Tunesien: Säkulare Kräfte setzen sich durch
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Von REDAKTION, 30. Oktober 2014 –
Fast vier Jahre ist es nun her, als sich der 26-Jährige Straßenhändler Mohammed Bouazizi in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid Mitte Dezember 2010 mit Benzin übergossen hatte und anzündete. Mit seinem Fanal wurde er zur Symbolfigur des Arabischen Frühlings, der zunächst in Tunesien unter dem Schlagwort „Jasminrevolution“ begann, um sich dann auf Ägypten, Libyen, Syrien und den Jemen auszuweiten.
Anders als diese Länder versank Tunesien mit seinen knapp elf Millionen Einwohnern anschließend jedoch nicht in Gewalt und Chaos – der politische Übergang zu demokratischen Verhältnissen konnte weitgehend friedlich vollzogen werden. Am Sonntag hat das Land nun zum zweiten Mal seit der Flucht des Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali ins saudische Exil Anfang 2011 bei einer freien Wahl über eine Volksvertretung abgestimmt. Auch wenn ein amtliches Endergebnis noch nicht verkündet wurde, so kann die entscheidende Frage bereits beantwortet werden: Die säkularen Kräfte konnten sich gegenüber den Islamisten durchsetzen.
Die „moderat-islamistische“ Partei Ennahda, der es bei den ersten freien Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung im Oktober 2011 noch gelungen war, alle anderen Parteien mit deutlichem Abstand abzuhängen, gestand ihre Niederlage ein. Parteisprecher Ziad al-Adhari gratulierte der säkularen Allianz Nidaa Tounes (Ruf Tunesiens) und erklärte, die Ennahda werde das Wahlergebnis respektieren.
Laut vorläufigen Ergebnissen konnte Nidaa Tounes 38 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. Damit stellt die Partei 83 der insgesamt 217 Abgeordneten des Parlaments. Neben ihr werden künftig drei weitere säkulare Parteien im Parlament vertreten sein. Neben den beiden wirtschaftsliberalen Kräften Freie Patriotische Union (17 Sitze) und Afek Tounes (9 Sitze) gelang auch dem linken „Volksfront“-Bündnis der Einzug in das Abgeordnetenhaus (12 Sitze).
Die Ennahda kam demnach auf 31 Prozent der Stimmen und wird künftig mit 68 Sitzen rund ein Viertel der Abgeordneten stellen. Alle Zahlen sind unter dem Vorbehalt noch möglicher Änderungen zu betrachten. Die Islamisten hätten „den Preis dafür zahlen“ müssen, als erste Partei nach der Revolution die Macht übernommen zu haben, erklärt sich Amer Laarayedh, der der Führungsriege der Ennahda angehört, den Absturz seiner Partei, die bei den Wahlen 2011 noch über vierzig Prozent der Sitze erobert hatte.
Die Partei habe an Popularität eingebüßt, da sie die mit der Revolution verbundenen hohen Erwartungen nicht erfüllen konnte und damit beschäftigt war, das mit dem Umbruch verbundene Chaos zu bewältigen. „Hätten wir dieses Verantwortung nicht übernommen, dann gäbe es keine Verfassung, kein Parlament und nicht diese Wahlen“, so Laarayedh gegenüber der Nachrichtenagentur AP. (1) Den Islamisten war es nicht gelungen, der steigenden Arbeitslosigkeit und Inflation Herr zu werden. Die wirtschaftlich wichtige Tourismusbranche liegt noch immer brach.
Sie konnten ihre Wählerbasis, die vor allem in den ländlichen, wirtschaftlich benachteiligten Gebieten verwurzelt ist, daher nicht im selben Maße mobilisieren wie 2011. Die Wahlbeteiligung in ihren Hochburgen lag oft deutlich unter dem Landesdurchschnitt von rund sechzig Prozent. So zog es nur knapp 48 Prozent der Wahlberichtigten in Sidi Bouzid, dem Ausgangsort der Jasminrevolution, an die Urnen.
Die Enttäuschung über ein Ausbleiben der Verbesserung der sozialen Lage wog für viele Ennahda-Anhänger offenbar schwerer als die Befürchtung, künftig unter einer säkularen Regierung zu leben. Damit unterscheide sie sich von ihrem Vorbild, der türkischen Regierungspartei AKP des Präsidenten Erdoğan, die ihre Wählerschaft trotz aller Skandale und Korruptionsvorwürfe fest im Griff habe, so ein Kommentar der Tunis Daily News. (2)
Die Wahlen verliefen ohne wesentliche Zwischenfälle, was alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Denn seit Ausbruch der Jasminrevolution kommt es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und militanten Islamisten. Erst im März dieses Jahres wurde der seit 2011 bestehende Ausnahmezustand aufgehoben. Die Gefahr ist jedoch nicht gebannt. So waren im Juli vierzehn Soldaten im westlich gelegenen Chambi-Gebirge von der Terrorgruppe Ansar al-Scharia getötet worden. Die Region ist eine Hochburg der Extremisten, zu denen auch Kämpfer der Organisation „Al-Qaida im Islamischen Maghreb“ gehören.Wie groß das Potential für solche Gruppen ist, zeigt die Tatsache, dass rund dreitausend Tunesier in den Reihen der Dschihadisten in Syrien kämpfen. Der Umgang mit ihnen sorgt des Öfteren für politische Spannungen.
Nachdem vier Tage vor dem Urnengang sechs Menschen bei Feuergefechten in der Hauptstadt Tunis getötet wurden, wuchsen die Befürchtungen, der Ablauf der Wahlen könnte durch Anschläge gefährdet werden. Rund 80 000 Angehörige der Sicherheitskräfte waren im Einsatz, um das zu verhindern. Nidaa Tounes hatte die Terrorbekämpfung zu einem zentralen Thema ihres Wahlkampfes gemacht – wie sich nun zeigt, mit Erfolg. Um die notwendige Regierungsmehrheit von 109 der 217 Sitze zu sichern, muss sie sich allerdings Koalitionspartner suchen.
Obwohl sie sich im Wahlkampf „klar gegen Ennahdha positioniert hat, schließen beide Parteien eine Koalition nicht aus“, berichtete die Welt am Dienstag und zitiert den Ennahda-Mitbegründer Abdelfattah Mourou mit den Worten: „In der Politik ist nichts unmöglich“. (3) Laut Angaben der türkischen Tageszeitung Sabah vom Mittwoch habe Nidaa Tounes eine Koalition mit den gemäßigten Islamisten jedoch ausgeschlagen. (4)
Mit der zu Ende der Woche erwarteten Verkündung des amtlichen Endergebnisses sollen die Koalitionsverhandlungen beginnen. Wenn das neue Parlament die Arbeit aufnimmt, kann die derzeitige Übergangsregierung von einer gewählten politischen Führung abgelöst werden. Mit der Wahl eines Präsidenten bis zum Jahresende soll der nach der Jasminrevolution eingeleitete Weg in die Demokratie abgeschlossen sein. Bis spätestens Februar soll das Kabinett dann arbeitsfähig sein.
Die Wahlen hätten gezeigt, das Tunesien einen großen Kontrast zu anderen Ländern der Region bilde, so die französische Zeitung Le Figaro: „Algerien liegt am Boden und wartet auf eine neue Generation von Politikern, Libyen steckt im Griff der Gewalt bewaffneter Milizen, und in Ägypten herrschen nach der Intoleranz der Muslimbruderschaft die Militärs mit eiserner Faust.“Auch die Bundesregierung bescheinigte dem Land eine Vorreiterrolle in der kriselnden Region. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte: „Tunesien hat eine weitere wichtige Wegmarke erreicht auf dem Weg zu Demokratie und Freiheit. Das Land bleibt damit unter den Ländern des arabischen Umbruchs ein Lichtblick.“
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Anmerkungen
(1) http://www.huffingtonpost.com/2014/10/28/tunisia-islamists-election_n_6063424.html
(2) http://tdailynews.net/story-z5792700
(3) http://www.welt.de/politik/ausland/article133720055/Islamisten-zeigen-sich-in-Tunesien-als-faire-Verlierer.html
(4) http://www.dailysabah.com/africa/2014/10/29/tunisias-ennahda-party-to-not-allow-the-return-of-singleparty-rule