Frage nach einem möglichen Motiv geradezu auf, um zu einer besseren Einschätzung des Sachverhalts kommen zu können. Und so stellt sich die Frage, aus welcher Absicht heraus Moskau einen UN-Hilfskonvoi angreifen sollte? Immerhin riskiert Russland in Syrien das Leben eigener Soldaten, um Transporte mit UN-Hilfsgütern zu ermöglichen.
Ein plausibles Motiv fehlt auch im Fall der syrischen Armee. Wenn diese mit dem Angriff verhindern wollte, dass der Konvoi sein Ziel erreicht, dann hätte sie ihn einfach gar nicht erst losfahren lassen müssen. Die Frage nach einem begründbaren Motiv wird von hiesigen Politikern und Leitmedien aber gar nicht erst gestellt. Moskau und Damaskus gehören ohnehin zu den Bösen, denen traut man auch zu, dass sie grundlos einen Hilfskonvoi plattbomben – und damit einmal mehr der Weltöffentlichkeit den Beweis liefern, wie bösartig sie sind.
Für die USA hingegen kommt der Angriff auf den Konvoi geradezu wie gerufen. Am Wochenende bombardierte die US-Luftwaffe Stellungen der syrischen Armee, bei der über achtzig Soldaten getötet wurden, die einen Angriff des „Islamischen Staat“ abwehren wollten. Die Schützenhilfe für die Terrormiliz ist nun kaum noch ein Thema.
Ebenso kann Washington davon ablenken, darüber hinaus maßgeblich für das Scheitern der Waffenruhe verantwortlich zu sein. Diese sah vor, dass die USA Druck auf die von ihr unterstützten „moderaten“ Rebellen ausüben, sich von den Dschihadisten der Fatah al-Sham (ehemals al-Nusra Front) zu distanzieren. Dazu ist es jedoch nicht gekommen. Der Anführer der „Armee der Eroberer“ – ein Rebellenbündnis, dem neben Fatah al-Sham auch „moderate“ Kampfgruppen angehören – verhöhnte Washington kürzlich in einem Fernsehinterview. Die nicht erfolgte Distanzierung der „Moderaten“ von Fatah al-Sham bezeichnete Abullah Muhaysani darin als „Ohrfeige“ für US-Außenminister John Kerry und „all jene, die die verschiedenen Fraktionen gegeneinander aufhetzen“ wollten.
Dass Washington aus dem Angriff auf den Hilfskonvoi Vorteile schlagen kann, ist natürlich kein Beweis für eine Täterschaft. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass Rebellen auf eigene Faust einen Angriff unter falscher Flagge durchführten – wie schon so oft im Verlaufe des Krieges.
Der Nahostexperte und Publizist Jürgen Todenhöfer (Inside IS) bezeichnete die Vorgehensweise, gezielt Zivilisten zu töten und diese anschließend als Opfer der Regierung auszugeben, als „Massaker-Marketing-Strategie“. Diese gehöre „zum Widerlichsten, was ich in kriegerischen Auseinandersetzungen jemals erlebt habe“.
Vorläufiger Höhepunkt des „Massaker-Marketings“ war der Giftgaseinsatz im August 2013 in Ghuta bei Damaskus, bei dem hunderte Menschen starben, und der beinahe eine direkte militärische Intervention der USA zur Folge gehabt hätte. „Obama ließ einen Schlag mit seegestützten Cruise Missiles planen“, heißt es diesbezüglich in einem vor drei Wochen erschienen Artikel der Welt. Eine vom britischen Nachrichtendienst vorgenommene Analyse des verwendeten Sarins habe jedoch ergeben, „dass es sich nicht um Sarin des syrischen Regimes handeln konnte“, sondern dieses „aus den Beständen von al-Nusra stammte“. „Obama jedenfalls ließ seinen Plan fallen“, so der Artikel. Eine Fülle von Indizien weist in Richtung der Assad-Gegner als Urheber des Chemiewaffeneinsatzes – entsprechende Konsequenzen seitens des Westens blieben allerdings aus.
„Ist Ihnen eigentlich nie aufgefallen, dass vier Massaker, die die Rebellen in den letzten vier Monaten der Regierung unterschieben wollten, teilweise unmittelbar vor oder während einer Sitzung des Uno-Sicherheitsrats stattfanden?“, fragte Todenhöfer seinen Kontrahenten in einem im Sommer 2012 vom Spiegel veröffentlichten Streitgespräch.
Pünktlich, so ließe sich daran anknüpfend sagen, erfolgte der Angriff auf den Hilfskonvoi zum Beginn der UN-Vollversammlung. John Kerry nutzte jedenfalls die Gunst der Stunde, um erneut auf die schon lange gewünschte Einrichtung einer Flugverbotszone über den Gebieten zu drängen, die von den Aufständischen kontrolliert werden.
Kaum hatte der US-Außenminister seine Forderung nach einem Flugverbot ausgesprochen, eilte Berlin nach: „Wenn der Waffenstillstand überhaupt noch eine Chance haben soll, führt der Weg nur über ein zeitlich begrenztes, aber vollständiges Verbot aller militärischen Flugbewegungen über Syrien – mindestens für drei, besser für sieben Tage,“ erklärte Außenminister Frank-Walter Steinmeier.
Er begründete seinen Vorschlag damit, dass mit einem solchen Flugverbot die Vereinten Nationen die Möglichkeit hätten, ihre Hilfslieferungen für die notleidenden Menschen in Syrien wieder aufzunehmen. Für eine Flugverbotszone sei es „allerhöchste Zeit“, erklärte auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen. Er forderte, dass nun auch Russland zur Verantwortung gezogen werde und solch einer Flugverbotszone zustimmen sollte.
Auch die Grünen-Politikerin Franziska Brantner unterstützt dieses Anliegen und brachte bei dieser Gelegenheit implizit den Einsatz von Bodentruppen ins Spiel: „Eine Flugverbotszone brächte wenig, wenn zwar vorübergehend nicht bombardiert würde, Hunderttausende Menschen aber weiter ausgehungert würden“, so Brantner.
Die Begründung des Außenministers hinkt jedoch: Es war nicht die syrische Armee, sondern die vom Westen unterstützten Aufständischen, die die im Waffenstillstandsabkommen vereinbarten UN-Hilfslieferungen nach Aleppo blockierten. Russlands Vizeaußenminister Sergej Rjabkow erteilte der Forderung nach einer Flugverbotszone bereits eine Absage: „Diese Initiative ist zumindest im Moment nicht umsetzbar“, sagte er am Donnerstag gegenüber Interfax. Zunächst müssten die USA und ihre Partner Druck ausüben „auf jene Kräfte, die denken, dass nur Krieg das Problem lösen kann“.
Abo oder Einzelheft hier bestellen
Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.
(mit dpa)
* Die Weißhelme sind eine eng mit den Aufständischen kooperierende Hilfsorganisation, die von westlichen Regierungen finanziert wird. Kritiker – wie jüngst chinesische Staatsmedien – werfen ihr vor, sich nicht von Terrorgruppen abzugrenzen und Propaganda für die Aufständischen zu betreiben.