Weltpolitik

Syrien: Wer trägt die Verantwortung für das Massaker von Hula?

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Die UN spricht von einer „dritten Seite“, die außerhalb der Regierungstruppen und der  bewaffneten Oppositionsgruppe „Freie  Syrische Armee“ operiert. Vieles deutet darauf hin, dass Todesschwadronen nach einer bewährten Methode der „US-Aufstandsbekämpfung“ den Syrien-Konflikt anheizen. –

Von KARIN LEUKEFELD, 30. Mai 2012 –

„Ich habe entschieden, den syrischen Botschafter in Berlin des Landes zu verweisen.“ So beginnt eine knappe Erklärung des Auswärtigen Amtes, mit der Bundesaußenminister Guido Westerwelle am vergangenen Dienstag die Beziehungen zu Syrien vorerst beendete. Deutschland handele „gemeinsam mit seinen Partnern“. Botschafter Radwan Lutfi wurde zur „persona non grata“ erklärt und muss binnen 72 Stunden Deutschland verlassen. Als Grund nennt Westerwelle das Massaker in dem kleinen Ort Hula (Provinz Homs), bei dem am 25. Mai 108 Menschen getötet worden waren. „Das syrische Regime trägt für die schrecklichen Vorkommnisse in Hula Verantwortung“, so Westerwelle.

Etwa zur gleichen Stunde, als der syrische Botschafter in Berlin zur „persona non grata“ erklärt wurde, weil seine Regierung „Verantwortung“ für das Massaker von Hula trage, trat Rupert Colville, Sprecher des UN-Kommissariats für Menschenrechte, in Genf vor die Presse. Die meisten Opfer des Massakers seien „aus nächster Nähe“ ermordet worden, sagte Colville über das Geschehen in Hula. Es habe „Massenexekutionen an zwei verschiedenen Orten“ gegeben. Alles deute darauf hin, dass „ganze Familien in ihren Häusern erschossen wurden“. Weniger als zwanzig Personen seien durch Artilleriebeschuss (der Armee, Anm. der Autorin) getötet worden. Weder Colville, noch der militärische Leiter der UN-Beobachtermission in Syrien, General Robert Mood, beschuldigten bisher die syrische Führung, die Morde begangen oder gar in Auftrag gegeben zu haben. Sowohl die UN als auch die syrische Regierung haben Untersuchungen eingeleitet.

Es bleibt unklar, wer für das Morden in Hula und den umliegenden Dörfern verantwortlich ist. Wie seit Monaten hatte auch dieses Mal die bekannte „Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ (SOHR, London) von dem Massaker in Hula berichtet, unter Berufung auf „Augenzeugen“. Die staatliche Nachrichtenagentur SANA berichtete am Samstag ebenfalls von einem Massaker an Familien in Taldo und Al-Shumariyeh, was in westlichen Medien weitgehend unerwähnt blieb. Ein „Augenzeuge“ berichtete (Spiegel-Online), die „Freie Syrische Armee“ (FSA) habe am Freitagmittag einen Angriff auf militärische Kontrollpunkte der regulären syrischen Armee gestartet, nachdem diese auf eine Demonstration von Regierungsgegnern in Hula gefeuert habe. Dann habe die FSA sich zurückgezogen, woraufhin die „Schabiha“ die Familien massakriert hätten. Sicher sei das aber nicht. Die „Schabiha“ gelten als Schlägertruppe des Systems Assad. Nach Auskunft der syrischen Regierung (Verteidigungs- und Innenministerium) hätten am Freitagmittag 300 bis 400 mit modernsten Waffen – Raketenabwehrkanonen, Granatwerfer, Maschinengewehre auf Pick-Up-Fahrzeugen – ausgerüstete Männer die Armeeposten angegriffen. Die Armee habe ihre Stellungen nicht verlassen, sich aber verteidigt. Die Massaker an der Zivilbevölkerung seien von „Terroristen der Al Khaida“ verübt worden. Die Regierung wies jede Beteiligung daran zurück. Da die SOHR nur von einem Ort des Massakers (Hula) spricht, die syrische Regierung zwei weitere Ortsnamen nennt und auch die UN von „zwei verschiedenen Orten“ spricht, könnten die Taten auch von verschiedenen Gruppen begangen worden sein.

Die „dritte Seite“

Sowohl für die Zivilbevölkerung als auch für Armee und staatliche Sicherheitskräfte sind die Kampfparteien oft nicht mehr auseinander zu halten. So berichteten Einwohner der vor den Toren von Damaskus liegenden Satellitenstadt Derya vor wenigen Wochen (der Autorin), die „Freie Syrische Armee“ patrouilliere mit Pick-Ups und aufgepflanzten schweren Maschinengewehren durch die Straßen, weswegen man nicht mehr zur Arbeit und die Kinder nicht mehr in die Schule gingen. Auf Nachfragen stellte sich heraus, dass es sich um offizielle Patrouillen staatlicher Sicherheitskräfte und nicht um „FSA-Kämpfer“ handelte, die in Derya durch die Straßen fuhren. Aus den Kampfgebieten in Homs und entlang der syrisch-libanesischen Grenze wurde bekannt, dass Armeeeinheiten sich täglich wechselnde Erkennungsmerkmale anlegen, um sich von den ebenfalls Uniformen tragenden bewaffneten Gruppen unterscheiden und untereinander erkennen zu können. In unübersichtlichen und gefährlichen Kampfsituationen können reguläre Uniformen und Tarnkleidung oft nicht unterschieden werden.

Diplomatische Beobachter und arabische Journalisten, die in den Kampfgebieten zwischen Jisr as-Shoughur (türkisch-syrische Grenze), Idlib, Hama, Homs und Al Qusaiyr (libanesisch-syrische Grenze) recherchiert haben, sprechen von bis zu dreißig verschiedenen Kampftruppen der Aufständischen. Sie reichen von salafistischen Islamisten und Jihadisten mit Afghanistan-, Irak- und Libyenerfahrung bis hin zu Syrern, die ursprünglich nur zum Gewehr gegriffen hatten, um Blutrache für einen getöteten Verwandten zu üben. Der Nordlibanon und insbesondere die Hafenstadt Tripoli werde immer mehr zur Basis und zum Durchgangslager für Jihadisten, schreibt George Malbrunot, Reporter der französischen Tageszeitung Le Figaro nach einem Besuch im nördlichen Zedernstaat. Die islamistischen Veteranen zögen mit jungen Kämpfern gemeinsam nach Syrien. Einer der Veteranen, der sich Scheich Saad Eddin Ghia nennt, sagte dem Reporter, er ginge vor Sonnenaufgang über die grüne Grenze nach Syrien, „als Bauer verkleidet“. Am Abend kehre er in den Libanon zurück, seine Waffe ließe er in Syrien in einem Versteck. Mit ihm zögen täglich mindestens 100 libanesische Salafisten und bis zu 400 Freiwillige, von denen keiner aus Syrien käme. Bekannt wurde die „Islamistenroute“ durch den Tod von zwei bekannten libanesischen Kämpfern, die Ende April in Syrien getötet worden waren. Dutzende Jihadisten fanden bereits den Tod in Syrien, darunter Tunesier, Jordanier, Ägypter und Libyer. Auch ein Franzose, ein Belgier und ein Brite kamen bei Kämpfen um.

Die größte Jihadistenbrigade sei bei Idlib, nahe der türkischen Grenze stationiert, schreibt die libanesische Tageszeitung As Safir. Die libyschen Kämpfer unter ihnen hätten 2011 im Auftrag Katars gegen Muammar Ghaddafi gekämpft. Während Salafisten sich auch Gruppen der „Freien Syrischen Armee“ anschließen würden, blieben die Jihadisten lieber für sich. Die „Libyer arbeiten für uns als Militärberater“, sagte ein salafistischer Kämpfer via Skype dem Figaro-Reporter Malbrunot. Als er 2003 im Irak gekämpft habe, habe die „örtliche Niederlassung von Al Khaida alle Ausgaben bezahlt“, so der Jihadist Scheich Ghia zu dem französischen Reporter. Jihadisten seien für die schweren Anschläge der vergangenen Monate in Syrien verantwortlich. Jeder Anschlag sei beste Werbung und bedeute mehr Zulauf und mehr Geld von Unterstützern. Dennoch erhielten Kämpfer in Syrien nicht mehr als 200 US-Dollar, beschwert sich ein Gesprächspartner Malbrunots. Nur für Selbstmordattentäter gebe es mehr. 1997 in Afghanistan habe er von den Saudis 5000 US-Dollar Startgeld erhalten, später einen Monatslohn von 800 US-Dollar.

Abdul-Ghani Jawhar, einer der beiden Jihadisten aus dem Libanon, die Ende April in Syrien getötet wurden, war bei westlichen Geheimdiensten gut bekannt. Der französische Militärgeheimdienst geht davon aus, das er an einem Anschlag auf französische UNIFIL-Truppen im Libanon beteiligt war. In diplomatischen US-Kreisen wird vor einer „Jihadisten Achse“ zwischen Tripoli und der irakischen Provinz An Anbar gewarnt, die durch Syrien verlaufe. Die US-Botschaft in Syrien schloss nach den ersten Anschlägen, die am Tag vor Weihnachen 2011 Damaskus erschütterten. Washington ist überzeugt, es in Syrien mit „Al Khaida“ zu tun zu haben. Der Meinung schloss sich inzwischen auch UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon an, der von einer „dritten Seite“ in Syrien spricht, „Al Khaida“.

Bewährte US-Methoden mit verlässlichem Personal

John Negroponte setzte während seiner Amtszeit als US-Botschafter im Irak die sogenannte Salvador Option um.

Vieles deutet darauf hin, dass sich hinter dem Label Al-Khaida ein altes Modell der US-Aufstandsbekämpfung verbirgt: Todesschwadronen à la El Salvador. Der Ökonomieprofessor Michel Chossudovsky erinnert in einem Beitrag für das alternative Internetportal Global Research an die „Salvador Option“, die der frühere US-Botschafter in Bagdad, John Negroponte, in den Jahren 2004/2005 im Irak umsetzte. Das in den USA entwickelte Modell hatte in den 1980er-Jahren im mittelamerikanischen El Salvador 75.000 Menschen das Leben gekostet. In Nicaragua fielen den Todesschwadronen 50.000 Menschen zum Opfer.  

Aufgabe der Mordbanden in den 1980er-Jahren war es, den Widerstand gegen die mittelamerikanischen Militärdiktaturen zu brechen, mit denen Washington gut kooperierte. Um Verwirrung in der Bevölkerung zu stiften, die den Widerstand unterstützte, gaben sie sich als „Guerilla“ aus, denen die Massaker immer wieder angelastet wurden. Als „Vater der Todesschwadronen” gilt John Negroponte, der in den Jahren 1981-1985 als Botschafter in Honduras für die Spezialoperationen verantwortlich war, heißt es in dem Beitrag von Chossudovsky. 2004 kam Negroponte nach Bagdad, im Gepäck die „Irakische Salvador Option”. An Negropontes Seite wurde Robert Stephen Ford die Nummer Zwei in der Botschaft. Man unterstützte aktiv irakische paramilitärische Kräfte mit den Erfahrungen aus Zentralamerika. Die irakischen Todesschwadronen bekämpften den Widerstand gegen die US-Besatzung und schürten den konfessionellen Konflikt. Sie könnten für Hunderte Morde an Wissenschaftlern und für den Anschlag auf die Goldene Kuppel der Al Askeri-Moschee in Samara (2006) verantwortlich sein, die professionell gesprengt wurde. Danach begann ein Konfessionskrieg zwischen Schiiten und Sunniten, der zum Stellvertreterkrieg zwischen dem schiitisch-muslimischen Gottesstaat Iran und dem wahabitisch-salafistischen Königreich Saudi Arabien wurde.

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Ende Januar 2011 trat Robert Ford seinen Posten als US-Botschafter in Syrien an. Nach Einschätzung Chossudovskys war zu dem Zeitpunkt das Engagement von Todesschwadronen in Syrien vom Irak aus bereits vorbereitet. Die im März 2011 begonnenen Aufstände in Syrien wurden fast unmittelbar nach Beginn von Jihadisten und Todsschwadronen unterwandert. Angriffe, Entführungen und Morde seit Mai 2011 tragen ihre Handschrift. Geistliche und Wissenschaftler werden entführt und ermordet. Auch das Massaker in Hula, Taldo und Al-Schumariyah könnte von ihnen – unter der Maske staatlicher Sicherheitskräfte – verübt worden sein.

Anstatt diesen Spuren nachzugehen, wird das furchtbare Geschehen von Politik und Medien im Westen benutzt, ihren Druck auf die syrische Führung und Präsident Bashar al-Assad zu verschärfen. „Das syrische Regime trägt für die schrecklichen Vorkommnisse in Hula Verantwortung“, begründet Außenminister Guido Westerwelle die Ausweisung des syrischen Botschafters. Syrien habe „unter Assad keine Zukunft“, er müsse „den Weg für einen friedlichen Wandel in Syrien freimachen“. Die einseitige Schuldzuweisung verschärft die Gewalt in Syrien. Die Ausweisung von Botschaftern ist eine weitere Stufe auf dem Weg zum Krieg.

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