So wird 2009
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Von IGNACIO RAMONET, 2. Januar 2009 –
„Kugeln für die Jugendlichen, Gelder für die Banken“. Dieser ausdrucksstarke Protestruf der Demonstranten in Griechenland könnte 2009 auch in anderen europäischen Städten zu vernehmen sein. Denn das beginnende Jahr wird durch einen starken sozialen Unmut gekennzeichnet sein, eine Folge der Massenentlassungen in Zeiten der weltweiten Wirtschaftskrise. Diese Entwicklung wird in Streiks, Straßenprotesten und Auseinandersetzungen enden, an denen auch die Europawahlen im Juni nichts ändern können.
Unzählige Jugendliche – Studenten und andere – sind sich bewusst, dass ihr Schicksal darin besteht, die Massen des Prekariats zu vergrößern, oder aber das Heer der Arbeitslosen. Die so genannte 700-Euro-Generation Griechenlands ist ein Beispiel dafür. Ihr Wille zum Widerstand ist groß. Einige fühlen sich erstmals wieder von den Befreiungsbewegungen angezogen. In dieser Atmosphäre sozialer Kämpfe könnten die Reihen des Anarchismus gestärkt werden.(1) Wie schon einmal, in den 1930er Jahren.
Auch wenn in der internationalen Politik Aberglaube gänzlich unangebracht ist, so waren die Neuner-Jahre doch immer besonders bewegt. Das zeigt schon der Blick auf die kommenden Jubiläen. Venezuelas bolivarische Revolution jährt sich zum zehnten Mal (Januar), der Fall der Berliner Mauer und der Zerfall der Sowjetunion ist zwei Jahrzehnte her (November), die „islamische Revolution“ in Iran liegt 30 Jahre zurück (Februar), die Libyens unter Oberst Muammar al-Gaddafi 40 Jahre (September), die kubanische Revolution jährt sich zum 50. Mal (Januar), Chinas Revolution zum 60. Mal. Die Niederlage der spanischen Republik ist 70 Jahre her (April), die Weltwirtschaftskrise von 1929 liegt 80 Jahre zurück.
Ohne Zweifel wird die wirtschaftliche Rezession auch für das kommende Jahr das wichtigste Charakteristikum sein. Denn die Auswirkungen des dreifachen Zusammenbruchs des Baugewerbes, der Banken und der Börsen werden die Realwirtschaft schwer beeinträchtigen.
Ist der neue Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Obama, in diesem Kontext des sozialen Unmuts ein Hoffnungsgeber? Nur wenige hängen diesem Glauben an. Vor allem, weil seinem Schattenkabinett mehrere ultraliberale Personen angehören, von denen die aktuellen Probleme nicht gelöst werden können. Zu ihnen gehören Robert Rubin, Lawrence Summers oder Timothy Geithner.
Schon im vergangenen Monat habe ich darauf hingewiesen, dass die neue Administration von Barack Obama eine Mitte-Rechts-Ausrichtung haben und damit konservativer ausgerichtet sein wird als der Kongress nach den Wahlen am vergangenen 4. November. (2) Eine Konsequenz werden Auseinandersetzungen zwischen der Exekutive und der Legislative der USA sein. Die neuen Kongressabgeordneten werden unter dem Druck ihrer Wähler stehen, die jüngst durch den gigantischen Betrug des Kriminellen Bernard Madoff und durch die parallel geleisteten Finanzhilfen der Washingtoner Regierung an die Banken mehr als irritiert sind. Der Enthusiasmus, der heute dem neuen US-Präsidenten entgegengebracht wird, könnte sich also schnell erschöpfen. Enttäuschung, Frustration und Wut wären die Folge.
Auch das neue außenpolitische Team ist mit Hillary Clinton, Robert Graves und General Jim Jones erstaunlich konservativ für einen Präsidenten, der mit dem Versprechen angetreten ist, die Demokratie nicht mehr auf der Spitze der Bajonette zu tragen.
Der Nahe Osten bleibt auch im Jahr 2009 der größte internationale Unruheherd. Im Frühjahr werden sich die britischen Streitkräfte und die übrigen Alliierten der USA aus Irak zurückziehen. Die US-amerikanischen Kampftruppen ihrerseits werden dann nicht mehr auf den Straßen der Dörfer und Städte patrouillieren, um sich statt dessen in die Kasernen zurückzuziehen. Und ihr Rückzug wird sich weiter beschleunigen, die Gewalt wird zunehmen. Der Schuhwurf des irakischen Journalisten Muntazer Al-Zaidi auf George W. Bush am vergangenen 14. Dezember in Bagdad ist ein Indiz für die Wut eines Teils der irakischen Bevölkerung gegen die US-amerikanischen Besatzungskräfte. Wird es der neu geschaffenen und korrupten irakischen Armee in dieser Situation gelingen, den Zerfall des Landes zu verhindern?
In Israel steht am 20. Februar die entscheidende Wahl des Premierministers bevor. In Iran wird am 12. Juni ein neuer Präsident gewählt. Die Spannung zwischen diesen beiden Staaten wird ein nicht gekanntes Niveau erreichen. Mündet diese Spannung in einen neuen, offenen Konflikt? Das sollte sich niemand wünschen, denn die geopolitischen Konsequenzen wären nicht vorhersehbar. Ebenso wie die wirtschaftspolitischen Folgen, denn mit einem solchen Konflikt würde der Preis des Erdöls auf dem Weltmarkt erneut auf 150 US-Dollar hochschnellen. Und dies wiederum würde die Weltwirtschaftskrise weiter verschärfen.
Schon jetzt hat der neue US-Präsident Obama angekündigt, dass Afghanistan auf militärischer Ebene Priorität eingeräumt werden soll. Dies ginge nicht ohne eine Ausweitung der illegalen Attacken auf den Nachbarstaat Pakistan. Dessen Präsident Asif Zardari würde die Kontrolle über die ohnehin labile Staatsstruktur weiter verlieren, zumal der Druck des Nachbarn Indien besonders seit den Anschlägen in Bombay am 26. November massiv zugenommen hat. Das zeigt: Washington würde in einen Sog interventionistischer Politik geraten, mit dem die Falken wieder Oberhand gewinnen würden.
Aber auch China, ein anderer Gigant, könnte im Jahr 2009 Überraschungen erleben. Die aktuelle Weltwirtschaftskrise – die sich in einer generellen Stärkung des wirtschaftlichen Protektionismus und damit in einem Rückgang der Exporte auswirken wird – ist für dieses Land besonders gefährlich. Tausende Fabriken in China werden schließen müssen. Ihre Arbeiter, mehrheitlich ohne Sozialversicherung und medizinische Versorgung, werden auf der Straße stehen. Die Proteste werden zunehmen. Wird es der Führung in Peking gelingen, den sozialen Frieden zu wahren? Und zu welchem Preis?
Die große Frage in Lateinamerika ist, ob Barack Obama den Olivenzweig entgegennimmt, den ihm Kubas Präsident Raúl Castro entgegenhält und ob endlich ein Ende des US-amerikanischen Handelsembargos gegen die Insel verhandelt wird. Wir werden es am 17. April wissen, wenn der neue US-Präsident auf dem Amerika-Gipfel in Puerto España in Trinidad und Tobago seine neue Politik für diese Region vorstellen wird.
Währenddessen wird sich die Welt weiter einer Klimakatastrophe nähern. Alle Zeichen weisen also darauf hin, dass das Jahr 2009 ein Jahr der Gefahren sein wird. Ein Jahr, in dem eine Epoche, die des Neoliberalismus, stirbt. In dem sich langsam, tastend neue Paradigmen entwickeln. Es sollte auch ein Moment der neuen Möglichkeiten sein. Um endlich mit dem Aufbau einer neuen Welt zu beginnen.
Anmerkungen, Quellen
(1)Passenderweise jährt sich am 15. Januar 2009 der 200. Geburtstag von Joseph Proudhon, dem Vater des Anarchismus, der im französischen Besançon das Licht der Welt erblickte.
(2)Naim, Moises: „La Brigada 23 de enero“. In: El País, Madrid, 30. November 2008
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Übersetzung für HINTERGRUND: Harald Neuber
Über den Autor
Ignacio Ramonet ist spanischer Journalist und war von 1991 bis März 2008 Direktor der in Paris erscheinenden Monatszeitung für internationale Politik „Le Monde diplomatique“. Seit seinem Ausscheiden bei der französischen Mutterausgabe leitet er die spanische Edition. Seine Leitartikel der spanischen Ausgabe von Le Monde diplomatique erscheinen ab November 2008 monatlich in deutscher Übersetzung bei www.hintergrund.de. Ignacio Ramonet ist Ehrenpräsident von Attac und Mitorganisator des Weltsozialforums.