„Ukraine - goodbye“
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Nach den Wahlen im Donbass spricht Kiew von einer Rückeroberung der abtrünnigen Region –
Von SEBASTIAN RANGE, 4. November 2014 –
„Wir haben jetzt eine legitime Führung. Der Donbass gehört nicht mehr zur Ukraine – ob das jemandem nun gefällt oder nicht“, lautet das Fazit des Wahlleiters Roman Ljagin am Montag in Donezk, nachdem am Sonntag erstmals in den selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk in der Ostukraine Wahlen abgehalten wurden.
Dabei wurden die bisherigen „Republikchefs“ Alexander Sachartschenko und Igor Plotnizki als Wahlsieger bestätigt. Nach Auszählung aller Wahlzettel kam demnach Plotnizki in Lugansk auf 440 613 Stimmen oder 63,8 Prozent und lag damit vor seinen drei Mitbewerbern. Dem Donezker Regierungschef Sachartschenko wurden 75,6 Prozent beziehungsweise 765 340 Stimmen zugesprochen. Er hatte zwei Gegenkandidaten.
Sachartschenko war zugleich Spitzendkandidat der Partei „Donezkaja Respublika“, die laut Wählerbefragungen rund Zweidrittel der Stimmen erzielte und somit künftig die stärkste Fraktion im Parlament der „Volksrepublik Donezk“ bilden wird. Zweite Kraft im Parlament mit rund einem Drittel Stimmanteil wurde die Partei „Freier Donbass“. Es waren die einzigen Parteien, die zur Wahl standen.
Die Wahlen verliefen dank starker Sicherheitsvorkehrungen weitestgehend reibungslos. Ein Wiederaufflammen der Kämpfe zwischen den Aufständischen und ukrainischen Truppen im Vorfeld – alleine in den letzten zehn Tagen des Oktobers kamen nach UN-Angaben über dreihundert Menschen durch die Gefechte ums Leben – hatte Gegenteiliges befürchten lassen.
Laut Angaben des Informationsministeriums in Donezk gegenüber Hintergrund nahmen in der „Volksrepublik“ 1 012 682 Menschen von insgesamt 1 379 677 Wahlberechtigten an der Abstimmung teil. Die Bilder langer Schlangen, die sich trotz eisiger Kälte vor den rund 400 Wahllokalen bildeten und mancherorts über einhundert Meter lang waren, zeugten von der hohen Wählermobilisierung. Vielerorts musste die Schließung der Lokale von 20 auf 22 Uhr verschoben werden.
„Es gab eine große Beteiligung in den Wahlbezirken, die wir besucht haben. Viele Staaten Westeuropas wären neidisch über eine solche Beteiligung“, erklärte Sotirios Zarianopoulos, der für die Kommunistische Partei Griechenlands im EU-Parlament sitzt. (1)
Der griechische Politiker gehört zu rund einhundert international Beobachtern, die den Ablauf der Wahlen überwachten. Sie konnten keine Manipulationen oder nennenswerten Störungen feststellen. Kiew hat die „ausländischen Pseudobeobachter“ inzwischen zu „unerwünschten Personen“ erklärt, den künftig die Einreise in das Land verboten werden soll. (2)
Immerhin widerspricht die ukrainische Regierung damit der Darstellung deutscher Medien, die nahezu einhellig behaupten, internationale Wahlbeobachter seien bei der Abstimmung nicht zugegen gewesen. Die EU und die OSZE hatten Bitten der Volksrepubliken abgelehnt, eigene Beobachter zu entsenden.
Kiew erklärt Wahlhelfer zu Terroristen
Die ukrainische Regierung und ihre westlichen Partner verurteilten die Abstimmung mit scharfen Worten. „Es ist eine Farce vor den Mündungen von Panzerrohren und Gewehrläufen, die heute die beiden Terrororganisationen in Teilen des Donbass aufgeführt haben“, erklärte Präsident Petro Poroschenko einer amtlichen Mitteilung zufolge. „Es ist ein furchtbares Ereignis, das nichts gemein hat mit einer wirklichen Willensäußerung.“ Kiew kündigte Strafverfahren gegen alle „Mitwirkenden“ der „illegalen Wahlen“ wegen „Unterstützung des Terrorismus“ an.
Auch die EU und die USA erkennen den ihrer Ansicht nach „verfassungswidrigen“ Urnengang nicht an. Die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Bernadette Meehan, nannte die Abstimmung „gefälscht“ und „illegal“. Die Bundesregierung verurteilte die Abstimmung als „illegitim“. Darüber hinaus sei auch der Ablauf „überaus fragwürdig“ gewesen.
Der Lugansker „Republikchef“ Igor Plotnizki wies die Vorwürfe Poroschenkos zurück, die Wähler seien an die Urnen gezwungen worden. „Es handelt sich um die üblichen Lügen“, sagte Plotnizki.
Das russische Außenministerium bekräftigte in einer Mitteilung, dass es den Willen der Wähler in der Ostukraine achte. Die Abstimmung sei bei hoher Wahlbeteiligung im Großen und Ganzen gut organisiert gewesen.
„Die gewählten Vertreter haben ein Mandat bekommen, die praktischen Aufgaben beim Wiederaufbau eines normalen Lebens in den Regionen zu erfüllen“, teilte die Behörde mit. Russland forderte beide Seiten zum Dialog auf. Nur so könne die Krise in der Ukraine gelöst werden. Zuvor hatte Russlands Außenminister Sergej Lawrow gegen internationalen Protest angekündigt, dass Moskau die Wahlen anerkennen werde.
Die Abstimmung sei nach internationalen Standards abgelaufen, erklärte der prominente russische Außenpolitiker Leonid Sluzki am Sonntag.
Mit dieser Haltung dürften die Vertreter Moskaus auf dem internationalen Parkett allerdings ziemlich alleine dastehen. Selbst wenn es vor Ort in den Wahllokalen zu keinerlei Unregelmäßigkeiten gekommen sein sollte, so kann von einer freien Wahl nicht wirklich die Rede sein. Angefangen von der chaotischen Situation in Bezug auf die Wählerverzeichnisse, über den kurzfristig angesetzten Wahltermin, der einen politischen Meinungsbildungsprozess, zu dem auch ein offener Wahlkampf gehört, kaum möglich machte, bis hin zum Ausschluss wichtiger Akteure wie der Kommunistischen Partei, die aus vorgeblich formalen Gründen nicht zur Wahl antreten konnte – deren Vertreter fanden sich jedoch wie auch diejenigen anderer Parteien auf den Wahllisten der beiden Parteien wieder, die als einzige antraten.
Bei allen Mängeln sollte jedoch nicht vergessen werden, dass Wahlen nach westeuropäischen Standards inmitten der Kriegswirren selbst beim besten Willen nicht zu gewährleisten sind. Die Alternative dazu, auf Abstimmungen gänzlich zu verzichten, ließe sich dagegen noch weniger mit demokratischen Ansprüchen in Einklang bringen – und würde die an die „Volksrepublik“-Regierungen adressierten Vorwürfe, nicht durch Wahlen legitimiert zu sein, kein Ende bereiten.
Auf diesen Aspekt wies der Donezker Regierungschef Sachartschenko hin: „Wir wollen einen gerechten Staat aufbauen. Die Wahlen vom 2. November sind ein entscheidender Moment, um unseren Staat zu legitimieren. Ich muss es offen sagen: Zuvor saßen Aktivisten und Revolutionäre im Obersten Rat, die sich faktisch selbsternannt hatten.“ (3)
Kuriose Lesart: Wahlen als Friedenshindernis
Ausgerechnet in dem sich in den Wahlen ausdrückenden Bemühen der „Volksrepubliken“, auf ihrem Gebiet wieder halbwegs geordnete Verhältnisse zu etablieren und die Bevölkerung in diesen Prozess einzubinden, sehen Kiew und seine westlichen Partner eine Gefährdung einer möglichen friedlichen Lösung.
So erklärte die neue EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, die „illegalen und rechtswidrigen“ Wahlen seien ein neues Hindernis auf dem Weg zum Frieden und widersprächen den Worten und dem Geist der Friedensvereinbarungen, die im September für die Ostukraine getroffen worden seien.
Anfang September hatten die Konfliktparteien in der weißrussischen Hauptstadt Minsk eine Feuerpause und Maßnahmen zur Lösung des Konflikts vereinbart. Diese Vereinbarung sei nach wie vor Richtschnur der weiteren Entwicklung, erklärte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Die Wahlen verstießen dagegen, „deshalb können wir diese nicht anerkennen“. „Ich hoffe, dass Russland jenseits der öffentlichen Erklärungen nichts unternimmt, um das Wahlergebnis zum Anlass zu nehmen, die Separatisten in der Ostukraine zu ermuntern, ihren Weg in die Unabhängigkeit tatsächlich fortzusetzen“, sagte Steinmeier am Montag am Rande eines Besuchs in Indonesien.
Der deutsche Außenminister unterschlägt jedoch, dass es nicht der Kreml ist, sondern die Regierung in Kiew, die mit ihrer rücksichtslosen Kriegführung die Donbass-Bevölkerung permanent ermuntert, sich von der Ukraine zu lösen.
Der wiederholte Einsatz von Streubomben auf Wohngebiete im Donbass durch ukrainische Truppen, der auch noch nach dem Minsker Abkommen erfolgte, liefert den „Separatisten“ das überzeugendste Argument, warum mit Kiew gebrochen werden muss. (4)
Vor diesem Hintergrund mutet die vom Westen eingeforderte Einhaltung des Minsker Abkommens kurios an: Während er die mit den Wahlen erfolgte politische Willensbekundung der Donbass-Bevölkerung als Hindernis für eine friedliche Lösung verurteilt, geht er geflissentlich über die von Kiew begangenen Kriegsverbrechen hinweg.
Nach Ansicht Kiews und seiner Partner verstießen die Wahlen gegen das Friedensabkommen, da dieses Kommunalwahlen in der Ostukraine zwar vorsieht, jedoch nur im Einklang mit den ukrainischen Gesetzen. Zu diesem Zweck hatte Präsident Poroschenko am 16. Oktober ein Gesetz eingereicht, das dem Donbass einen dreijährigen Sonderstatus mit stärkerer Selbstverwaltung einräumen soll.
Das russische Außenministerium widerspricht dieser Darstellung. Poroschenko habe bei Unterzeichnung des Gesetzes die Wahlen im Donbass auf den 7. Dezember terminiert, obwohl das Minsker Abkommen festlege, diese bis spätestens zum 3. November durchzuführen. „Dieses Datum, der 7. Dezember, wurde dem Gesetz willkürlich und einseitig ohne Absprache mit den Selbstverteidigungskräften hinzugefügt”, so das Ministerium in einer Mitteilung.
Zudem sei das Gesetz praktisch nicht umsetzbar, da es nicht spezifiziere, auf welches Gebiet sich der Sonderstatus konkret erstreckt. Kiew hatte seine Unterschrift von dem Dokument zurückgezogen, das im Einklang mit dem Minsker Abkommen eine entsprechende Demarkationslinie festlegen sollte. Die Situation werde obendrein durch die Weigerung des Innenministers verkompliziert, das von Poroschenko am 16. Oktober unterschriebene Gesetz umzusetzen, so Moskau. (5)
Der Westen bringt somit das politische Kunststück fertig, auf die Einhaltung eines Abkommens zu insistieren, während er eine der beiden Seiten, die es unterzeichnete, jedwede Legitimität abspricht – was die Frage aufwirft, mit wem denn dann verhandelt werden soll.
Wer wirklich an einer friedlichen Lösung auf dem Verhandlungswege und dem Vermeiden weiteren Blutvergießens interessiert ist, der muss auch beiden Seiten eine entsprechende Verhandlungslegitimität einräumen.
Moskau hat das getan und fordert die Beteiligten zum weiteren Dialog auf. Auch die nun im Amt bestätigten Regierungschefs der „Volksrepubliken“ erklärten sich zum Dialog „im Geiste der Minsker Gespräche“ bereit. Die ukrainische Regierung müsse jedoch den „militärischen und politischen Druck auf den Donbass einstellen“. (6)
Kiews Lösungsansatz: Rückeroberung und Partisanenkampf
Doch die spricht gegenwärtig in martialischen Tönen von einer „Rückeroberung“ der abtrünnigen Region. Präsident Poroschenko will noch am Dienstag mit dem Sicherheitsrat in Kiew über die mögliche Rücknahme des Sonderstatus-Gesetzes beraten. Die „Banditen und Terroristen“ hätten mit der Durchführung von „Pseudowahlen“ das Gesetz torpediert und die Lage im Donbass erheblich verschärft, erklärte er im Fernsehen.
Außenminister Pawel Klimkin kündigte ein entschlossenes Vorgehen gegen die Aufständischen an. „Tatsächlich sind einige Regionen der Ostukraine unter Kontrolle von pro-russischen Terroristen und russischen Truppen. Das sind aber ukrainische Regionen und wir werden sie uns zurückholen“, sagte er der Bild-Zeitung. Klimkin appellierte an den Westen, Sanktionen gegen Russland zu verschärfen – und traf damit bei der Bundeskanzlerin auf offene Ohren. Angela Merkel drohte Russland mit einer neuen EU-Sanktionsrunde.
In Kiew stehen die Zeichen auf Fortsetzung des Krieges. Das war absehbar, tummeln sich seit den Wahlen vom 26. Oktober doch nun nahezu einhundert Kommandeure und Mitglieder rechtsradikaler Milizen im Kiewer Parlament. Ausgestattet mit parlamentarischer Immunität nehmen diese kaum noch ein Blatt vor den Mund. Vor Tagen kündigte der Kommandeur des Freiwilligen-Bataillons „Dnepr-1“, Jury Bereza, im ukrainischen Fernsehen an, seine Männer bereiteten sich auf den Partisanenkampf vor – und zwar auf russischem Boden. (6) Der Nationalist, der Ambitionen auf den Posten des Verteidigungsministers hegt, sitzt für die vom US-Lieblingsministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk geführte Partei Volksfront in der Rada.
Mit der Umsetzung seiner Eroberungspläne wird Kiew unter der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten jedoch nur jene Haltung verstärken, die eine ältere Frau während ihrer Stimmabgabe gegenüber dem russischen Fernsehen kundtat: „Ukraine – goodbye!“
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(mit dpa)
Anmerkungen
(1) http://novorossia.today/novorossia-news/the-deputy-of-the-european-parliament-ma.html
(2) http://de.ria.ru/politics/20141102/269923404.html
http://en.ria.ru/politics/20141103/195021440/Foreign-Observers-Surprised-With-Kievs-Intention-to-Declare-Them-Pesona-Non-Grata.html
(3) http://novorossia.today/novorossia-news/the-head-of-the-dpr-voted-in-favour-of-p.html
(4) Siehe: http://www.hintergrund.de/201410213290/globales/kriege/kiew-setzt-streubomben-gegen-wohngebiete-ein.html
(5) http://www.mid.ru/brp_4.nsf/0/AF2CB72F272C0B60C3257D81003DDBD6
(6) http://rt.com/news/201703-ukraine-mp-bombing-russia/