Vom Sturm auf die Bastille bis zum 11. September 2001
Der Aufstieg und der drohende Fall des republikanischen Zeitalters
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Als der Kalte Krieg 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer an sein Ende kam, herrschte in der westlichen Welt ein sehr optimistisches Lebensgefühl vor. Damals, so schien es zumindest, konnte man als Staatsbürger dem Glauben anhängen, in einen größeren Zusammenhang eingebunden zu sein; nämlich in einen Zusammenhang, der trotz aller administrativen Mechanik des modernen Staates doch noch ein sittliches Fundament aufwies. Natürlich gab es auch damals schon unabhängige Intellektuelle, bei denen durch das Studium etwa der Barschel-Affäre1 in Deutschland oder des Iran-Contra-Skandals2 in den USA erhebliche Zweifel an den republikanischen Grundlagen des modernen Staates aufgekommen waren. In den Büchern, in denen sie ihre Recherchen veröffentlichten, warfen sie die skeptische Frage auf, ob es nicht denkbar sei, dass unter der Oberfläche des öffentlichen Staates noch ganz andere Strukturen vorhanden sein könnten, Tiefenstrukturen der Staatlichkeit sozusagen, die jenseits des öffentlichen Selbstverständnisses und der öffentlichen Legitimation noch ganz andere Ziele verfolgten. Sollte man – so warnten damals diese Forscher – dieser Netzwerke nicht bald Herr werden, so würden sie mit der Zeit immer mächtiger werden. Schließlich könnten sie sogar dazu übergehen, die republikanische Ordnung der Nachkriegsepoche selbst zu untergraben.3 Doch Analysen dieser Art beeinflussten damals nur eine kleine Subkultur. Es war ein außerordentlich begrenzter Kreis von meist linken Aktivisten, die diese Fragen überhaupt zur Kenntnis nahmen und sich darüber beunruhigten.
Doch Geschichte vollzieht sich, indem sich viele kleine Änderungen summieren und schließlich in eine neue Beschaffenheit des Ganzen umschlagen. Irgendwann beziehungsweise irgendwo zwischen der Snowden-Affäre, der Ukraine-Krise und dem Eingreifen Russlands in den Syrienkrieg ist es zu einer Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung gekommen. Eine Aufklärungsbewegung ist entstanden, die sich dem Ziel verschrieben hat, das gestörte Verhältnis der westlichen Staaten gegenüber ihren Bürgern wiederherzustellen. Und so ist die Sorge, die in den 1980er Jahren lediglich eine kleine isolierte Gruppe von Autoren beschäftigte, nun ins grelle Licht der Öffentlichkeit gerückt: die Diskussion um den „Tiefenstaat“.
Der Tiefenstaat: Ein erkenntnistheoretisches Grundproblem
Doch was ist der Tiefenstaat? Dieser Begriff leitet sich von dem US-amerikanischen „Deep State“ her. Der Gehalt dieses Begriffes ist wiederum nicht denkbar ohne seinen Gegenbegriff „Public State“, mit dem der öffentlich sichtbare Staat bezeichnet wird. Dem öffentlich sichtbaren Staat soll – so die Theorie – ein verborgener, nicht öffentlicher und somit letztlich unsichtbarer Teil des Staates gegenüberstehen. Da im neoliberalen Zeitalter Politik von der Logik der Alternativlosigkeit bestimmt wird und Wahlversprechen nach der Wahl tatsächlich fast immer aufgegeben werden, ist in den letzten Jahren die Gegenüberstellung von „Deep State“ versus „Public State“ beziehungsweise vom öffentlichen Staat versus Tiefenstaat immer populärer geworden. Das Begriffspaar scheint zu beschreiben, was viele fühlen, aber kaum jemand zu erklären vermag. Dass nämlich im Staat Strukturen existieren, die sicherstellen, dass langfristige politische Prozesse, die sich oft über zwanzig oder dreißig Jahre erstrecken, dem zufälligen Ergebnis von Wahlen entzogen werden. Damit sind vor allem politische Prozesse gemeint, wie zum Beispiel die Osterweiterung von EU und NATO, die Neuordnung des Nahen Ostens, Bündnisbeziehungen, Freihandelsabkommen wie TTIP, um nur einige Beispiele zu nennen. Dieser Definition zufolge wäre der Tiefenstaat für die seit Jahrzehnten zu beobachtende Ohnmacht der Politiker verantwortlich. Seine Funktion bestünde darin, sicherzustellen, dass die frisch ins Amt gewählten Politiker langfristige Entwicklungsstrategien der Innen-, Außen- oder Kulturpolitik nicht infrage stellen können. Doch die Theorie vom Tiefenstaat wirft ein grundlegendes erkenntnistheoretisches Problem auf: Wie nämlich analysiert man etwas, das per Definition nicht sichtbar ist?
Dass dies jedenfalls außerordentlich schwierig ist, lässt sich bereits daran feststellen, dass nicht wenige der Bücher und Aufsätze, die sich mit dem Thema beschäftigen, schnell in einen spekulativen Kreislauf hineingeraten, also Spekulationen sich letztlich auf weiteren Spekulationen begründen. Gesetzt den Fall, es gibt jene Tiefenstrukturen der Staatlichkeit, dann bleibt als einzige objektive Untersuchungsmethode, sich auf empirische Daten zu beziehen. Doch wo soll man diese hernehmen, wenn doch der Tiefenstaat seiner eigenen Bestimmung nach nicht sichtbar ist?
Die einzige Möglichkeit, an solche Daten zu gelangen, besteht in der Analyse sogenannter Tiefenereignisse. Tiefenereignisse sind große Skandale, die die republikanische Grundordnung eines Staates erschüttern. Ereignisse wie die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht4, der Reichstagsbrand, die Ermordung John F. Kennedys, der Iran-Contra-Skandal5, die Barschel-Affäre6, das Bekanntwerden der Geheimarmee Gladio7 im Jahr 1990 in Italien oder in jüngerer Zeit die NSU-Affäre in Deutschland, um nur einige Beispiele zu nennen. Anhand dieser Skandale werden plötzlich Tiefenstrukturen der Staatlichkeit sichtbar, die dem Blick der Öffentlichkeit sonst entzogen sind. Diese Tiefenstrukturen werden erkennbar, weil entweder Hinweise aufgetaucht sind, dass sie an den erwähnten Skandalen oder Verbrechen selbst beteiligt sind, oder aber, weil sie deren Aufklärung ver- beziehungsweise behindert haben. In beiden Fällen zeigt sich eine Komplizenschaft staatlicher Strukturen mit einem Verbrechen, das die republikanische Grundlage des Staates untergräbt.
Die politische Literatur in den USA hat viele Grundlagenwerke hervorgebracht, die anhand einzelner Tiefenereignisse versuchen, diese dunkle Seite des Staates greifbar zu machen. Dabei kann gezeigt werden, dass dieselben Akteure, die eine unabhängige Untersuchung des Mordes an John F. Kennedy verhindert hatten8, später eine federführende Rolle beim Sturz von Präsident Nixon9 spielten, um dann bei der Iran-Contra-Affäre10 erneut in Erscheinung zu treten. Hier zeigen sich Machtstrukturen in der Tiefe des Staates, die mehrere Präsidenten überdauert haben und diese bei Bedarf sogar stürzen konnten.11 Anhand dieser Analysen werden auch die verschiedenen Machtzentren sichtbar, die bereits C. Wright Mills 1956 in seinem berühmten Buch The Power Elite beschrieben hat.12
Analysen dieser Art scheinen der einzige objektive Weg zu sein, den Tiefenstaat anhand empirischer Analysen zu beschreiben. Allerdings geht die Stärke einer solchen Analyse zugleich mit einer Schwäche in anderen Bereichen einher. Nämlich gerade aufgrund der Fähigkeit, ihre Aussagen empirisch zu verankern, gelangen solche Untersuchungen oft nur zu einem positivistischen Verständnis des Sachverhaltes. Sie können zwar am Ende beweisen, dass es tatsächlich so etwas wie Tiefenstrukturen der Staatlichkeit gibt; doch die Frage, was deren Existenz eigentlich zu bedeuten hat, wird auf diese Weise oft gar nicht gestellt beziehungsweise geht in der Aufzählung von Fakten und Details unter.
Dies wirft die Frage auf, ob es noch eine weitere Möglichkeit gibt, über den Tiefenstaat objektive Aussagen zu treffen. Wäre ein Forschungsansatz denkbar, der sich weder in Spekulationen verirrt noch auf eine bloße Sammlung empirischer Fakten hinausläuft? Ja, dies ist möglich, nämlich in Gestalt einer Analyse, die sich den historischen, ideengeschichtlichen und kulturellen Bedingungen widmet, unter denen sowohl der öffentliche Staat als auch ein potenzieller Tiefenstaat entstanden sind. Zwar kann eine solche Analyse nicht zwingend beweisen, dass es den Tiefenstaat tatsächlich gibt, und sie muss diese Frage den eben schon erwähnten empirischen Untersuchungen überlassen. Doch sie kann die historischen Entwicklungslinien, die ideengeschichtlichen Bezüge und die historische Dialektik aufzeigen, in die der Tiefenstaat – sollte er existieren – eingebettet wäre. Der Versuch einer solchen Analyse soll im Folgenden unternommen werden.
Das republikanische Zeitalter
Sobald heute in politischen Diskussionen der Begriff des Tiefenstaates genannt wird, ist mit ihm die Einschätzung verbunden, er sei erst in den letzten Dekaden entstanden. Doch diese Einschätzung ist wahrscheinlich falsch. Vielmehr müssen wir annehmen, dass der öffentliche Staat und der Tiefenstaat beide annähernd zur gleichen Zeit die Bühne der Geschichte betreten haben. Solange der Anspruch nicht existierte, dass Staatlichkeit der öffentlichen Kontrolle unterliegen sollte, existierte in gewisser Weise auch der Tiefenstaat nicht. Denn die öffentliche Sichtbarkeit des Staates ist erst seit relativ kurzer Zeit ein Grundmerkmal der Staatlichkeit, nämlich erst seit sich der Republikanismus als staatliches Konzept etabliert hat. Doch seit wann ist dies der Fall?
Die Vorläufer des republikanischen Zeitalters lassen sich bis in die Frühe Neuzeit zurückverfolgen. Der Amerikanischen und Französischen Revolution war die Englische Revolution von 1688/89 vorausgegangen, die sogenannte „Glorious Revolution“, die wiederum ihren Ursprung im niederländischen Aufstand gegen die Spanier hatte.13 Aus diesem Aufstand war bereits 1581 die Republik der Niederlande (auch bekannt als Republik der Sieben Vereinigten Provinzen) hervorgegangen. Die Republik der Niederlande hatte wiederum ihren Vorläufer in der Schweizer Eidgenossenschaft und der Selbstverwaltung italienischer Stadtstaaten wie Genua und Venedig während der Renaissance. Der allmähliche Anbruch des republikanischen Zeitalters setzt somit bereits in der Frühen Neuzeit ein. Allerdings war diese Entstehungsphase auch von zahlreichen niedergeschlagenen Revolutionsversuchen begleitet. Das berühmteste Beispiel ist der Deutsche Bauernkrieg von 1524/25. Aus diesem Grund kann man sagen, dass erst mit den beiden großen bürgerlichen Revolutionen in den USA 1775/76 und Frankreich 1789 der Republikanismus wirklich zu seiner eigentlichen Entfaltung gelangt war und aufhörte, ein bloß lokales Phänomen zu sein. Die beiden Revolutionen markieren den Beginn der Moderne und damit den eigentlichen Beginn des republikanischen Zeitalters.
Dem Selbstverständnis der Amerikanischen und Französischen Revolution zufolge sollte der öffentliche Staat den gesamten Staat umfassen, mit ihm förmlich identisch sein. Denn der Staat sollte seine Macht aus der Souveränität des Volkes ableiten, welches sich selbst wiederum seiner Souveränität in der Revolution versichert hatte. Diese Verknüpfung zwischen der Souveränität des Volkes und der Legitimität seiner Regierung konnte nur in einem Staat erfolgen, dessen politische Entscheidungen zugleich öffentlich und sichtbar waren. Das bedeutet natürlich nicht, dass ein solcher Staat keinerlei Staatsgeheimnisse mehr haben würde. Aber zumindest sollte die grundsätzliche Ausrichtung seiner Politik fortan im Licht der Öffentlichkeit erfolgen. Dies zumindest war das Selbstverständnis – der Traum, wenn man so will –, das sowohl mit der Amerikanischen als auch mit der Französischen Revolution verbunden war und in dem letztlich das Vertrauen der Aufklärung in die Vernunftbegabtheit des Menschen zum Ausdruck kam. Denn wenn im Prinzip alle Menschen vernunftbegabt sind, dann kann, ja dann muss sogar die Gesellschaft zur Basis des Staates werden.
Der Tiefenstaat – den wir hier als bloße Hypothese unserer Untersuchung zugrunde legen – würde sich demnach in dem Moment konstituieren, in dem Strukturen innerhalb des Staates versuchen, sich diesem neuen Selbstverständnis wieder zu entziehen und stattdessen die Politik abseits der öffentlichen Debatte festzulegen. Dies dürfte historisch relativ früh nach der Konstituierung der ersten modernen Republiken in den USA und Frankreich geschehen sein. Aus diesem Grund ist es nicht übertrieben zu sagen, dass, sofern der Tiefenstaat existiert, er zusammen mit dem öffentlichen Staat beziehungsweise kurz nach diesem die Bühne der Geschichte betreten haben muss.
Nun kann es natürlich viele verschiedene Gründe geben, warum die Repräsentanten einer Regierung dazu übergehen, den nach langen politischen Kämpfen mühsam etablierten öffentlichen Anspruch eines republikanischen Staates wieder zu unterlaufen. Im harmlosesten Fall geht es ihnen einfach nur darum, leichter zu regieren. Etwas schwerer wiegt dagegen schon das Verständnis, dass sie, die Regierenden, sich eben als Elite verstehen und deshalb von sich glauben, das Allgemeinwohl nun einmal besser beurteilen zu können, als die Öffentlichkeit dies vermag. Doch auch dieses wäre noch eine verhältnismäßig menschliche Motivation bezüglich der Einrichtung staatlicher Tiefenstrukturen.
Aber es wäre durchaus auch denkbar, dass Tiefenstrukturen der Staatlichkeit aus deutlich fragwürdigeren Gründen etabliert wurden, nämlich als Folge eines langfristigen geistigen Entwicklungsprozesses innerhalb der Elite selbst. Wie bereits erwähnt, sind die Revolutionen von 1775/76 und 1789 aus der Aufklärung hervorgegangen. Und bereits die Aufklärung hatte, als sich ihre kulturelle Hegemonie abzeichnete, eine Bewegung hervorgebracht, die wir heute als Gegenaufklärung kennen. Zwar haben sich die Ideen der Amerikanischen und Französischen Revolution letztlich historisch durchsetzen können. Doch das bedeutet nicht, dass sie nicht trotz alledem immer wieder auch infrage gestellt und angegriffen worden sind.
Seit der Begründung des republikanischen Zeitalters, welches mit den Putney Debates14 einsetzte und infolge der Bostoner Teaparty und des Sturmes auf die Bastille eine gesamteuropäische Bedeutung erlangte, wurde um die weitere Ausformung des republikanischen Zeitalters beständig gerungen. Von linker Seite wurde der Vorwurf erhoben, die Revolution von 1789 sei unvollständig gewesen, sie habe lediglich den Adel entmachtet zugunsten des Großbürgertums; die einfachen Menschen seien dagegen nach wie vor unterdrückt. Das Empfinden einer unvollständigen, lediglich republikanischen und nicht demokratischen Revolution hatte schließlich zur Entstehung der Arbeiterbewegung und zu ihrem sozialistisch-demokratischen Versprechen beigetragen – einem Vorgang, der schließlich zu weiteren Revolten und Revolutionen führte. Der leitende Anspruch bestand dabei darin, die unvollständig gebliebene Französische Revolution zu einem Abschluss zu bringen.
Doch auch von konservativer Seite wurde das Erbe der Französischen Revolution beständig infrage gestellt. Am sichtbarsten wurden diese Tendenzen im europäischen Faschismus, der sich zunächst in Italien und später im Zuge der Weltwirtschaftskrise von 1929 sukzessive auch in mehreren europäischen Ländern, vor allem in Deutschland, durchsetzen konnte. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach dem Reichstagsbrand wurde die Balance zwischen öffentlichem Staat und Tiefenstaat abgeschafft. Der Tiefenstaat wurde jetzt zum eigentlichen Staat.
Hätte sich das Konzept des Faschismus als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 auch in den USA, Großbritannien und Frankreich durchgesetzt – Kräfte, die in diese Richtung arbeiteten, waren durchaus vorhanden15 –, so hätte das republikanische Zeitalter durchaus schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts sein Ende finden können. Dass sich in den Vereinigten Staaten mit dem New Deal ein Kompromiss zwischen der Arbeiterbewegung und den kapitalistischen Eliten etablieren konnte, stellt in diesem Sinne einen Glücksfall der Geschichte dar. Durch ihn konnte der Republikanismus als Ideal moderner Staatlichkeit für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bewahrt werden. Gleichwohl enthielt auch der New Deal bereits Elemente, die tief ins gesellschaftliche Gefüge eingriffen und den Charakter der Opposition veränderten. Die Arbeiterbewegung, die selbstständig entstanden war und sich selbst organisiert hatte, wurde nun in eine mehr und mehr staatlich verwaltete und entsprechend beeinflusste Gesellschaftsklasse überführt. Zwar war auf der einen Seite der New Deal nahezu die einzige tragfähige Alternative16 zur faschistischen Katastrophe, doch auf der anderen Seite führte gerade der New Deal zum Aufstieg eines Gesellschaftstypus, den Theodor W. Adorno aus gutem Grund auch als die „radikal vergesellschaftete Gesellschaft“17 beziehungsweise „die total verwaltete Welt“18 bezeichnet hat. Der New Deal verwirklichte zwar viele humane Ziele. Er regulierte zum Beispiel den Kapitalismus und insbesondere die Finanzmärkte. Er führte zu einer Umverteilung von Kapital und Wohlstand innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft. Er erhöhte schließlich auch den Bildungs- und Gesundheitsgrad der Bevölkerung, baute die öffentliche Infrastruktur aus und schuf somit Strukturen, die dem Allgemeinwohl dienten. Und indem er all dies bewirkte, legte er die Grundlage für den Wohlstand der 50er bis 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, eine aus heutiger Sicht goldene Ära, in der fast jede Familie der USA ihre Stellung in der Gesellschaft verbessern konnte.
Und doch, es waren gerade diese Investitions- und Wohlstandsprogramme des New Deal, die den Verwaltungsgrad der Gesellschaft massiv erhöhten. Über einen längeren Zeitraum führte dies dazu, dass das aus Klassenkämpfen hervorgegangene politische Bewusstsein erneut an Spannkraft verlor. An die Stelle der organischen Opposition der Arbeiterbewegung trat eine mehr und mehr systemkonforme Opposition, die oft auch in beziehungsweise für staatliche oder staatsnahe Organisationen arbeitete. An die Stelle des organischen Intellektuellen trat auf diese Weise nach und nach der gut bezahlte Akademiker, Experte, Spezialist und Mitglied eines Think Tanks, für den es mehr und mehr zur Normalität wurde, für einen Auftraggeber anstatt für die Gesellschaft zu denken. Dieser Aufstieg einer geistig und kulturell immer umfassender verwalteten Gesellschaft, die eine eigene akademische Klasse19 hervorbrachte – eine „New Class“20 –, legte letztlich das Fundament für eine erneute Ausdehnung und Expansion staatlicher Tiefenstrukturen gegenüber dem öffentlichen Staat. Oder in anderen Worten: Der New Deal hatte den entscheidenden Machtkampf zwischen Anhängern und Gegnern der beiden großen bürgerlichen Revolutionen der Moderne nicht beendet, sondern lediglich aufgeschoben.
Es ist ebenfalls kein Zufall, dass sich diese Entwicklung hin zu einer immer umfassender verwalteten Gesellschaft im Kalten Krieg vollzog. Das Handeln der UdSSR konnte als beständiges Argument dienen, um den militärisch-industriellen Komplex, die Geheimdienste sowie die mit ihnen verbundenen geheimen Forschungsprogramme und Untergrundarmeen umfassend auszubauen. In den 1980er Jahren hatte diese Entwicklung einen Punkt erreicht, an dem die Folgen, die ein ständig wachsender Tiefenstaat für die politisch-geistige Kultur der USA bedeutete, immer spürbarer wurden. Es zeigten sich nun Eigenschaften des Tiefenstaates, die bereits Theodor W. Adorno in seiner Theorie von der „total verwalteten Welt“ zutreffend vorausgesagt hatte. Adorno hatte nämlich darauf hingewiesen, dass die total verwaltete Welt nicht eine Gesellschaft hervorbringen würde, in der die Züge pünktlich einträfen, sondern eine Gesellschaft, in der die gesellschaftlichen Strukturen unter dem Druck ihrer staatlichen Verwaltung fragmentieren und somit gerade in Chaos übergehen würden. Dass also der Anspruch, Kontrolle auszuüben, letztlich Kraft der Dialektik historischer Prozesse Chaos erzeugen würde.
Der Wahrheitsgehalt dieser Prognose wurde ab den 1980er Jahren in den USA und nach der Jahrtausendwende zunehmend auch in Europa immer spürbarer. Seither ist an die Stelle einer republikanischen Identität der Gesellschaft, die auf der Basis gemeinsamer historischer Erinnerungen entstanden war und somit kollektive Forderungen an die Regierung richten konnte, eine Gesellschaft ganz neuen Typs getreten. Nämlich eine Gesellschaft, die aus einer Vielzahl an Interessengruppen besteht, ja geradezu in die Interessengegensätze einzelner Minderheiten zersplittert. Vonseiten des Staates wird diese Entwicklung sogar noch gefördert. Denn viele sogenannte Nichtregierungsorganisationen (engl.: NGO = non governmental organization), die formal unabhängig sind, aber oft direkt oder indirekt staatlich finanziert werden, fördern und verwalten eine auf Minderheitsrechte ausgerichtete politische Kultur. Die Folge dieser Entwicklung ist jedoch, dass die vom klassischen Republikanismus geprägten Gesellschaft, die durch eine ergebnisoffene Diskussionskultur eine gemeinsame Identität und ein solidarisches Bewusstsein begründen konnte, immer deutlicher von einer Kultur abgelöst wurde, die universelle Werte durch partikulare Ziele ersetzt hat. Einzelne Gruppen der Gesellschaft werden als Opfer angesprochen, andere wiederum sind mit einem Tätervorwurf konfrontiert. Das Resultat ist eine zunehmend gespaltene Gesellschaft, in der der Kampf gegen Diskriminierung wiederum Diskriminierung erzeugt und infolgedessen Paranoia, Misstrauen, Tabus, sprachliche Reglementierungen und gegenseitige Anschuldigungen immer häufiger den öffentlichen Diskurs bestimmen und einschränken. Heute ist der daraus hervorgegangene Auflösungsprozess gesellschaftlicher Identität so weit fortgeschritten, dass die kulturellen Grundlagen des Republikanismus als solche infrage stehen.
Reflexion auf den historischen Moment
Nun vollzieht sich diese Entwicklung in einem historischen Moment, der auch in anderer Hinsicht bemerkenswert ist. Denn das Erbe der Französischen Revolution wird nicht nur durch die Expansion staatlicher Tiefenstrukturen infrage gestellt. Es wird zudem auch noch durch eine beispiellose Entwicklung des technischen Fortschritts herausgefordert.
Vordergründig erscheint es zwar so, als ob die Errungenschaften der Technik die Freiheit des Einzelnen befördern würden. Doch hintergründig zeigt sich eine andere Tendenz. Das Internet ist hierfür ein hervorragendes Beispiel. Einerseits lässt es zu, dass der Einzelne sein Wissen scheinbar unbegrenzt vergrößern kann. Doch andererseits ermöglicht das Internet auch, dass über alle seine Nutzer Informationen gesammelt werden können. Auf der Basis dieser Informationen kann ein sehr genaues Persönlichkeitsprofil erstellt werden. Das erste Mal ist damit in der Menschheitsgeschichte die Möglichkeit einer Diktatur denkbar geworden, in welcher ein zukünftiger totalitärer Staat nicht nur die Namen und Wohnorte seiner Kritiker kennen würde, was bereits schwerwiegend genug wäre, sondern auch die psychologischen Schwächen und Besonderheiten jedes einzelnen Dissidenten. Damit ist die Möglichkeit einer extrem zielgerichteten Repression denkbar geworden. Eine Repression, die gerade deshalb besonders gefährlich wäre, weil sie viel unsichtbarer und damit auch weitaus effektiver ausgeübt werden könnte als die noch breitflächig organisierten Unterdrückungskampagnen im Dritten Reich oder im Stalinismus.
Professor Rainer Mausfeld hat in verschiedenen Vorträgen und Essays dargelegt, in welchem Grad allein die Fortschritte der modernen Psychologie gegenwärtig die Aufrechterhaltung einer republikanischen Gesellschaftsordnung gefährden. Denn durch die Erkenntnisse der modernen Psychologie ist es möglich geworden, den Bürgern ihre politische Orientierung zu nehmen, ohne dass diese das überhaupt bemerken. Dank der Forschungsergebnisse der modernen Psychologie ist es heute denkbar geworden, eine passive, durch Medienkampagnen leicht steuerbare Gesellschaft zu erzeugen. Verknüpft man die Fortschritte der Psychologie mit der globalen Massenüberwachung durch die NSA und andere Organisationen, so ist man sich einzugestehen genötigt, dass in absehbarer Zukunft nicht nur Moden und Lebensorientierungen, sondern überhaupt die Evolution von Weltbildern berechenbar und planbar werden könnten.
Denn selbst dort, wo neue Weltsichten und Trends spontan in der Bevölkerung entstehen, werden diese von Google, Facebook oder der NSA sehr viel früher registriert als von der Bevölkerung selbst. Das aber bedeutet, dass heute die erschreckende Möglichkeit im Raum steht, dass die Inhaber all dieser Informationen zumindest theoretisch der geistigen Entwicklung der Bevölkerung immer einen Schritt voraus sein könnten. Noch fehlt es vermutlich an den geeigneten Algorithmen, Rechenkapazitäten und Programmen, um all diese Informationen sinnvoll zu verarbeiten. Und ohne entscheidende Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz sind diese Massen an Informationen ohnehin nicht zu verwalten. Doch prinzipiell könnte es in der Zukunft möglich sein, dass Eliten, die Zugriff auf diese Informationen haben, auf neu entstehende Trends in der Gesellschaft Einfluss nähmen. Und zwar ehe diese von der Bevölkerung selbst überhaupt als Trends erkannt worden wären.Am Ende dieser Entwicklung könnte eine Gesellschaft stehen, die in einem Zustand der Unterdrückung leben würde. Doch anders als in einer klassischen Diktatur würde die Unterdrückung nicht durch staatliche Gewalt, Autorität, Repression und Angst erfolgen. Sondern sie würde vielmehr geistig eingeleitet werden, nämlich durch eine schleichende, aber zielgerichtete Veränderung der Kultur. Eine Veränderung, die schließlich auch zur Erosion des kulturellen geistigen Fundaments führen würde, das einst die Aufklärung und damit auch die Französische Revolution ermöglicht hatte. Aldous Huxley hat diesen Prozess bereits im Jahr 1962 in einer Rede an der Universität Berkeley als die Errichtung einer „wissenschaftlichen Diktatur“ oder auch als die „ultimative Revolution“ bezeichnet.
Das Monopol auf die Interpretation von Modernität
Es wurde eben bereits erwähnt, wie sehr der erste Kalte Krieg zur Bürokratisierung der Gesellschaft und damit zur Expansion staatlicher Tiefenstrukturen beigetragen hat. Nun muss in diesem Zusammenhang auch darauf verwiesen werden, dass das Ende des ersten Kalten Krieges in dieser Hinsicht keinerlei Besserung gebracht hat. So war innerhalb von zehn Jahren ein neues Feindbild gefunden, nämlich der Terror und der Krieg gegen ihn, auf dessen Basis der Sicherheitsapparat genauso ausgebaut werden konnte. Zudem war mit dem Ende des Kalten Krieges auch die gegenseitige Überwachung weggefallen, die die beiden Supermächte wechselseitig ausgeübt hatten. Die Konkurrenz zwischen zwei alternativen Interpretationen der Moderne, nämlich einer kapitalistischen und einer sozialistischen, kam an ihr Ende und an ihre Stelle trat eine einzige und deshalb scheinbar alternativlose Interpretation der Moderne, die gelegentlich auch als Postmoderne oder Neoliberalismus bezeichnet wird.
Da außerhalb des westlichen und östlichen Lagers alle anderen Kulturen eine eher traditionelle Gesellschaftsstruktur aufweisen, hatte der Westen durch den Zerfall der Sowjetunion plötzlich das Monopol auf die Interpretation und Definition von Modernität erworben. Im Windschatten dieses Monopols konnte nun eine Gesellschafts- und Kulturpolitik eingeleitet werden, die sich in einem viel direkteren Maße, als dies während des Kalten Krieges möglich gewesen war, auf die Seite der Gegenaufklärung stellen konnte. Und das bedeutete, dass das republikanische Erbe der US-amerikanischen und Französischen Revolution jetzt erstmals gezielt unterminiert werden konnte. Zwar führten viele der öffentlichen Diskurse, die die Ära nach dem Kalten Krieg kennzeichneten, immer noch die Ideale der Französischen Revolution im Munde. Nach wie vor beschworen sie die Schlagworte der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Doch dabei traten diese Ideale in einer widersprüchlichen Form auf, nämlich in einer postmodernen Interpretation. Die postmoderne Lesart der Aufklärungsphilosophie lief letztlich auf deren Auflösung hinaus. Und zwar dadurch, dass sie einen Freiheitsbegriff schuf, der im Namen der Freiheit Freiheit einschränkte, einen Begriff der Gleichheit propagierte, der im Namen der Gleichheit Gleichheit auflöste und einen Zwang zur Brüderlichkeit und Toleranz etablierte, der im Namen der Brüderlichkeit echte Solidarität und Brüderlichkeit unterminierte.
Ausdruck fand diese neue Handlungsfreiheit, die das Ende der Blockkonfrontation mit sich gebracht hatte, unter anderem auch in der Auflösung des Nationalstaates. In den 28 Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer haben wir eine unvergleichliche Expansion des Freihandels erlebt. An die Stelle souveräner Nationalstaaten sind staatenübergreifende Handels- und Bündnissysteme, wie zum Beispiel die EU und NAFTA getreten. Auch die jetzt wieder auf Eis gelegte TTIP- und TTP- Abkommen können hier als Beispiel dienen. Der sowjetische Philosoph und Dissident Alexander Zinoviev spricht in diesem Zusammenhang auch von der Entstehungvon Supragesellschaften – ein Begriff, den man auch mit Superstaat übersetzen könnte. Gemeint sind nach Zinoviev riesige, quasi staatliche Verwaltungseinheiten, wie etwa die EU oder die frühere Sowjetunion, die mehrere Sprach- und Kulturgemeinschaften umfassen und in denen allein aufgrund der schieren Größe das Band zwischen Individuum und Staat zwangsläufig schwächer werden muss. Aufgrund ihrer Größe lassen sich solche Supragesellschaften nur auf einer neuen, nämlich postrepublikanischen Basis errichten. Zinoviev zufolge muss eine Supragesellschaft auf einer kulturellen Vereinheitlichung ihres Herrschaftsbereichs bestehen, um sich selbst zu stabilisieren. Doch dieses Ziel kann nur durch eine negative – nämlich tendenziell das kulturelle Erbe auflösende – Kulturpolitik erreicht werden.
Ein Grundwiderspruch der neuzeitlichen Ideengeschichte
All diese Entwicklungen haben eine Paradoxie zum Vorschein gebracht, die die neuzeitliche Ideengeschichte von Anfang an begleitet hat. Mit dem Anbruch der Neuzeit entdeckt der Mensch das Potenzial seiner eigenen Subjektivität. Auf deren Freiheitsanspruch werden fortan politische Ordnungen begründet; ihr analytisches Potenzial wird zur Basis aller modernen Erkenntnistheorien. Um sich den revolutionären Charakter dieser Veränderung bewusst zu machen, mag ein Vergleich mit der Antike und dem Mittelalter hilfreich sein.
Das Denken der Antike kreiste um den metaphysischen Begriff des Kosmos. In der Antike wurde dementsprechend eine Aussage als wahr anerkannt, wenn gezeigt werden konnte, dass sie in einer feststehenden kosmologischen Ordnung verankert war. Mit dem Anbruch des Mittelalters verlor die Vorstellung einer kosmologischen Ordnung diese wahrheitsstiftende Funktion. Fortan wurde Wahrheit mit der Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift gleichgesetzt und auf sie zurückgeführt. Wahrheit war eng verknüpft mit der Idee Gottes, der zwar Schöpfer der Welt war, doch dieser zugleich auch gegenüber stand und somit einen Transzendenzbezug der Welt gegenüber verkörperte. Mit dem Anbruch der Neuzeit kommt es zu einer erneuten Umwälzung. Nicht mehr eine kosmologische Ordnung wie in der Antike noch die Idee einer Offenbarung Gottes, die das Mittelalter bestimmte, sondern die menschliche Subjektivität wird zum Anker und Bezugspunkt der Frage nach der Wahrheit. Für das neuzeitliche Denken ist wahr, was von einem intersubjektiven Denkprozess (der sogenannten transzendentalen Subjektivität) als widerspruchsfrei erkannt werden kann. Was im menschlichen Denken nicht widerspruchsfrei eingesehen werden kann, ist demnach auch nicht wahr. Die menschliche Subjektivität wird somit zur Basis, zum Grund und Fundament jeglichen Wahrheitsanspruchs. Dies stellt einen gewaltigen Bruch mit dem Denken der Antike und des Mittelalters dar. Denn damit ist fortan jeder Mensch potenzieller Träger der Wahrheit. Dies wiederum hat weitreichende Folgen. Zum einen bricht sich im Windschatten dieser Veränderung die Reformation Bahn. Zum anderen müssen fortan alle politischen Theorien der Neuzeit auf den normalen Bürger, den Citoyen Bezug nehmen. In der Neuzeit entstehen politische Theorien, die auf den Freiheitsrechten des Individuums basieren und mit diesen auch seine geistige Freiheit unter Schutz stellen.
Doch während die Neuzeit das Potenzial menschlicher Subjektivität erkennt und freisetzt, enthält es zugleich eine zweite Tendenz, die dieses Ziel wiederum unterläuft. In dem Grade nämlich, in dem die menschliche Subjektivität zumindest in ihrer intersubjektiven Form zum Maßstab aller Wahrheit wird, in dem Grade wird die äußere Welt ihrerseits in dieser Subjektivität auch aufgelöst. Mit den Mitteln der Wissenschaft lernt das menschliche Denken nämlich nun, die äußere Wirklichkeit am Maßstab der Widerspruchsfreiheit zu messen und auf diese Weise ihre tragenden physikalischen und naturwissenschaftlichen Gesetze zu entschlüsseln. Dies hat zur Folge, dass die Gesetze der Natur methodisch isoliert und somit handhabbar werden. Der Mensch erlangt die Fähigkeit, Naturvorgänge zu seinem eigenen Vorteil zu manipulieren. Die technische Revolution ist somit die direkte Folge der neuzeitlichen Vorstellung, dass der als widerspruchsfrei erwiesene subjektive Denkprozess als absolutes Wahrheitskriterium dienen könne.
Was auf der einen Seite die Grundlage eines oft segensreichen technischen Fortschritts gewesen ist, kann aber auf der anderen Seite auch gegen den Menschen selbst gerichtet werden. Denn auch der Mensch ist nur eine Erscheinung der Natur. Die neuzeitliche Wissenschaft untersucht die psychologischen Bedürfnisse des Menschen und die Entwicklungsgesetze seines Denkens nicht anders, als sie auch das Tierreich erforscht. Und auch die menschliche Gesellschaft und ihre Bewegungsprozesse können wie ein Naturvorgang verstanden und analysiert werden. Dementsprechend kann die Naturbeherrschung, die durch die Freisetzung der Subjektivität in der Neuzeit möglich geworden ist, auch auf den Menschen selbst angewendet werden. Damit aber wendet sich die Entdeckung der Freiheit der Subjektivität, die am Beginn der Neuzeit stand, eben gegen diese Freiheit selbst. Indem der Mensch sich selbst als einen Teil der Natur objektiviert, schafft er die Grundlage für seine eigene Beherrschung. Auf diese Weise führt die Freisetzung der Subjektivität, die am Beginn der Neuzeit steht, über einen längeren historischen Prozess wieder zu ihrer erneuten Einschränkung.
Dieser Widerspruch in der neuzeitlichen Ideengeschichte wurde schon relativ früh erkannt. Es gab innerhalb der Neuzeit viele Versuche verschiedenster Philosophen, hier korrigierend einzugreifen. Der wohl bekannteste Versuch geht auf die Philosophen des Deutschen Idealismus zurück. Bereits das älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus, welches vom jungen Hegel niedergeschrieben wurde, aber wahrscheinlich auch vom jungen Schelling und Hölderlin beeinflusst worden ist, zeigt die Besonderheiten der im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert entstandenen deutschen Aufklärung. Diese wendete sich nicht wie die britische oder französische Aufklärung vorzugsweise gegen die Kirche und das Christentum. Sie bezog nicht von vornherein einenatheistischen Standpunkt, sondern kritisierte vielmehr das totalitäre Potenzial der vorangegangenen Aufklärung selbst, nämlich die unter anderem auf der Physik Newtons basierende mechanistische Denkweise. Der Annahme, alles sei Materie und gehorche mechanischen Gesetzen, stellten der junge Hölderlin, Schelling und Hegel die Vorstellung entgegen, alles sei Geist und gehorche geistigen Gesetzen. „Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen seyn?“ lautet eine richtungweisende Frage im ‚Systemprogramm‘. Diese Fragestellung ermöglichte die Entwicklung von Hegels Philosophie, die den Phänomenen selbst und somit auch der Geschichte als Ganzes teleologische Entwicklungstendenzen zugrunde legte.
Leider haben diese philosophischen Korrekturversuche sich letztlich nicht durchsetzen können. In der Welt von heute dominiert nach wie vor ein Begriff von Aufklärung, der von der Vorstellung bestimmt ist, die Welt sei eine Ansammlung toter Materie und ließe sich wie ein mechanisches Uhrwerk ordnen und beherrschen. Dass die Natur in Wirklichkeit wahrscheinlich anders strukturiert ist, wissen wir spätestens seit der Entdeckung der Quantenmechanik. Doch in kultureller Hinsicht haben diese neuen Erkenntnisse bisher kaum ihren Niederschlag gefunden.
Die politischen Vorgänge unserer Zeit sind nach wie vor der Ausdruck einer Denkweise, die von der Annahme bestimmt ist, die Welt bestünde aus toter Materie, besäße von sich aus keinerlei Bedeutung und könne deshalb ganz und gar auf die Zwecke ausgerichtet werden, die der Mensch für sie bestimmt. Da der Mensch aber auch nur eine Naturerscheinung ist und seine Psyche wie auch seine Gesellschaftsprozesse genauso wissenschaftlich erforscht werden können wie jeder andere Bereich der Natur auch, ist diese Denkweise keineswegs davor geschützt, sich selbst zu unterlaufen. Auch der Mensch und seine Gesellschaft können wie die tote Materie auf fremde Zwecke ausgerichtet werden. In Zeiten des Neoliberalismus wären dies die Zwecke einer oligarchischen und irgendwann vielleicht auch neofeudalen Oberschicht.
Resümee
Wir haben in diesem Aufsatz letztlich nicht beweisen können, ob es den Tiefenstaat wirklich gibt oder nicht. Ein solcher Beweis obliegt der empirischen Analyse sogenannter Tiefenereignisse. Doch wir konnten zeigen, dass die Tiefenstrukturen der Staatlichkeit, die diese empirischen Untersuchungen nahelegen, in eine Vielzahl von historischen Prozessen eingebunden sein müssen. Ja, dass sich in dem Gegensatz von öffentlichem Staat und Tiefenstaat letztlich epochale Konfliktlinien kreuzen.
So wäre der Tiefenstaat mit hoher Wahrscheinlichkeit eingebunden in den Streit um das Erbe der US-amerikanischen und Französischen Revolution. In dem Streit um dieses Erbe würden sich die Kräfte manifestieren, die einst in Gestalt der Gegenaufklärung die historische Zäsur der Aufklärung rückgängig zu machen versuchten. Schließlich wäre der Tiefenstaat verbunden mit einem historischen Prozess, der die Nationalstaaten nach und nach zugunsten riesiger transnationaler Strukturen auflösen würde. Strukturen, die allein aufgrund ihrer Größe das Versprechen der US-amerikanischen und Französischen Revolution und damit auch das Versprechen der Aufklärung preisgeben müssten. Darüber hinaus kommt die Diskussion um den Tiefenstaat zu einem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte auf, an dem ganz neue technologische Errungenschaften alle Kommunikationsprozesse innerhalb unserer Gesellschaften revolutioniert haben. Erstmals in der Geschichte der Menschheit ist eine detaillierte Erforschung und Kontrolle der Gesellschaft möglich geworden. Die Realität unserer neuen gläsernen Existenz ohne Privatsphäre geht über alles hinaus, wovon Diktatoren der Vergangenheit auch nur träumen konnten. Und zu guter Letzt spiegelt sich in diesem hypothetisch zugrunde gelegten Ringen zwischen dem öffentlichen Staat und dem Tiefenstaat ein Widerspruch der neuzeitlichen Ideengeschichte selbst. Die Ideengeschichte der Neuzeit war nämlich von Beginn an in einem Grundwiderspruch gefangen. Ihrer Rationalität ist ein Doppelcharakter eigen, der darin besteht, dass sie gerade durch ihre Befähigung zur Naturbeherrschung unser Leben gleichermaßen befreien wie auch versklaven kann. So sehr die westliche Welt sich auf die Tradition der Aufklärung beruft, so sehr gehört auch die Tradition der Gegenaufklärung zu ihr.
All diese historischen Tendenzen bündeln sich in unserer Gegenwart. Welche der beobachteten Entwicklungen wird sich durchsetzen? Kann das Erbe der Aufklärung und der Französischen Revolution bewahrt werden? Kann es vielleicht sogar erweitert und erneuert werden? Oder wird sich die gegenteilige Tendenz durchsetzen? Werden wir den Aufstieg riesiger transnationaler Supragesellschaften erleben, die, um sich selbst am Leben zu erhalten, eine negative Kulturpolitik einleiten müssten? Eine Kulturpolitik, die nicht nur versuchen würde, riesige Räume kulturell zu vereinheitlichen, sondern auch dazu übergehen könnte, die kulturellen Grundlagen, welche einst die Aufklärung und die Französische Revolution ermöglicht haben, wieder aufzulösen. Wir wissen die Antwort zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Doch was wir wissen, ist, dass wir an einem Schnitt- und Wendepunkt der Weltgeschichte leben, an dem sich entscheiden wird, wie frei oder unfrei das 21. Jahrhundert insgesamt sein wird.
Quellen:
(1) Werner Kalinka, Der Fall B. – Der Tod, der kein Mord sein darf, Berlin 1993
(2) Jonathan Marshall, Peter Dale Scott, Jane Hunter, The Iran-Contra Connection – Secret Teams and Covert Operations in Reagan Era, New York 1987
(3) Bertram Gross, Friendly Fascism – The New Face of Power in America, Montreal 1986
(4) E. J. Gumbel, Vier Jahre politischer Mord, Berlin-Fichtenau 1922
(5) Peter Dale Scott and Jonathan Marshall, Cocaine Politics – Drugs, Armies, and the CIA in Central America, Oakland 1991
(6) Heinrich Wille, Ein Mord, der keiner sein durfte – Der Fall Uwe Barschel und die Grenzen des Rechtsstaates, Zürich 2011
(7) Daniele Ganser, NATO Geheimarmeen in Europa – Inszinierter Terror und verdeckte Kriegsführung, Zürich 2008
(8) Peter Dale Scott, The Assassinations – Dallas and Beyond, London 1978
(9) Jim Hougen, Secret Agenda – Watergate, Deep Throat, and the CIA, New York 1984
(10) Leslie Cockburn, Out of Control – The Story of the Reagan Administration’s Secret War in Nicaragua, the Illegal Arms Pipeline, and the Contra Drug Connection, New York 1987
(11) Len Clododny, Tom Shachtman, The Forty Years War – The Rise and Fall of the Neocons, from Nixon to Obama, New York 2010
(12) Mills identifiziert drei Fundamente dieser inoffiziellen Form der politischen Machtausübung. Zum einen das Militär und seine Geheimdienste, die gegenüber jeder gewählten Regierung immer über einen Informationsvorsprung verfügen. Als Zweites sind die jeweils führenden Industrien ihrer Zeit zu nennen. In unserer Gegenwart ist dies vor allem die Finanzindustrie, aber auch Öl- und Waffenfirmen spielen eine wichtige Rolle. Und als dritte Quelle für die Macht der Tiefenstrukturen des Staates ist das politische Establishment zu nennen. Und hier spielen vor allem jene Posten und Strukturen eine Rolle, die im Falle eines Regierungswechsels nicht ausgetauscht werden. C. Wright Mills, The Power Elite, Oxford 1959
(13) Murray Bookchin, The Third Revolution – Popular Movements in the Revolutionary Era, London / New York 1996
(14) Die „Putney Debates“ behandelten die zukünftige Verfassung Englands und stellten ein Schlüsselereignis dar, welches die spätere Englischen Revolution vorbereitete. Die Debatten fanden zwischen dem 28. Oktober und 11. November 1647 inmitten des Englischen Bürgerkriegs in der Stadt Putney (heute ein Stadtteil Londons) statt.
(15) Jules Archer, The Plot to Seize the White House – The Shocking True Story of the Conspiracy to Overthrow F.D.R., New York 2015
(16) Die andere Alternative wäre eine sozialistische Revolution gewesen. Doch diese Möglichkeit hatte nur in Europa reale Chancen auf Verwirklichung. In den USA war der Kapitalismus seit der Gründung des Landes zu tief im Gesellschaftsgefüge verankert. Es gab in den USA kaum vorkapitalistische Traditionen und Denkweisen, an die eine sozialistische Bewegung hätte anknüpfen können.
(17) Theodor W. Adorno, Kultur und Verwaltung, in: Soziologische Schriften I, Frankfurt a. Main 1972, S. 133
(18) Ebenda, S. 134
(19) Russell Jacoby, The Last Intellectuals – American Culture in the Age of Academe, Toronto 1987
(20) Paul Piccone, Populism vs. New Class, in: Confronting the Crisis – Writings of Paul Piccone, New York 2008 / Telos Nr. 88, Summer 1991
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