Warum die Welt vom Frieden weit entfernt ist
Heute brodelt es im Balkan, in der Ukraine, in Armenien, in Nahost und in Afrika – genau an den Verwerfungslinien, die 1914 in die Katastrophe geführt haben.
Für Oswald Spengler („Untergang des Abendlandes“) begann der Erste Weltkrieg bereits 1911 mit der Besetzung marokkanischer Städte durch Frankreich, dem Angriff Italiens auf das Osmanische Reich in Tripolitanien, der Besetzung Koreas durch Japan und der von außen gesteuerten Revolution in China. Während Paris versuchte, seinen Einfluss auf Marokko unter Inkaufnahme des Bruchs des „Vertrags von Madrid“[1] (1880) auszudehnen, erhielt London dafür „freie Hand in Ägypten“. Dort war 1869 der für die See- und Kolonialmacht Großbritannien so wichtige Suezkanal eröffnet worden. Doch die Appetenzen Großbritanniens gingen über Ägypten hinaus zu den persischen Ölquellen.
Mitten im Ersten Weltkrieg, im Mai 1916, verständigten sich damals die Regierungen von Großbritannien und Frankreich im geheimen Sykes-Picot-Abkommen auf gemeinsame koloniale Ziele in Nahost. Ohne Rücksicht auf ethnische und kulturelle Strukturen wurden Grenzen gezogen (Großbritannien erhielt das heutige Jordanien, den Irak und Teile Palästinas) und die Konfliktsicherungsmechanismen der Osmanen im Nahen Osten zerstört. Das bedeutete das Ende des Friedens und war für die meisten Araber eine Katastrophe. In diesem Abkommen liegen die Wurzeln der heutigen Kriege und des heutigen Terrorismus im muslimisch-arabischen Spannungsbogen.
Der Erste Weltkrieg kannte letztlich nur Verlierer: Deutschland sowieso, aber auch Russland, Frankreich, Österreich-Ungarn, ja selbst England. Einzig die USA profitierten, besser gesagt, die Herren des Geldes und die Händler des Todes. Durch diplomatische Intrigen wurde Europa in die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts getrieben. Ziel war es unter anderem, die herrschenden Dynastien auf dem europäischen Kontinent zu vernichten: Die Romanows, die Habsburger und die Hohenzollern waren nach 1918 Geschichte. Heute sind die Nationalstaaten im Visier, denn als Garanten der Rechtsstaatlichkeit stehen sie der gewollten unipolaren Weltordnung im Weg. Heute lautet der Schlachtruf: „No Borders, no Nations.“ Nur vor diesem Hintergrund ist das geopolitische Geschehen des letzten Jahrhunderts wirklich zu begreifen.
Pakt mit dem Bösen
„Herrschaft gewinn ich, Eigentum!“[2] So motiviert der altgewordene Faust am Ende des zweiten Teils von Goethes Faust sein Kolonisationsprojekt – eine Herrschaft, die nicht vor der gewaltsamen Beseitigung der friedlichen Anwohner Philemon und Baucis zurückschreckt. In seinem weltberühmten Bühnenstück beschrieb Goethe bereits vor 215 Jahren das Industrialisierungs- und Weltkolonisierungsdrama des neuzeitlichen Menschen. Der gescheiterte Wissenschaftler Faust akzeptiert keine Grenzen mehr, ist an nichts mehr gebunden und kompensiert seine seelische Entwurzelung mit technischem Größenwahn. Dabei geht er ohne Skrupel den Pakt mit dem Bösen ein und wird, ohne es zu begreifen, dessen Werkzeug, indem er alles um sich herum mit in den Strudel seines Machtrausches zieht.
Das düstere Bild, das Goethe zeichnete, ist heute weitgehend Wirklichkeit. Wir befinden uns in einem Teufelskreis aus globaler Massenproduktion, Umweltzerstörung, Krieg und Terror, der seine Wurzeln in der europäischen Hybris des 19. Jahrhunderts hat, eines Jahrhunderts der vollständigen Kolonisierung und Technisierung der Welt.
Heute wird die Welt vor allem von Gelddynastien beherrscht, die als Kriegsgewinnler ihr Vermögen ursprünglich im US-Bürgerkrieg gemacht haben.[3] Es sind die global agierenden Profiteure, die seit mehr als 150 Jahren im Hintergrund die Fäden ziehen. Um diesen Profiteuren und Hasardeuren auf die Spur zu kommen und nicht weiter zum Opfer ihrer zerstörerischen Machenschaften zu werden, ist es notwendig, die Muster ihrer geschickt getarnten Machtspiele aufzudecken, die uns bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts die Katastrophe eines verheerenden Weltkriegs beschert haben, der mit nur kurzer Unterbrechung ab 1939 im Zweiten Weltkrieg seine Fortsetzung fand.
„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“, schrieb einst Goethes Zeitgenosse Wilhelm von Humboldt. Und Carl Friedrich von Weizsäcker schrieb 1963: „Wir werden in einem Zustand leben, der den Namen Weltfrieden verdient, oder wir werden nicht leben.“[4] Vom Weltfrieden scheinen wir heute weit entfernt zu sein.
Vorboten des Krieges
Die Vorboten eines neuen großen Krieges sind nicht zu übersehen, ob in Nordafrika, im Nahen oder Mittleren Osten, auf dem Balkan, in Osteuropa oder in Asien. Schon am 28. Oktober 2014 hat Papst Franziskus klar ausgesprochen: „Wir stecken mitten im Dritten Weltkrieg, allerdings in einem Krieg in Raten. Es gibt Wirtschaftssysteme, die, um überleben zu können, Krieg führen müssen. Also produzieren und verkaufen sie Waffen.“[5] Leider hält sich jedoch der Vatikan mit Friedensinitiativen auffallend zurück.
In der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 erklärte sich Großbritannien mit dem 1897 festgelegten Ziel des Zionismus, in Palästina eine „nationale Heimstätte“ des jüdischen Volkes zu errichten, einverstanden. Sie war von dem Zionisten Chaim Weizmann und dem britischen Unterhausabgeordneten Sir Mark Sykes (Miturheber des geheimen Sykes-Picot-Abkommens[6] vom 16. Mai 1916) unter Ignoranz der dort lebenden Parteien vorbereitet worden. Sie ging auch als „Magna Charta des jüdischen Volkes“ in die Geschichte ein.
Wie edelmütig war diese Zusage Großbritanniens? Als Balfour den Brief schrieb, war Palästina noch türkisches Gebiet und musste erst erobert werden[7].
Der deutsch-jüdische Psychologe Rolf Verleger (1951 – 2021)[8], ehemaliges Mitglied des Direktoriums des Zentralrats der Juden in Deutschland, hinterfragte die Motive des Balfour-Briefs: „Wieso gab mitten im Ersten Weltkrieg die britische Regierung eine solche Erklärung heraus? Wieso ausgerechnet in diesen aufgewühlten Zeiten? Wieso erfolgte die romantisch anmutende Ansiedlung einer ‚Heimstätte‘ kurz nach dem Attentat von Sarajewo, dem Massensterben von Verdun, den österreich-italienischen Gebirgsjägermetzeleien, den russischen Revolutionen? Dieses zeitliche Zusammentreffen wirkt zunächst ganz zufällig. Allenfalls könnte man sich einen Zusammenhang mit den russischen Revolutionen von 1917 vorstellen: Großbritannien sorgte sich vielleicht, dass die russischen Wirren zu viele Juden aus dem Zarenreich nach England treiben würden und suchte prophylaktisch eine Möglichkeit, diese loszuwerden, eben nach Palästina.“[9]
Das könnte eines von mehreren Motiven gewesen sein. Für den jüdischen Historiker Amos Elon gründete sich die britische Absichtserklärung zumindest teilweise auf den Wunsch, „die Unterstützung deutschfreundlicher amerikanischer Juden zu gewinnen“.[10]
Britische Interessen in Palästina
Viele im Deutschen Kaiserreich lebende Bürger mit jüdischen Wurzeln sahen in Kaiser Wilhelm II. ihren Schutzpatron. Das wurde anlässlich der Festlichkeiten zum 25. Regierungsjubiläum des Kaisers 1913 überdeutlich.[11] Ludwig Geiger – Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judentums – hob damals die 25 Regierungsjahre des Kaisers als eine Zeit gesegneten Friedens hervor und resümierte: „So schlingt sich zwischen dem Monarchen und dem Volke ein Band inniger Herzlichkeit. Selbst die Unzufriedenen – und deren gibt es wie jedem Monarchen gegenüber gar manche in vielen Kreisen – sehen in ihm nicht nur den Herrscher, sondern den Vater und den Führer.“[12]
Im Gegensatz zu allen anderen Mächten war das Deutsche Kaiserreich das einzige Land, das zwischen 1870 und 1913 keinen Krieg gegen andere Länder führte. Zum Zeitpunkt der Balfour-Erklärung richtete sich Großbritanniens kriegspolitischer Horizont auf die Landverbindung seiner ägyptischen Kolonie mit dem zukünftig britischen Mesopotamien.
Am 24. Juni 1920 gab Lord Curzon im britischen Oberhaus vorsichtig zu: „Wir sind in der ersten Zeit des Krieges hingegangen, um Ägypten gegen die türkische Bedrohung zu verteidigen und gewiss wäre, wenn eine feindliche Macht Palästina besetzt hielte, unsere Lage in Ägypten keineswegs sicher.“[13] Nur vier Wochen später ließ sich die Zeitung Manchester Guardian über den strategischen Wert Palästinas als das sicherste und am wenigsten kostspielige Bollwerk des Suezkanals aus.
Das Suez-Projekt erwies sich als äußerst erfolgreich: 1956 drang Israel mit Unterstützung der Briten und Franzosen in Ägypten ein, weil Ägyptens linker Präsident Gamal Abdel Nasser den Suezkanal verstaatlicht hatte. Die USA waren zu diesem Zeitpunkt noch übergangen worden. Das änderte sich aber nachhaltig nach dem Sechstagekrieg von 1967, als Israel die benachbarten arabischen Staaten angriff und einen Teil Ägyptens, den Sinai und dann auch Gaza sowie die Golanhöhen in Syrien besetzte. Letztere sind heute noch illegal besetztes syrisches Territorium. Weiter besetzte Israel das Westjordanland.
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Weiterlesen:
Dieser Artikel ist Teil eines längeren Beitrages von Wolfgang Effenberger aus Hintergrund – Das Nachrichtenmagazin 3|4 / 2024. Sie können das Heft bestellen – HIER – oder im Handel kaufen – HIER.
Quellen
[1] In dem Vertrag waren die Souveränitätsrechte des Sultans von Marokko sowie deutsche Handelskonzessionen festgeschrieben worden.
[2] Johann Wolfgang von Goethe: „Faust. Der Tragödie 2. Teil“, 4. Akt, Vers 10187.
[3] Vgl. Wolfgang Effenberger: „Die unterschätzte Macht. Von Geo- bis Biopolitik –
Plutokraten transformieren die Welt“, Höhr-Grenzhausen 2022.
[4] Vgl. Carl-Friedrich von Weizsäcker: „Die Tragweite der Wissenschaft“, Stuttgart 1964.
[5] Mette; Norbert: „Wir stecken mitten in einem Dritten Weltkrieg“ https://books.google.at/books?id=z413DwAAQBAJ&pg=PT790&lpg=PT790&dq=„Wir+stecken+mitten+im+Dritten+Weltkrieg,+allerdings+in+einem+Krieg+in+Raten.+Es+gibt+Wirtschaftssysteme,+die,+um+überleben+zu+können,+Krieg+führen+müssen.+Also+produzieren+und+verkaufen+sie+Waffen“
[6] Das geheime Sykes-Picot-Abkommen wurde 1917 von den russischen Revolutionären veröffentlicht.
[7] Bereits im Frühjahr 1916 war es mit den französischen Verbündeten zu einer konkreten Aufteilung im Nachkriegspalästina gekommen und im „Sykes-Picot-Abkommen“ fest umrissen worden. Der Nordosten Palästinas sollte (mit Ausnahme einer britischen Enklave um die Hafenstadt Haifa) unter französische Kontrolle, der Südwesten Großbritannien zufallen, während für Zentralpalästina (inklusive Jerusalem) eine internationale Kontrollzone vorgesehen war. Vgl. Mejcher 1993, S. 44. Gleichzeitig mit der Balfour-Deklaration beschloss die französische Chambres des Députés, das Parlament, eine fast gleichlautende Deklaration, die jedoch bereits von einem „Etat des Juifs“, also einem Judenstaat, sprach.
[8] Rolf Verleger: „Hundert Jahre Heimatland?“, Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2017, S. 30f; Rolf Verleger wuchs in einem religiösen jüdischen Haushalt in Ravensburg auf. Er wurde von seinem Vater, später durch einen Religionslehrer der Jüdischen Gemeinde Stuttgart und durch Selbststudium in den jüdischen Traditionen unterwiesen. Im Alter von 18 Jahren habe er sich nach eigenen Worten „vom orthodoxen Glauben verabschiedet“. Sein Bruder und seine Schwester wanderten als Jugendliche nach Israel aus.
[9] https://www.inamo.de/project/inamo-heft-79-der-1-weltkrieg-und-der-nahe-osten
[10] Elon, Amos: Zu einer anderen Zeit. Porträt der jüdisch-deutschen Epoche (1743-1933). München/Wien 2003, S. 251.
[11] Illustrierte Zeitung, Nr. 3651 vom 19. Juni 1913, S. 1598.
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[12] Allgemeine Zeitung des Judentums, 77. Jahrgang, Nr. 24 vom 13. Juni 1913, Seite 1.
[13] Zitiert nach Effenberger/Moskovitz o. a. O., S. 372 (Deutsche Israelitische Zeitung (DIZ) vom 16. November 1916, S. 2).