Weltpolitik

Venezuela: Erdrutschsieg für bürgerliche Kräfte

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Sozialisten künftig ohne Mehrheit in der Nationalversammlung –

Von REDAKTION, 8. Dezember 2015  –

Deutlicher hätte die Niederlage für die sozialistische Regierung in Venezuela kaum ausfallen können:  Bei der Parlamentswahl am Sonntag gaben nur dreiunddreißig Prozent der Wähler ihre Stimme dem Regierungsblock der Sozialistischen Partei (PSUV). Vierundsechzig Prozent der Wähler machten ihr Kreuz für das 2008 gegründete oppositionelle Bündnis MUD („Tisch der demokratischen Einheit“).

Die Abstimmung, zu der insgesamt 19,5 Millionen Menschen aufgerufen waren, verlief friedlich, zu größeren Unregelmäßigkeiten war es nicht gekommen. Erstmals nach siebzehn Jahren haben die Sozialisten die Mehrheit in der Nationalversammlung verloren.

Präsident Nicolás Maduro gestand die Niederlage unmittelbar ein, die er als „Klatsche“ für seine Partei bezeichnete. „Heute hat eine Gegenrevolution triumphiert“, erklärte der Staatschef, der der Opposition vorwarf, die „Wiederherstellung des rechten Neoliberalismus“ anzustreben. Sie seien „Vertreter der Bourgeoisie“, die die „bolivarische Revolution egal wie zu zerstören“ suchten, sagte Maduro nach der Niederlage, noch ganz der Wahlkampf-Rhetorik verhaftet.

Das Regierungslager gibt sich trotz des katastrophalen Ergebnisses weiterhin kampfbewusst. PSUV-Kampagnenchef Jorge Rodríguez warnte die Opposition, die Sozialreformen der „bolivarischen Revolution“ zurückzudrehen. „Sie sagen, sie wollen das Arbeitsrecht kippen, sollen sie es mal versuchen“, sagte er. „Und sie sagen, sie seien gegen das Gesetz für faire Preise, sollen sie es mal versuchen.“

Maduro kündigte eine Debatte über die Gründe für das Wahldebakel an. Der Aufruf des Präsidenten an seine Partei, die „Reihen zu schließen“, klingt jedoch  wie eine Durchhalteparole.

Nach jüngsten Zahlen der Wahlbehörde von Montagabend kam das Oppositionsbündnis MUD auf 107 der 167 Mandate in der Nationalversammlung. Der sozialistische Regierungsblock kommt auf 55 Abgeordnete. Drei weitere Mandate gingen an indigene Vertreter, die dem Oppositionslager zuzurechnen sind. Zwei Sitze sind noch nicht vergeben. Fallen sie auch an die Opposition, verfügt diese über eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament.

Das würde ihr beispielsweise die Möglichkeit eröffnen, ein Referendum zur Amtsenthebung des Präsidenten einzuberufen, oder die Verfassung zu ändern, und damit von den Sozialisten durchgesetzte Reformen rückgängig zu machen.

Um deren Politik in der Nationalversammlung zu blockieren, dafür reicht die Mehrheit des Oppositionsbündnisses allemal.  Die MUD ist ein Sammelsurium zwanzig verschiedener Parteien, von konservativ über neoliberal bis hin zu sozialdemokratisch. Ob sie künftig im Parlament mit einer Stimme sprechen werden, ist noch völlig offen.

Ihren Sieg haben sie weniger der eigenen Attraktivität zu verdanken als vielmehr der Unfähigkeit der Regierung. Dieser die „rote Karte“ zu zeigen, dürfte die treibende Motivation vieler Venezolaner gewesen sein. Dafür spricht die außerordentlich hohe Wahlbeteiligung von knapp 75 Prozent. Demnach sind viele ehemalige Wähler des sozialistischen Lagers nicht einfach den Wahlurnen fern geblieben, sondern haben die Gelegenheit genutzt, gegen die Politik der Regierung zu stimmen – was deren Niederlage umso alarmierender macht.

Den 1998 mit Hugo Chávez an die Macht gekommenen Sozialisten ist es in nunmehr siebzehn Jahren Regierungszeit nicht gelungen, die Wirtschaft des Landes nennenswert zu diversifizieren, die Industrieproduktion voranzutreiben und das Land somit unabhängiger vom Rohstoff-Export zu machen. Venezuela  verfügt über die weltweit größten nachgewiesenen Erdölvorkommen.  Der seit eineinhalb Jahren im Keller liegende Ölpreis führte zu deutlich verringerten Staatseinnahmen, die den sozialpolitischen Spielraum der Regierung einschränken.  

Vor allem die ärmeren Bevölkerungsteile profitierten in der Vergangenheit von den staatlichen Gesundheits-, Bildungs- und Sozialprogrammen, die aus dem Ölverkauf gespeist wurden.  Entsprechend groß war bisher der Rückhalt der unteren  Bevölkerungsschichten für die Sozialisten – trotz schlechter wirtschaftlicher Entwicklung und einer ungebrochen hohen Verbrechensrate.

Doch gerade sie leiden besonders unter der galoppierenden Inflation, die dieses Jahr im dreistelligen Bereich liegen wird – der höchsten weltweit – , nachdem sie schon 2014 bei 62 Prozent lag.

Hinzu kommt die anhaltende prekäre Versorgungslage, stundenlanges Anstehen für Grundnahrungsmittel gehört seit langem zum Alltag der Menschen. Die PSUV macht ihre Gegner aus der Wirtschaft für die Versorgungskrise verantwortlich und spricht in diesem Zusammenhang von „Sabotage“.

Auch wenn diese Vorwürfe ihre Berechtigung haben, die Venezolaner erwarten von ihrer Regierung mehr als Schuldzuweisungen. Viele Menschen verstünden, „dass die Regierung für diese Situation nicht direkt verantwortlich ist“, heißt es in einer Wahlanalyse von Telesur, aber ihr Versagen, mit geeigneten Maßnahmen dagegen zu halten, habe ihr die Unterstützung gekostet.

Der lateinamerikanische Nachrichtensender macht zudem auf die wachsende Kluft zwischen Regierung und linken Basisgruppen aufmerksam, die zur Wahlniederlage der PSUV wesentlich beigetragen habe.  (1)

Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ steht nun vor seiner größten Herausforderung. In westlichen Medien wird bereits der „Anfang vom Ende der Ära Chávez“ (Washington Post) eingeläutet. Vom „Abschied vom Sozialismus“ (Focus) und seiner „Entsorgung“ (Welt) durch das Wahlvolk ist die Rede.

Ob die Uhr in Venezuela tatsächlich um siebzehn Jahre zurückgedreht werden kann, ist allerdings noch offen. Nicht zuletzt weil unter den Aktivisten an der Basis der „bolivarischen Revolution“ eine „Jetzt-erst-recht“-Stimmung vorherrscht. (2) Eine Rückkehr zum Neoliberalismus werden sie nicht kampflos hinnehmen.

Die Opposition wird zusammengehalten durch ihre Gegnerschaft zur sozialistischen Regierung. Sollte es ihr gelingen, Maduro seines Amtes zu entheben und die Regierungsverantwortung zu übernehmen, werden sich die innerhalb ihrer Reihen bestehenden Bruchlinien kaum noch kaschieren lassen.

Die bürgerlichen Kräfte stehen nun unter Druck, ihren Wahlversprechen Taten folgen zu lassen. Doch auch sie haben keinen Einfluss auf den Ölpreis, von dem der Staatshaushalt wesentlich abhängig ist. Und die ausufernde Kriminalität werden sie ebenso wenig über Nacht in den Griff bekommen.

Sollten sie im Geiste einer neoliberalen Politik versuchen, die Wirtschaftskrise auf die unteren Schichten abzuwälzen, könnten sie selbst bei der nächsten Wahl zum Adressaten des Frusts und der Enttäuschung jener Venezolaner werden, die am Sonntag den Chávisten einen Denkzettel verpasst haben.  

(mit dpa)

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Anmerkungen

(1) http://www.telesurtv.net/english/analysis/The-Causes-and-Consequences-of-Venezuelan-Election-Results-20151207-0002.html
(2) Siehe dazu: http://www.telesurtv.net/english/analysis/New-Revolutionary-Offensive-Activists-Say-After-Venezuela-Loss-20151207-0028.html

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