Totalüberwachung: Gestern „Verschwörungstheorie“ – heute Realität
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Von SUSANN WITT-STAHL, 7. Juni 2013 –
Die Vereinigten Staaten werden offenbar vollends zum Sicherheits- und Überwachungsstaat transformiert. Der US-Geheimdienst greift in großem Stil Informationen von marktführenden Internet-Diensten wie Google und Facebook ab. Nicht nur die amerikanischen – Nutzer in aller Welt können betroffen sein. Kritiker meinen: An dem Skandal sei vor allem beängstigend, dass die Machenschaften der amerikanischen Geheimdienste völlig legal seien.
Vor zwei Tagen hatte die britische Tageszeitung Guardian berichtet, dass der US-Telekomkonzern Verizon der National Security Agency (NSA), dem wichtigsten und am besten ausgerüsteten Militärnachrichtendienst der Vereinigten Staaten, detaillierte Informationen über alle inneramerikanischen und internationalen Telefongespräche geben müsse. Dabei soll es angeblich nicht um die Inhalte gehen, sondern um die „Metadaten“ der Verbindungen, also darum, wer mit wem wie lange und wie oft und von wo aus telefoniert hat. Aber auch versendete E-Mails, Fotos, Videos, Chats und gespeicherte Daten, würden herangezogen. Damit sind speziell ausgebildete Analysten in der Lage, Kontakte, Bewegungen, Gewohnheiten von Personen über längere Zeiträume hinweg zu verfolgen und auszuforschen.
Ein geheimes Gericht habe die Schnüffelaktion genehmigt. Die Gerichtsentscheidung soll auf dem „Protect America Act“ basieren, der nach den Anschlägen vom 9/11 den US-Behörden weitreichende Befugnisse zur Überwachung von Terrorverdächtigen eingeräumt hat. Laut einem Bericht des Wall Street Journal gibt es für andere US-Telekommunikationsunternehmen wie AT&T und Sprint ähnliche Gerichtsbeschlüsse für die Datenweitergabe an die NSA.
Der Guardian veröffentlichte unter anderem mehrere Seiten mit Grafiken aus einer Präsentation, die den Fluss an Informationen an die NSA im Rahmen eines Programms mit dem Code-Namen „PRISM“ zeigen. Aus dem Dokument geht hervor, dass die Daten-Sammlung, die seit 2007 vorgenommen wird, Schritt für Schritt auf immer mehr Internet-Unternehmen ausgeweitet wurde. Aus dem auf diese Weise erlangten Material würden die Geheimdienste inzwischen größtenteils die Briefings von US-Präsident Barack Obama bestreiten und durchschnittlich im Monat mindestens 2.000 Berichte erstellen.
Microsoft sei von Anfang an dabei gewesen, Yahoo seit 2008, Google und Facebook seit 2009 und Apple seit Oktober 2012. Der Washington Post zufolge werden mit PRISM auch Daten von AOL, Skype und YouTube und des in Europa wenig bekannten Anbieters PalTalk ausgewertet.
PRISM, das jährlich rund 20 Millionen Dollar koste, sei streng geheim, schrieben die Zeitungen. Die wenigen Washingtoner Kongressmitglieder, die davon wüssten, seien zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Geheimdienst-Koordinator James Clapper betonte in einer Stellungnahme, die Berichte bezögen sich auf ein Programm, bei dem Daten über Bürger anderer Länder außerhalb der USA gesammelt würden. Er weigerte sich aber, Details bekannt zu geben, rechtfertigte die Maßnahmen als notwendig, „um unsere Nation vor einer Vielfalt von Bedrohungen zu schützen“, und kritisierte, dass die Veröffentlichung die Arbeit der Geheimdienste erschwere. (1)
Facebook & Co geben sich ahnungslos
Die Internet-Unternehmen stehen vor einem Image-GAU. Erwartungsgemäß erklärten sie einhellig, ihr Name sei Hase, und sie wüssten von nichts. Daten würden sie an Behörden nur auf der Basis eines Gerichtsbeschlusses übergeben. Dieses Verfahren ist bekannt, Google etwa veröffentlicht in seinen Transparenz-Reports regelmäßig eine Statistik zu solchen Anfragen. „Wir übergeben Daten der Regierung in Einklang mit dem Gesetz, und wir prüfen alle solchen Anfragen gründlich. Von Zeit zu Zeit wird behauptet, dass wir für die Regierung eine ,Hintertür‘ zu unseren Systemen geschaffen haben, aber Google hat keine Hintertür, über die die Regierung Zugriff auf private Daten der Nutzer hat“, sagte Sprecher Kay Oberbeck.
Das weltgrößte Online-Netzwerk Facebook gab eine ähnliche Erklärung ab: „Wir gewähren keiner Regierungsorganisation direkten Zugang zu Facebook-Servern.“ Jede Anfrage nach Daten oder Informationen zu bestimmten Personen werde gründlich nach der Gesetzeslage geprüft und nur soweit wie rechtlich nötig erfüllt. Man habe bis zu den Berichten nichts von einem solchen Programm gehört, sagte eine Sprecherin. Auch Apple erklärte, nie von PRISM gehört zu haben. „Wir geben keiner Regierungsbehörde direkten Zugang zu unseren Rechnern. Und jede Regierungsbehörde, die Kundendaten anfordert, muss eine entsprechende Gerichtsanweisung haben“, ließ Apple das Wall Street Journal-Blog All Things D wissen. Microsoft betonte ebenfalls, man gebe Daten von Kunden nur auf Grundlage von rechtlich bindenden Forderungen weiter. „Wenn die Regierung ein breiter angelegtes nationales Sicherheitsprogramm zur Sammlung von Kundendaten hat, nehmen wir nicht daran teil“, hieß es in einer von dem amerikanischen Technologie-Blog TechCrunch veröffentlichten Erklärung. Und, wie sollte es an anders sein, Yahoo versicherte: „Wir gewähren der Regierung keinen direkten Zugang zu unseren Servern, Systemen oder Netzwerk.“
Der Gründer von TechCrunch, Michael Arrington, begegnet den Unisono- Beteuerungen der Unternehmen mit großer Skepsis: Lege man den Wortlaut der Dementis auf die Goldwaage, finde sich durchaus ein Spielraum für eine großflächige Datenweitergabe, meint Arrington. Zum Beispiel, wenn die Anbieter auf Gerichtsbeschluss regelmäßig eine Kopie aller Daten an die NSA weitergeben würden. Damit wären alle Verlautbarungen, man gewähre dem Geheimdienst keinen „direkten“ Zugang und leite nur rechtmäßig angeforderte Daten weiter, völlig korrekt – und die Behörden hätten trotzdem alle Informationen.
Gigantische Dimensionen
Technisch ist die Speicherung und Auswertung großer Datenbestände jedenfalls kein Problem. Unter dem Stichwort „Big Data“ gibt es Technologien, die auch gewaltige Datenbestände immer schneller durchkämmen können. Die NSA mit Sitz in Fort Meade im Bundesstaat Maryland ist darauf spezialisiert. Das Blog Gigaom berichtet, der Geheimdienst setze für die Analyse der Überwachungsdaten eine Software namens Acumolo ein. Diese Datenbank sei 2008 von der NSA eingerichtet und in Zusammenarbeit mit der Apache-Stiftung weiterentwickelt worden, die mit dem Apache-Server eines der wichtigsten Open-Source-Projekte im Web unterhält. In dem gigantischen NSA-Datenpool seien angeblich bereits Dutzende Petabytes Daten (Petabyte = 1 Million Gigabyte) abgelegt. Die wichtige Frage, über die bisher immer spekuliert wurde, ist jedoch, welche Ausmaße die Datensammlung hat. Die gigantische Dimension, die der derzeitige Kenntnisstand ergibt, wäre vor wenigen Tagen vermutlich noch als „Verschwörungstheorie“ diskreditiert worden.
Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Behauptung eines ehemaligen Technikers von AT&T zumindest nicht mehr abwegig. Der Mann hatte berichtet, er habe vor rund zehn Jahren miterlebt, wie der gesamte Internet-Verkehr im Netz des Verizon-Konkurrenten durch einen NSA-Raum geleitet worden sei. Auf einer Grafik seien damals Prismen dargestellt gewesen, die den Datenverkehr wie Licht brachen und abzweigten.
Auch in Deutschland?
Von dem ungeheuerlichen Vorgehen der US-Geheimdienste könnten auch deutsche Bürger betroffen sein. Die Bundesregierung kündigte heute eine Prüfung an. Ein Sprecher des Innenministeriums sagte, nach bisherigen Erkenntnissen handle es sich um „amerikanische Vorgänge auf amerikanischem Boden“. Das Verbraucherministerium ergänzte, dass den beteiligten Unternehmen Fragen gestellt werden würden, sollten die Berichte zutreffen. Deutschland sei für jene ein großer Markt, und sie müssten sich an hiesiges und europäisches Recht halten. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) forderte schnelles Handeln. „Jetzt ist absolute Transparenz und Aufklärung notwendig. Auch die deutschen Bürger wollen nicht, dass ihre Daten automatisch bei den amerikanischen Diensten landen.“
Der oberste Datenschützer der Republik, Peter Schaar, konnte sich zu kritischeren Worten durchringen: „Eine anlasslose, allumfassende Erhebung, Speicherung und Auswertung von Telekommunikationsdaten durch Sicherheitsbehörden ist nach deutschem Recht unzulässig“, betonte der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Nach den Enthüllungen einer „Totalüberwachung“ müsse die US-Regierung jetzt unbedingt für Klarheit sorgen, forderte Schaar. „Angesichts der Vielzahl deutscher Nutzer von Google-, Facebook-, Apple- oder Microsoft-Diensten erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie sich für eine Aufklärung und Begrenzung der Überwachung einsetzt.“
Es ist aber nicht anzunehmen, dass Vertreter der schwarz-gelben Regierung auch nur ansatzweise passende Worte für diese, gelinde gesagt, dreiste und in höchstem Maße alarmierende Bespitzelungsaktion finden wird – geschweige denn die US-Regierung zu wahrheitsgemäßen und detaillierten Angaben über deren Umfang bewegen will und kann.
Schon gar nicht wird sie die bitterste aller Wahrheiten aussprechen, die der Skandal offenbart – die bürgerlich-freiheitliche Grundordnung der westlichen Demokratien droht vollständig zerstört zu werden. „Dass ein US-Nachrichtendienst per Geheimerlass die Verbindungsdaten von Millionen Bürgern einsammelt, ist beunruhigend. „Noch beunruhigender“ sei aber, dass das amerikanische Gesetz, den Sicherheitsbehörden alle Rechte dazu gibt, bringen die Journalisten Johannes Kuhn und Hakan Tanriverdi auf sueddeutsche.de das größte Problem auf den Punkt. „Das ganze Ausmaß der Überwachung wird womöglich erst in Jahrzehnten bekannt werden.“
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(mit dpa)