Weltpolitik

Tauben der Hoffnung

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Trotz Einbußen bei der Wahl zum türkischen Parlament feiern Kurden in Diyarbakir das Ergebnis der Demokratischen Partei der Völker –

Eine Reportage von INGA LÄUTER , Diyarbakir, 2. November 2015 –  

Glassplitter, Einschusslöcher an Mauern und Häusern, die eindeutig nicht nur von Kleinkaliberwaffen stammen, prägen das Bild in Diyarbakirs zentralem Stadtteil Sur. Hier, in der heimlichen Hauptstadt der türkischen Kurden, haben noch Mitte September – gerade zwei Wochen vor der für das Land und die Region so wichtigen Wahl – heftige Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Kurden getobt. In den engen Gassen flüchten die Einwohner in ihre Häuser, wenn Fremde auftauchen. Aber ein freundliches Wort auf Kurdisch genügt, um mitten im gestrigen Wahltrubel in ihre Häuser eingeladen zu werden.

Dass ein paar Meter weiter Polizeipanzer vor den Wahllokalen stehen, die da nicht stehen dürften, wie die HDP-Abgeordnete Feleknas Uca sagt, hält niemanden hier ab – weder von der Wahl, noch davon gegen die Staatsmacht und ihre Repressalien das Wort zu erheben. Die ehemalige Europaabgeornete Uca, ist am Sonntagmorgen dennoch aufgebracht über das Gebahren des Staats. „Die wollen natürlich versuchen, die Leute einzuschüchtern. Aber wir haben bei Gericht Beschwerde eingelegt. Jetzt müssen wir abwarten.“ Mit ihrem Fahrer ist die jesidische Kurdin, die zehn Jahre für die Linke im Europaparlament saß, unterwegs von Wahllokal zu Wahllokal. Zivile Polizisten sollen die Sicherheit bei den Wahlen gewährleisten, das sei ok, sagt sie. Gepanzerte Fahrzeuge und Gewehre allerdings, seien direkt vor den Wahllokalen nicht erlaubt und verfolgen andere Ziele, da sind sich alle einig.

Spuren des Krieges mit dem türkischen Staat: In vielen kurdischen Städten sieht man Einschusslöcher

In Sur bieten sich überall ähnliche Bilder: Ein oder zwei gepanzerte Polizeifahrzeuge stehen vor den Schulen, in denen mehrheitlich die Wahlen stattfinden. Die Gesichter der Polizisten sind teilweise vermummt. Andere geben sich freundlich, tätscheln Kindern den Kopf und machen Scherze mit ihnen. Auf den Schulhöfen tummeln sich Kinder und Wähler, Teeverkäufer und zivile Polizisten. Eine spürbare Spannung liegt in der Luft, trotzdem bleibt es an diesem Tag in Sur bis auf einen kleineren Zwischenfall friedlich. Vielleicht auch deshalb, weil viele internationale Journalisten, vor allem Fotografen, sich in der Suleyman-Nazif-Schule tummeln, in deren Nähe plötzlich drei gepanzerte Fahrzeuge und zwei Zivilfahrzeuge eine Straßenecke absperren. Es ist 15 Uhr 45, kurz vor Schließung der Wahllokale, und schnell werden Theorien laut, man wolle die letzten Wähler vielleicht hindern, ihre Stimme abzugeben. Eine Razzia sei im Gange, ist das nächste Gerücht. Schließlich gibt einer der Polizisten einer türkischen Journalistin Auskunft: Man habe sich von einer Person bedroht gefühlt und eine Personenkontrolle durchgeführt. Als die neugierig angespannte Menschenmenge wieder in den Hof der Schule zurückkehrt, bleibt ein schales Gefühl. Wer braucht schon 20 schwer bewaffnete Männer, um eine verdächtige Person zu kontrollieren?

In der Schule haben derweil die ersten Zählungen begonnen. Mit lauter Stimme werden vor zahlreichen Zuschauern, Presse und zwei Wahlbeobachtern aus England, die Stimmen in den Klassenzimmern gezählt, die Umschläge geöffnet, allen gezeigt und immer wieder die Aufzeichnungen der Helfer abgeglichen.

Dass in Sur nur ein Sieger denkbar ist, ist klar. Dennoch ist der Jubel groß, als die Ergebnisse ausgezählt sind. Frauen stimmen ein Konzert aus Zungenschnalzen an, Jugendliche skandieren: „Lang lebe unser Führer Apo“, also Abdullah Öcalan, der Apo (Onkel) genannt wird. Es wird geklatscht und gejubelt. In all dem Trubel schüttet ein Junge einen Karton voller Tauben auf den Schulhof, ein weiterer folgt. Es wird gefeiert, auch wenn bald klar ist, dass die linke kurdische HDP an Stimmen eingebüßt hat. Das allerdings, sagt Serhat Demirkapu, Mitglied der HDP in Sur, hänge auch damit zusammen, dass viele während der Kämpfe in der Stadt geflüchtet seien. Wählen aber dürften sie nur an ihrem Wohnort. Zweifel hegt der 48-Jährige auch daran, dass bei der Übermittlung der Briefstimmen aus dem Ausland alles mit rechten Dingen zugeht. Die würden von den Konsulaten nach Ankara geschickt und dort ausgezählt. „Das ist alles ein großes Loch“, sagt Demirkapu, zieht die Schultern hoch und kehrt die Handflächen nach außen. „Was will man machen“, soll das heißen.

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Noch ist das Ergebnis nicht amtlich. Doch es zeichnet sich ein Sieg für die islamisch-konservative AKP ab. Der Kampf der Kurdinnen und Kurden wird dennoch weitergehen.

Die amtlichen Ergebnisse werden so oder so erst in rund einer Woche vorliegen. Bisher aber meldet CNN Türk, einen gefährlich hohen Wahlsieg für die islamisch-konservative AKP von Staatspräsident Reccep Tayyip Erdogan mit 49,5 Prozent (317 Sitze) und gerade noch 10,8 Prozent (59 Sitzen) für die HDP. Aber: „Die Kurden geben nie auf“, fügt Demirkapu an und am Ende des Tages steigen Tauben auf über Sur.

# Fotos: Silvio Hoffmann

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