Schwierigkeiten des Nation Building – der Fall Ukraine
Wer die Geschichte kennt, versteht die Gegenwart besser. Das ist auch im Fall der Ukraine so. Dieser Text zeichnet das Entstehen der ukrainische Nation nach und versucht Anknüpfungen für heute zu finden.
Ein Problem bei der Wahrnehmung des Ukraine-Konflikts ist die Vorstellung von der Ukraine als schon lange bestehender nationaler Einheit. Eine solche unhistorische Vorstellung geht davon aus, dass Nationen als ursprüngliche Kräfte seit je durch die Geschichte geistern. Damit kann die Abspaltung des Donbass und der Krim nur als fremdgesteuerte Sezession erscheinen. Aber schon vorher war die Ukraine ein gespaltenes Land. Putin hat möglicherweise mit dem Angriffskrieg das Bewusstsein vieler Ukrainer, gemeinsam eine Nation zu bilden, gestärkt, wenn nicht sogar – bei einigen – erst geweckt. (Ich spreche von dem Teil der Bevölkerung, der Opfer des russischen Angriffs geworden ist.)
Der Osten ist überwiegend russischsprachig und industriell, auch proletarisch geprägt, der Westen historisch Westeuropa zugewandt und agrarisch geprägt. Das macht die Konflikte innerhalb der 1991 unabhängig gewordenen Ukraine verständlich. Im Osten der Ukraine haben 2003 bis zu 90 Prozent der Bevölkerung Russisch als ihre Umgangssprache angegeben. In der mittleren Ukraine waren es immerhin noch beinahe 60 Prozent.[1] Die verwandtschaftlichen Beziehungen nach Russland waren und sind stark. Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel meinte noch Anfang März 2022: „Es gibt durchaus einen russischen Rückhalt im Land“.[2] Zur sprachlichen Diversität kommt die konfessionelle, also die Zugehörigkeit zu verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften. In dem früher von Polen-Litauen beherrschten Westen dominiert die Unierte griechisch-katholische Kirche (gegr. 1596). In der übrigen Ukraine gibt es zum einen Gemeinden der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats und zum anderen Gemeinden der erst 2018 verselbständigten „autokephalen“ Orthodoxen Kirche der Ukraine.
Die kulturelle Vielfalt könnte man positiv zur Geltung bringen, als kulturelles Kapital nutzen. Damit könnte die Ukraine, wie von manchen erwartet, eine Brückenfunktion zwischen Ost- und Westeuropa übernehmen.[3] Aber das würde andere politische Traditionen voraussetzen. Das Establishment ist, so sehr man sich von Russland abzusetzen bemüht, zu sehr dem Zentralismus verhaftet, der Russlands Geschichte seit Iwan IV. (1533-84) bestimmte. Dazu kommt die ererbte kulturelle Erniedrigung; denn die ukrainische Sprache galt bis ins 20. Jahrhundert nichts. Sie wurde als bäuerlicher Dialekt missachtet. Und ohne Schriftsprache war auch die Entwicklung einer eigenen ukrainischen Kultur behindert.
Rosa Luxemburg hielt 1918 Lenins Vorhaben, der Ukraine den Status einer eigenständigen Sowjetrepublik zu geben, für eine verrückte Idee. Die Ukraine habe „niemals eine Nation oder einen Staat gebildet“. Der ukrainische Nationalismus sei die Schrulle „von ein paar Dutzend kleinbürgerlichen Intelligenzlern“.[4]
Die Unsicherheit und Angst im ukrainischen Establishment, was das Zugehörigkeitsgefühl der Bürger betrifft, verrät folgende Zeitungsmeldung. Das Bemühen der deutschen Bildungsverwaltung, die Flüchtlingskinder aus der Ukraine möglichst rasch schulisch zu integrieren, weckte bei der ukrainischen Generalkonsulin Iryna Tybinka die Befürchtung, damit könne die nationale Identität der Kinder gefährdet werden. Sie forderte daher getrennten Unterricht nach dem ukrainischen Lehrplan.[5]
Die kulturelle Zerrissenheit ist verquickt mit einer Klassenherrschaft, die spürbarer ist als im „zivilisierten“ Kapitalismus Westeuropas. Beides zusammen könnte nicht nur verständlich machen, dass Putin den patriotischen Widerstand in der Ukraine unterschätzt hat, sondern auch den radikalen Nationalismus in bestimmten Kreisen erklären, die fehlenden Berührungsängste gegenüber faschistischen Gruppierungen, das obsessive Beharren auf der sprachlichen Homogenität und die Kompromisslosigkeit im Konflikt mit den Verwaltungsbezirken, die Autonomie forderten, den sog. Separatisten. Das 2021 novellierte und verschärfte Sprachengesetz verpflichtet nicht nur alle Staatsangestellten, sondern auch alle Dienstleistungsbetriebe und Geschäfte zur Kommunikation auf Ukrainisch. Russisch wurde auch aus den öffentlichen Medien verbannt. Im April 2022 hat man auch ein Verbot der orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats in Erwägung gezogen. Sie wurde vorläufig aufgeschoben, um im Krieg den Zusammenhalt gegen den Feind nicht zu gefährden.[6] Die „nachholende Nationenbildung“[7] bedingt, so darf man annehmen, einen kulturpolitischen Fanatismus.
Die ukrainische Nation
Die Ukrainer haben sich erst spät als Nation verstanden. Sie bilden eine sehr junge Nation. Das beschränkt natürlich nicht ihr Selbstbestimmungsrecht.
Identitätsstiftend sind gemeinsame kulturelle Symbole, in erster Linie die Sprache als gemeinsames Kommunikations- und Repräsentationsmittel. Die Sprache bestimmt auch aufgrund der Fremderwartung, der Sicht von außen die eigene Zugehörigkeitsdefinition. Zweisprachigkeit ändert daran nichts. Aber verbindend sind vor allem auch gemeinsame Kollektiverfahrungen.
Das Territorium der heutigen Ukraine war über viele Jahrhunderte eine Durchgangsraum für Völkerwanderungen und andere Migrationsbewegungen. Die Menschen waren Untertanen von zahlreichen Feudalherren und Großreichen, zuletzt am Beginn des 20. Jahrhunderts des Zarenreichs und des Habsburger Reichs. „Die Erfindung der Nation“, für Benedict Anderson generell der Entstehungsmodus heutiger Nationen, wird bei der Ukraine besonders deutlich, stellte eine zwingende Notwendigkeit dar. Die Nation ist laut Anderson immer und überall nur „eine vorgestellte politische Gemeinschaft“ , also eine ohne reale menschliche Bindungen. Sie wird dennoch real und wirkmächtig auf Basis gemeinsamer kollektiver Erfahrungen, habituell gewordener Lebensweisen und Umgangsformen. Sie sorgt für den Zusammenhalt eines Volkes. Solch historische Erfahrungen, die im kollektiven Gedächtnis gespeichert sind, gibt es oft auch klassenübergreifend, in Deutschland zum Beispiel Dreißigjähriger Krieg, gescheiterte Revolutionen, Inflation.
Nun sind die weiter zurückliegenden historischen Erfahrungen des heutigen Staatsvolks der Ukraine sehr unterschiedlich, wenn man an das Leben unter der Zarenherrschaft, als Minderheit in der Republik Polen oder in der K.-u.-k.-Monarchie Österreich-Ungarn denkt, oder an das Leben in der ländlichen Bukowina einerseits und im Industriegürtel des Donbass andererseits. Dort hatten die Kohle- und Erzlagerstätten schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine stürmische Industrialisierung veranlasst, die Arbeiter aus dem ganzen Zarenreich anzog, so dass sich dort eine Arbeiterklasse formierte. Gemeinsame, noch im kollektiven Gedächtnis lebendige Erfahrungen haben die Ukrainer als Sowjetmenschen gemacht. Im kollektiven Gedächtnis gespeichert sind sicher auch das Chaos nach 1917, die Hungersnot der 1930er Jahre, der Einfall der Wehrmacht, die Deportationen ins Deutsche Reich. Aber gerade auf diese Erfahrungen will man heute nicht zurückgreifen. Die Opferrolle hervorzukehren, ist geschichtspolitisch ambivalent. Eine Alternative wäre gewesen, gemeinsam mit Russland den Stolz auf den Sieg über Nazi-Deutschland zu pflegen. Aber die bestimmenden Kräfte wollten auf keinen Fall die Einvernahme durch Russland. Anders als dort trennt man nicht zwischen Gesellschaftssystem und ruhmreicher Sowjetarmee, vielmehr erinnert man an die Leidenserfahrungen durch Holodomor (Hungertod) und Stalinschen Terror, wobei anscheinend die Schuldfrage so verwischt wird, dass tendenziell die Russen als die Schuldigen erscheinen. So ist die nationale Identität schnell mit einem Feindbild verknüpft.
Das positive Geschichtsbild liefern Geschichtslegenden und Mythen, mit denen wie anderswo auch der frühe Ursprung der Nation belegt werden soll. Anderswo sind es die antiken Griechen, die Germanen oder die Gallier. In der Ukraine greift man auf die Kiewer Rus (um 1000 – 1240) zurück. Die ein paar Jahrhunderte dauernde Untertänigkeit unter die Könige von Polen-Litauen deutet man zur frühen Westorientierung um. Der Kosakenaufstand von 1648 gegen die Feudalherrschaft des polnischen Königs hilft das nationale Selbstbild zu verklären.[8]
Die beiden Anläufe zur Gründung eines eigenen Nationalstaats in 1917 und nach dem Frieden von Brest-Litowsk im März 1918 liefern eine realgeschichtliche Basis für das Nationalbewusstsein. Nur waren das beide Male Projekte einer relativ schmalen bürgerlichen Elite. Rosa Luxemburg sprach polemisch von „ein paar Dutzend kleinbürgerlichen Intelligenzlern“.[9] Die Ukrainer waren damals in der Mehrheit analphabetische Bauern. Zwei Jahre wurde das Land von einem Bürgerkrieg verheert, bis die Bolschewiki mit Unterstützung der klassenbewussten Arbeiter aus der industrialisierten Ostukraine 1920 die Macht übernahmen. Aber die Staatsgründung von 1918 nimmt heute „im ukrainischen nationalen Narrativ einen wichtigen Platz ein“.[10]
In der Zwischenkriegszeit war die Ukraine Teil der Sowjetunion und Teil Polens. Den Kampf für einen unabhängigen Nationalstaat machten militante Nationalisten zu ihrer Sache, die sich in der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) organisierten, wobei sich sich am italienischen Faschismus orientierten. Dabei hatte der Antisemitismus einen großen Stellenwert im Weltbild dieser Faschisten. Schon im Bürgerkrieg von 1919/20 waren mehrere tausend Juden ermordet worden. Einer der Führer der später in Richtungskämpfen gespaltenen OUN war Stepan Bandera (1909-1959). Als die Wehrmacht 1941 einmarschierte und die Ukraine besetzte, hatte er die Illusion, mit deutscher Unterstützung endlich einen eigenen Staat errichten zu können. Aber die Begehrlichkeit Nazi-Deutschlands richtete sich wie schon im Kaiserreich auf die ukrainische Kornkammer, die Kohle- und Erzlagerstätten und die Industrie. Da war kein Platz für einen Staat der Ukrainer. Bandera wurde inhaftiert und kalt gestellt. Erst als der Vormarsch der Sowjetarmee kaum noch zu halten war, nutzte man seine Bereitschaft zur Kollaboration. Bandera und andere Nazi-Kollaborateure werden heute als „Helden der Ukraine“ verehrt und sollen als nationale Identifikationsfiguren dienen.
Die ukrainische Sprache
Neben der Geschichtspolitik dient die Sprachpolitik dem Nation Building – in der Ukraine auch das keine leichte Aufgabe. Das Ukrainische wurde früher, wie schon erwähnt, abschätzig als bäuerlicher Dialekt abgetan, und zwar bis ins vorige Jahrhundert hinein. Wer etwas auf sich hielt sprach Russisch, bzw. in den Städten der Westukraine Deutsch oder Polnisch. Das war nicht nur im städtischen Bürgertum, sondern auch im Kleinbürgertum so, vom polnischen Adel gar nicht zu reden. Ukrainisch sprachen nur die Hausmädchen und sonstigen Dienstboten[11] und eben die Leute auf dem Land. Der soziale Status bestimmte das Sprachprestige und dieses festigte wiederum die Standesordnung. Einige Literaten waren im 19. Jahrhundert bestrebt, das Ukrainische zur Literatursprache zu machen und so aufzuwerten, um so die Standesordnung aufzubrechen und ein Nationalbewusstsein zu wecken, was die zaristische Administration alarmierte. Der bekannteste Vertreter der kleinen Gruppe ist der Dichter Taras Schewtschenko (1814-61), der in die Verbannung geschickt wurde. Er gibt heute den zweiten Nationalhelden ab.
Um eine solche Sprache zur Staatssprache zu machen, muss man sie zuerst einmal als Schriftsprache qualifizieren, um sie zur Unterrichtsprache in den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen machen zu können. Das war der Ansatz in der neuen Ukrainischen Sowjetrepublik. Die Vorarbeiten dazu hatten Literaten wie Schewtschenko und Kreise im österreichischen Galizien geleistet, die Leseklubs und Zeitschriften gegründet hatten. Die Sowjetrepublik hat das Ukrainische mit ihrer Kultur- und Sprachpolitik erst als Sprache aufgewertet.[12] Um dem ukrainischen Nationalismus den Boden zu entziehen, wurde das Ukrainische in der Anfangszeit entschieden gefördert und zum Nadelöhr für soziale Aufsteiger, zumindest im akademischen Raum.[13] Ähnliches wiederholte sich in den 1960er Jahren.
Der Vorwurf der Russifizierung seitens der ukrainischen Führungsschicht ist, anders als für das zaristische Russland, für die Zeit der SU kaum haltbar. Es gab keine gezielte Unterdrückung oder Diskriminierung der Sprache. Es handelte sich um einen Assimilationsprozess, wie er mit Industrialisierung und Urbanisierung immer unweigerlich verbunden ist. In der vielsprachigen Sowjetunion diente das Russische als lingua franca. Politische Kader, Kominatsleiter, Militärs, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, aber auch Monteure etc. mussten Russisch zu ihrer Sprache machen.
Der Ausschluss des Russischen aus dem öffentlichen Leben, der, nach dem Putsch von 2014 sogleich von rechten Kräften gefordert, mit dem Sprachengesetz von 2019 rechtskräftig geworden ist, ist nicht nur skandalös, sondern destruktiv. Zu Recht sprach die Opposition von der Spaltung der Gesellschaft, die allerdings 2019 mit der Sezession der Donbass-Bezirke schon vollzogen war. Im öffentlichen Sektor und in den Organen der lokalen Selbstverwaltung, in gesellschaftlichen Einrichtungen und anderen Organisationen, in der Armee, in Bildung und Wissenschaft, im Gesundheitswesen, in allen wirtschaftlichen Sektoren, aber auch in Kinos und Theatern und in den Medien ist nur noch die ukrainische Sprache erlaubt.
Zwar hat es das Verbot oder die politische Diskriminierung von Sprachen in fast allen modernen Staaten gegeben. Aber meist handelte es sich um Minderheitensprachen mit geringer Attraktivität, weil geringem Status, die in ländlichen Regionen, oft Randgebieten, gesprochen wurden. Beispiele wären das Bretonische und Provenzalische in Frankreich. Aber die russische Sprache hat aufgrund der Geschichte des Landes einen damit nicht vergleichbaren Status. Bezeichnend für die Situation ist das Bekenntnis eines Demo-Teilnehmers im März 2014 in Berlin: „Mein Großvater hat sich sein Leben lang für die Unabhängigkeit der Ukraine… eingesetzt. Ich spreche leider kein Ukrainisch, aber ich habe von Schewtschenko seit ich klein bin gehört, dass er im Grunde genommen der ukrainische Goethe oder Victor Hugo ist.“[14] Eine Regionalisierung, wie sie das Sprachengesetz von 2012 vorgesehen hatte, wäre der Sprachgeographie angemessen gewesen.
Der Staat der Oligarchen
Mit nationalen Geschichtslegenden und einigen historischen Identifikationsfiguren allein lässt sich kein Staat machen. Entscheidend für die Sicherung der Loyalität der Bevölkerung ist, wie der Staat zwischen den gegensätzlichen Klasseninteressen vermittelt. Diese Frage führt auf die Spur nach den Wurzeln des extremen Nationalismus in der Ukraine, der von Faschismus nur schwer zu unterscheiden ist. Seine Rückenstärkung verdankt er dem geopolitischen Interesse des transatlantischen Westens, speziell der USA, an der Ukraine. Das zeigte sich bei der „Orange Revolution“ von 2004/05 und beim sogenannten Euromaidan.
Nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Planwirtschaft hatten wie in den übrigen Teilen der früheren SU geschäftstüchtige Mitglieder der Nomenklatura die produktiven Wirtschaftszweige an sich gerissen. Die ukrainischen Oligarchen verschafften sich die Kontrolle über die Staatsbetriebe über Aktienanteile der Privatfirmen, die sie gegründet hatten. Die spätere Privatisierung staatlicher Unternehmen verschaffte ihnen noch mehr produktives Vermögen. Die Regulierungsbehörden steuerten sie nach ihrem Interesse. Damit fehlte der Rahmen für politische Aushandlungsprozesse. Es kam zur Verelendung der breiten Masse. Zeitweise wurden keine Löhne mehr bezahlt. Die Oligarchen tätigten keine produktiven Investitionen, kauften sich aber die Medien. Im Verlauf der 1990er Jahre gelang es, die Wirtschaft etwas zu stabilisieren und die Herrschaft der Oligarchen etwas zu zügeln, nachdem die Wirtschaft (gemessen in realem BIP und konstanten Preisen) um fast 60 Prozent geschrumpft war.
Die Oligarchen wollten ihren neuen Reichtum nicht teilen. So betrug die Vermögenssteuer – sie war keine persönliche Steuer – Ende der 1990er Jahre gerade einmal zwei Prozent des Betriebsvermögens. Auch die Förderung von Bodenschätzen wurde zunehmend weniger besteuert. Ihr Steueranteil an den Haushaltseinnahmen ist stetig gesunken. Die Mehrwertsteuer und die Verbrauchssteuern sind bis heute die wichtigsten Steuern für den Staatshaushalt. Die Steuerbelastung der „kleinen Leute“ ist bis heute sehr hoch. Die Mehrwertsteuer (20 Prozent) ist höher als die Körperschaftssteuer (18 Prozent). Eine weitere Einnahmequelle des Staates sind die Überweisungen der Arbeitsmigranten und -migrantinnen aus dem Ausland (siehe unten).
Eine Belastung für den Staat ist die große Schattenwirtschaft, der man durch Steueramnestie begegnen möchte. Ein weiteres Problem ist die Korruption. Ein Unternehmer mit einem Betrieb in der Ukraine schrieb in einem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung: „Die Korruption ist extrem hoch, Staatsorgane werden meines Erachtens im Rahmen von Beziehungsgeflechten zur Durchsetzung der Interessen von kriminellen Clans missbraucht“.[15] Im internationalen Korruptionsindex nimmt die Ukraine – knapp vor Russland – eine hintere Mittelposition ein.[16]
Die Lohnquote, ein Indikator für soziale Ungleichheit, bewegte sich von 2007 bis 2018 unter 25 Prozent des BIP, sank zeitweise auf 20 Prozent.[17] Der Pro-Kopf-Anteil am BIP lag zeitweise nur etwas über dem von Südafrika. Zu den Schichtdifferenzen kommen enorme regionale Unterschiede. Im Osten der Ukraine zahlten die Firmen 2013 in der Spitze bis zu 400 Euro pro Monat, ganz im Westen des Landes nur die Hälfte.[18] In der EU befürchtete man damals allein schon deshalb ein Auseinanderbrechen der Ukraine. Die Mindestaltersrente für Personen, die die Mindestversicherungszeit nachweisen können, beträgt seit 2018 40 Prozent des Mindestlohns. Dieser beträgt nach offiziellen Angaben seit Dezember 2021 ca. 215 Euro.
Die offizielle Arbeitslosenquote erreichte zeitweise neun Prozent. Ohne die enorme Arbeitsmigration wäre sie sicher viel höher. Nach Angaben der Caritas lebten 2008 beinahe 1,3 Millionen Ukrainer und Ukrainerinnen in Polen, Tschechien und Südeuropa, vorwiegend beschäftigt auf dem Bau, in der Landwirtschaft und in Privathaushalten und zwei Millionen in Russland. Heute sind es dort nach Kai Ehlers ca. sechs Millionen.[19] Die Weltbank ging 2013 davon aus, dass fast 15 Prozent der ukrainischen Bevölkerung zumindest zeitweise im Ausland gearbeitet hatten.
Westorientierung war übrigens mit einer Hinwendung zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik und Eingriffen von außen verbunden. Nach der Wahl Juschtschenkos zum Präsidenten 2004 wurde ein auf den Finanzsektor gestütztes Wachstumsregime etabliert. Der Konsum sollte mit Krediten angekurbelt werden. Der IWF, der 2014 um Unterstützung gebeten worden war, verlangte neben der Kürzung der Staatsausgaben eine Heraufsetzung des Rentenalters.
Das Vermögen der zehn reichsten Oligarchen belief sich 2016 auf elf Milliarden USD und machte 2015 13 Prozent des BIP aus. Das Vermögen der fünf reichsten lag 2016 zwischen 652 Millionen (Firtasch) und 4,1 Milliarden USD (Achmetow).[20] Alle haben ihr Kapital in einer breiten Skala von Wirtschaftszweigen, aber auch in Medien angelegt. Eine solche Machtkonzentration und soziale Ungleichheit braucht außer der Meinungsmache einen repressiven Staatsapparat.
Das Aufbegehren der Bevölkerung ließ sich zum einen mit dem wiederholten Versprechen kanalisieren, die Ukraine werde bald Mitglied der EU, und zum anderen dadurch, dass man den Unwillen auf Russland ablenkte. Die 1991 gegründete Sozial-Nationale Partei der Ukraine (SNPU) erklärte, Russland sei die Ursache aller Probleme.[21] Solch eine Problemverschiebung ist hilfreich für die herrschende Klasse. In der verarmten Westukraine erhielt die rechte Partei Swoboda – Nachfolgerin der SNPU – 2012 bei der Parlamentswahl ein Viertel der Wählerstimmen.
Die ukrainische Rechte
Die Macht rechtsextremer Gruppierungen ist in der Ukraine hinter einem formaldemokratischen System verschleiert. Ein rechtes Parteienbündnis von Swoboda, Rechtem Sektor und anderen scheiterte zwar bei der letzten Parlamentswahl an der Fünf-Prozent-Hürde. Aber Vertreter der Rechten haben viele wichtige Positionen im Staatsapparat übernommen. Die Rechte hat den Marsch durch die Institutionen erfolgreich absolviert, und zusammen mit einer starken außerparlamentarischen Opposition haben ihre Repräsentanten außerordentlichen Einfluss. Welche Regierung überzieht die eigenen Bürger auf dem eigenen, jedenfalls beanspruchten Territorium jahrelang mit Bombardements? So geschehen in den Teilen der Bezirke Donezk und Lugansk, die seit 2014 auf Autonomie pochten.
Dass eine unabhängige Justiz nicht existiert, wird daran deutlich, dass man bisher keine Neigung gezeigt hat, die Verbrechen aus dem Jahr 2014 aufzuklären, nämlich die tödlichen Schüsse auf dem Maidan in Kiew, das Massaker von Odessa und das von Mariupol.
Die Rechtsradikalen in der Ukraine entsprechen nicht dem üblichen Bild von Neonazis, das möglicherweise generell veraltet ist. Der Schweizer Oberst Jaques Baud, der militärische Projekte in der Ukraine betreut hat, möchte nicht von Neonazis sprechen. Denn: „Sie sympathisieren mit dem Gedankengut, sie haben die Abzeichen, aber sie haben weder eine politische Doktrin noch einen politischen Plan.“[22] Das mag so nicht ganz zutreffen. Aber richtig scheint zu sein: man orientiert sich nicht an einer ausgearbeiteten Ideologie, hat keine Vision. Ulrich Heyden im Jahr 2017: „Es gibt in der Ukraine Fackelmärsche der rechtsradikalen Bataillone Asow und Rechter Sektor. Doch es gibt (noch) keine faschistische Massenbewegung…“ [23] Zentral sind die historischen Legenden, die heldenhaften Vorbilder, die Großartigkeit der Ukraine. Prägend scheint eher eine extreme Gewaltbereitschaft, verbunden mit dem Willen zur Selbstvernichtung. Rechte Freiwilligenverbände reagierten 2014 auf die Autonomieforderung der Bezirke im Osten sofort mit dem Beschuss von Dörfern, entführten und ermordeten „Verdächtige“. Von den Ukrainern verlangt man die Selbstaufopferung für die Nation. Solche Züge trug auch der traditionelle Faschismus. Dem entsprach die Aufforderung Selenskijs an die Bürger, sich zu bewaffnen, womit er sie dem Risiko auslieferte, als Kombattanten erschossen zu werden. Das Regiment Asow soll unter anderem in der umkämpften Stahlfabrik in Mariupol Zivilisten als Geiseln festgehalten haben. Mehrfach wurde von Fällen berichtet, wo rechte Milizen Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt haben sollen.
Nicht nur das einheimische Kapital, auch der transatlantische Westen hat die rechte, weil russlandfeindliche Ausrichtung der Ukraine mit Wohlwollen verfolgt. Der auf Westbindung orientierte Präsident Juschtschenko hat 2007 dem Anführer eines Bataillons in den Reihen der Wehrmacht, Roman Schuchewytsch, und 2010 Stepan Bandera den Titel „Held der Ukraine“ verliehen. 2009 hat man eine Briefmarke zum 100. Geburtstag Banderas herausgebracht.
Zwei Beispiele für die Übernahme wichtiger politischer Schaltstellen durch Faschisten: Andrij Parubij von der Partei Swoboda, vorher SNPU, amtierte von 2016 bis 2019 als Parlamentspräsident. Am 2. November 2021 gab der Führer Dmitry Jarosch des Rechten Sektors, bekannt, dass er zum Berater des Oberkommandierenden der Ukrainischen Streitkräfte ernannt worden sei.[24] Der Rechte Sektor ist eine kleine, aber äußerst radikale Splitterpartei mit einem militärischen Arm. Sie blieb bei der Parlamentswahl von 2019 unter fünf Prozent Stimmenanteil. Trotzdem konnte ihr Führer eine so bedeutende Position besetzen. Ein anderes Beispiel: Im März 2022 wurde Maxim Martschenko, ehemaliger Kommandant des Ajdar-Bataillons zum Gouverneur der Oblast Odessa ernannt.[25] Amnesty International hat dem Bataillon Kriegsverbrechen vorgeworfen, darunter Entführung, Raub, Misshandlung, Erpressung und vorgetäuschte Hinrichtungen, und auch die Blockade humanitärer Hilfe. Das betraf die Bevölkerung der „Separatisten-Gebiete“. Auch Morde wurden Mitgliedern des Bataillons angelastet.[26]
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Wird die Ukraine Mitglied der EU – inzwischen scheint das gewiss – so wird die Integration in mehrfacher Hinsicht schwierig werden. Ob sich die politische Klasse hierzulande das genug überlegt hat? Aber die Umarmung war ja so spontan wie die Beteiligung am Krieg gegen Russland. Eins kann man sagen, eine politische Führung mit so wenig Verhandlungsbereitschaft, die das eigene Land oder auch mehr aufs Spiel setzt, ist die ideale Gefolgschaft der USA.
[1] https://krass-und-konkret.de/politik-wirtschaft/ukraine-kampf-gegen-die-russische-sprache/ Zugriff am 17.03.22
[2] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/karl-schloegel-von-grosny-blieb-nichts
[3] So zum Beispiel Andreas Kappeller (2015): Die Geschichte der Ukraine im Überblick. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/info-aktuell/209719/geschichte-der-ukraine-im-ueberblick/
[4] Rosa Luxemburg (1918): Die russische Revolution.
[5] https://www.berliner-zeitung.de/lernen-arbeiten/ukrainische-generalkonsulin-lehnt-unterricht-in-willkommensklassen-ab-li.217240.amp
[6] https://www.domradio.de/artikel/vorerst-kein-verbot-von-moskautreuer-kirche-der-ukraine, Zugriff am 26.04.22
[7] Kai Ehlers https://www.hintergrund.de/politik/welt/ueber-den-beginn-des-ukrainischen-kriegs/Zugriff am 22.04.22
[8] Andreas Kappeller 2015
[9] Rosa Luxemburg (1918). Taras Schewtschenko war Sohn eines Leibeigenen.
[10] Andreas Kappeller 2015
[11] Vgl. die Schilderung in dem Roman „Sie kam aus Mariupol“ von Natascha Wodin.
[12] Harald Haarmann (1993): Die Sprachenwelt Europas. Frankfurt a. M./New York.
[13] Vgl. die Erzählung von Natascha Wodin
[14] https://www.deutschlandfunkkultur.de/klassiker-der-goethe-der-ukraine-100.html
[15] https://www.sueddeutsche.de/kolumne/praesident-selenskij-richtige-oder-beschaemende-reaktion-des-bundestags-1.5556115
[16] https://www.transparency.de/cpi/?L=0
[17] https://wiiw.ac.at/die-lohnentwicklung-in-den-westbalkanlaendern-moldau-und-der-ukraine-dlp-5021.pdf, Zugriff am 27.04.22; zum Vergleich: In Deutschland lag die Lohnquote 2021 bei 71,2 Prozent.
[18] Ulrich Heyden berichtete jedoch in einer Reportage vom April 2014 aus dem Donezk-Gebiet von der Schufterei in illegalen Kohlegruben (U. Heyden: Der längste Krieg in Europa seit 1945. Hamburg 2022, S.273f.
[19] https://www.hintergrund.de/politik/welt/ueber-den-beginn-des-ukrainischen-kriegs/
[20] https://uacrisis.org/de/54793-top-5-ukrainian-oligarchs, Zugriff am 27.04.22
[21] AIB 126/1.2020/06.07.2020
[22] Zeitgeschehen im Fokus v. 15.03.2022 (www.zeitgeschehen-im-fokus.ch)
[23] Ulrich Heyden (2022), S.237
[24] https://krass-und-konkret.de/politik-wirtschaft/jarosch-der-anfuehrer-des-rechten-sektors-mischt-im-krieg-wieder-mit-freiwilligenverbaenden-mit/
[25] https://www.jungewelt.de/artikel/423833.krieg-in-der-ukraine-blutrausch-folter-lynchjustiz.html
[26] https://de.wikipedia.org/wiki/Bataillon_Ajdar, Zugriff am 28.04.22