Weltpolitik

USA: 30 000 Häftlinge gegen Isolationsfolter

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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In den USA findet einer der größten je dagewesenen Hungerstreiks statt. Die deutschen Leitmedien interessiert das trotz Sommerloch überhaupt nicht –

Von THOMAS EIPELDAUER, 02. August 2013 –

Den meisten deutschen Qualitätsmedien ist es nicht einmal eine Meldung wert: Seit mehr als drei Wochen kämpfen Gefängnisinsassen in Kalifornien gegen unmenschliche Haftbedingungen. Es dürfte sich um einen der größten Hungerstreiks in der Geschichte der Vereinigten Staaten handeln. 40 Strafanstalten sind betroffen, zu Beginn hatten sich 30 000 Gefangene der Essensverweigerung angeschlossen. Wie viele davon noch immer durchhalten, ist unklar. Die Gefängnisbehörde California Department of Corrections and Rehabilitation (CDCR) erklärte in einer Pressemitteilung vom 29. Juli, es handle sich um derzeit 561 Insassen, 385 davon hätten kontinuierlich seit dem 8. Juli teilgenommen. Gefangenenaktivisten gehen dagegen von höheren Zahlen aus.

Wie der Anwalt Jules Lobel vom Center for Constitutional Rights schon am 10. Juli gegenüber der New York Times bemerkte, gibt es offenbar eine „Kerngruppe, die darauf vorbereitet ist, bis zum Ende zu gehen, wenn es keinen wirklichen Wandel gibt. Beim letzten Mal, gemeint ist der Hungerstreik von 6000 Insassen im Jahr 2011, habe man auf Reformversprechen vertraut, aber „die Gefangenen werden das nicht noch einmal tun, nachdem sich auch zwei Jahre nach den Versprechungen keine Veränderungen gezeigt haben“.  

„Ich fühle mich wie tot“

Der derzeitige Hungerstreik bildet den Höhepunkt länger andauernder Auseinandersetzungen zwischen Gefangenen, Bürgerrechtsaktivisten und den US-Behörden, bei denen es um die Erringung menschenwürdiger Haftbedingungen geht. In der Kritik steht dabei vor allem die Isolationshaft, das sogenannte „Solitary Confinement“.

Durchgeführt wird die Isolationshaft häufig in sogenannten „Security Housing Units“ (SHUs), massiven Betonbunkern ohne Fenster, in denen die Gefangenen fast rund um die Uhr ohne irgendwelche normale zwischenmenschliche Kontakte dahinvegetieren. „Experten von Amnesty International, die Ende 2011 das Pelican Bay-Gefängnis und andere SHUs besucht haben, beschrieben die Haftbedingungen kürzlich als ‘schockierend’. Sie dokumentierten, dass Häftlinge dort bis zu 22,5 Stunden am Tag in weniger als 8m² großen, fensterlosen Zellen verbringen und kaum Zugang zu natürlichem Licht und frischer Luft erhalten. Es gibt so gut wie keine Rehabilitierungsprogramme, und überhaupt keine Gruppenaktivitäten. Der Kontakt zu anderen Menschen ist extrem eingeschränkt.“ (3) Selbst Fernsehen, Radio und Bücher sind den Häftlingen verboten. Die Unsicherheit, nicht zu wissen wann man aus dieser Hölle wieder entlassen wird, wenn man denn überhaupt wieder raus kommt, tut das Übrige. „Ich fühle mich wie tot“, sagt Langzeithäftling Luis Esquivel. „Es ist 13 Jahre her, dass ich jemandem die Hand geschüttelt habe, und ich fürchte, ich vergesse, wie sich zwischenmenschlicher Kontakt anfühlt.“

Dass länger andauernde Isolationshaft schwerwiegende gesundheitliche Folgen hat, ist hinreichend erforscht: Beeinträchtigungen des vegetativen Nervensystems, Wahrnehmungsstörungen, der Verfall kognitiver Leistungen, Depressionen und eine Reihe anderer psychischer oder psychosozialer Erkrankungen sind nur einige der Effekte der „weißen Folter“, jener Folter, die zwar keine sichtbaren körperlichen Spuren zurücklässt, die aber umso verheerendere Auswirkungen auf die Gesundheit des Opfers haben kann.

Wiederholt hat deshalb auch der UN-Sonderberichterstatter über Folter, Juan E. Méndez die Vereinigten Staaten dazu aufgerufen, den Missbrauch der Isolationshaft einzustellen. (4) In einem richtungsweisenden Bericht vor der UN-Generalversammlung bezeichnete er bereits im Oktober 2011 alle Formen länger dauernder Isolationshaft als Folter. „Unbegrenzte und anhaltende Einzelhaft, die über 15 Tage hinausgeht, sollte einem absoluten Verbot unterliegen. (…) Bedenkt man die schweren psychischen Belastungen und Schmerzen, die durch die Isolationshaft hervorgebracht werden können, kann sie Folter oder grausamer inhumaner Behandlung (…) gleichen.“ (5)

Der Einsatz dieser Form von Folter ist in den USA kein Randphänomen. Etwa 4500 Gefangene in Kalifornien und um die 80 000 landesweit befinden sich in den fensterlosen Einzelzellen, viele für Jahre oder gar Jahrzehnte. (6) Betroffen sind dabei vor allem Häftlinge, denen die Mitgliedschaft in einer Gang unterstellt wird, oder die wegen politischen Taten einsitzen. Die afroamerikanische Zeitung San Francisco Bay View schreibt: „Security Housing Units wie die in Pelican Bay, Tehachapi und in Corcoran sind Orte der Folter. Sie werden dazu verwendet, Menschen unbegrenzt in Einzelhaft zu halten, basierend allein auf der administrativen Festlegung, dass sie „Gang-Mitglieder“ sind. Das Ziel ist, sie zu brechen. Man hofft, ihnen Informationen entlocken und sie dazu nötigen zu können, Informanten oder aktive Agenten des Staates zu werden.“ (7)

Diese Situation setzt einen Kreislauf in Gang: Insassen von SHUs sagen, weil sie ihre Situation nicht länger ertragen, über andere Insassen aus, die dann deshalb in SHUs gesperrt werden: „Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass viele von uns in den letzten 10 bis 40 Jahren in Isolationshaft saßen, und zwar aufgrund fabrizierter Informationen von Gefangenen, die bis zu dem Punkt gefoltert wurden, an dem sie falsche Informationen an die Internal Gang Investigators (die gefängniseigenen Ermittler zu Gang-Angelegenheiten, d. Red.) weitergeben, nur um aus den SHUs rauszukommen.“

Strafe und Disziplinierung

Im Zentrum des derzeitigen Hungerstreiks stehen fünf konkrete Kernforderungen: Das Ende von Gruppenbestrafungen und behördlicher Willkür, die Aufhebung des Verratszwangs und der sogenannten Gang-Status-Kriterien, das Ende der Langzeitisolationshaft, die Versorgung mit angemessener Nahrung und Einrichtung und Erweiterung der Rechte von Gefangenen mit unbegrenzter Sicherheitsverwahrung. (8)

Die ersten beiden Forderungen beziehen sich auf die gegen Gangs gerichtete Politik der Gefängnisverwaltung. Wie die vermeintlichen Anti-Terror-Maßnahmen hat auch hier die Anschuldigung, Mitglied einer Gang zu sein, den Verlust bürgerlicher Rechte zur Folge. Betroffen sind aber nicht allein tatsächliche Gang-Mitglieder, wie die San Francisco Bay View feststellt: „Diese Zellen sind die Gräber nicht nur vermeintlicher „Gang Mitglieder“, sondern auch von politischen oder politisierten Gefangenen, Menschenrechtsaktivisten und Gefängnisanwälten, also von nahezu jedem, der in den Augen der internen Gang-Ermittler und Administratoren nicht bereit ist, sich passiv in seine Rolle als Ware im industriellen Gefängniskomplex hinzugeben.“

Die Kriterien, mittels derer Gang-Mitglieder identifiziert werden sollen, sind – so die Solidaritätsplattform für die Hungerstreikenden Prisoner Hungerstrike Solidarity – sehr weitgefasst: Tattoos, bestimmte Bücher oder Broschüren, der Kontakt zu anderen Mithäftlingen, wobei schon ein Gruß ausreichen kann. Viele Häftlinge beklagen auch, dass ihre Einstufung als Gang-Mitglied durch falsche Beweise zustande gekommen sei.

Es geht offenkundig nicht darum, besonders gefährliche Häftlinge zum Schutz anderer Menschen von Mithäftlingen zu trennen, wie es die offizielle Legende will. Es geht um systemkonforme Zurichtung und Disziplinierung von Gefangenen – auf Kosten von deren mentaler und körperlicher Gesundheit und zu Ungunsten ihrer Resozialisierbarkeit.

Kaum kritische Öffentlichkeit

Wie katastrophal die Haftbedingungen im Land of the Free sind, zeigt der jüngste Todesfall eines in Einzelhaft befindlichen Häftlings in Kalifornien. Billy Sell, Insasse einer Isolationszelle, verstarb am 22. Juli im kalifornischen SCI Corcoran Gefängnis. Die Gefängnisbehörde behauptete zunächst, es bestehe kein Zusammenhang mit dem Hungerstreik, Mitgefangene allerdings halten dagegen, Sell habe sich sehr wohl beteiligt und schon einige Tage vor seinem Tod nach medizinischer Betreuung verlangt. Mittlerweile mussten auch die Behörden eingestehen, dass Sell spätestens ab dem 11. Juli am Hungerstreik teilgenommen hat. Häftlinge, die Sell gut kannten, bestreiten weiterhin die offizielle Selbstmordversion, auch Amnesty International fordert eine unabhängige Untersuchung des Vorfalls. (9) Ob Selbstmord oder nicht: Da die Isolationshaft nicht nur in Kauf nimmt, sondern sogar darauf abzielt, Gefangene psychisch zu brechen, tragen die US-amerikanischen Behörden in jedem Fall Mitschuld am Tod Bobby Sells – und ungezählter anderer Häftlinge, die ermordet wurden oder den extremen Bedingungen nicht standhielten.

Wenn indessen die Anstrengungen der Häftlinge Erfolg haben sollen, bedarf es einer kritischen Öffentlichkeit, die nicht die Augen verschließt vor den Unmenschlichkeiten eines Gefängnissystems, das weder zur Resozialisierung noch zur Besserung von Gefangenen beiträgt, sondern schlichtweg zur Disziplinierung, Unterwerfung und kapitalistischen Verwertung von Gefangenen dient. In Deutschland jedenfalls scheint es eine solche kritische Medienöffentlichkeit, zumindest wenn es um den „Partner USA“ geht, nicht zu geben.

Während jeder russische oder chinesische Dissident von Zeit und FAZ bis Welt und Bild unabhängig von seinen konkreten Zielen oder dem wirklichen Grad an Repression, von dem er betroffen ist, zum Superhelden hagiographiert wird, verdienen der “weißen Folter” ausgesetzte Häftlinge in den USA offenbar keine kontinuierliche und prominent platzierte Berichterstattung.

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Anmerkungen

(1) http://cdcrtoday.blogspot.de/2013/07/mass-hunger-strike-update.html
(2) http://prisonerhungerstrikesolidarity.wordpress.com/the-prisoners-demands-2/
(3) https://prisonerhungerstrikesolidarity.wordpress.com/2013/02/14/peaceful-protest-to-resume-july-8th-2013-if-demands-are-not-met/
(4) http://www.un.org/apps/news/story.asp?NewsID=44365#.UfuI1Kzz7rQ
(5) http://www.ohchr.org/en/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=11506&LangID=E
(6) http://www.wired.com/wiredscience/2013/07/solitary-confinement-2/
(7) http://sfbayview.com/2011/we-dare-to-win-the-reality-and-impact-of-shu-torture-units/
(8) http://prisonerhungerstrikesolidarity.wordpress.com/the-prisoners-demands-2/
(9) http://www.reuters.com/article/2013/07/31/us-usa-prisons-california-idUSBRE96U02220130731

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