Russische Modernisierungsopfer?
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Von TOMASZ KONICZ, 15. April 2011 –
Die Moskauer Ministerialbürokratie wählte im Mai vergangenen Jahres eine bislang in Russland unübliche Methode, um eine spektakuläre geopolitische Neuausrichtung russischer Außenpolitik zu signalisieren. Eine als vertraulich klassifizierte, circa 70 Seiten umfassende Neubewertung russischer Außenpolitik, die von einem eigens eingerichteten Komitee innerhalb des russischen Außenministeriums angefertigt wurde, fand sich aufgrund einer – offensichtlich gezielten – Indiskretion in den Redaktionsräumen der russischen Ausgabe des Nachrichtenmagazins Newsweek wieder. „Es scheint, als ob jemand mit einer amerikanischen Logik dies durchsickern ließ“, kommentierte Jewgeni Bashanow (engl. Schreibweise: Yevgeny Bazhanov), der Vizerektor der Moskauer Diplomatischen Akademie, diese amerikanischen Public-Relations-Methoden gleichende Vorgehensweise gegenüber US-Medien. Offizielle Vertreter des russischen Außenministeriums bestätigten zwar die Authentizität dieser Dokumente, doch enthielten sie sich jeglicher weiteren Kommentare.
Die an den US-amerikanischen Politikbetrieb erinnernde Form dieser gezielten Indiskretion befand sich aber durchaus im Einklang mit deren brisantem Inhalt. In dem Dokument fordert der russische Außenminister Sergej Lawrow den Aufbau außenpolitischer Modernisierungsallianzen mit Ländern, die Russland bei der Überwindung der technologischen Rückständigkeit seiner Volkswirtschaft unterstützen könnten: „Die größte Bedeutung kommt der Stärkung der Beziehungen wechselseitiger Abhängigkeit mit den führenden Weltmächten zu, die auf gegenseitiger Durchdringung der Ökonomie und Kultur“ basieren sollen. Dieser von Lawrow vorgegebene Kurswechsel wurde in dem Dokument auch weiter präzisiert. So wurden in dem Papier unter anderem der Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO), die Errichtung eines visafreien Grenzverkehrs mit der Europäischen Union und eine engere Kooperation mit den USA diskutiert.
Das Dokument beinhalte „einen Überblick über Russlands Stellung in der Welt nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise“, erläuterte Dimitri Trenin (Dmitry Trenin) von der Moskauer Niederlassung der US-Denkfabrik Carnegie Center gegenüber der US-Zeitschrift Christian Science Monitor. Implizit handele es sich laut Trenin um das Eingeständnis, „dass Russland sich nicht allein modernisieren kann“. Der Kreml geht schlicht davon aus, seine geopolitische Position als Großmacht nicht halten zu können, sollte der wissenschaftliche und technologische Rückstand zum Westen sich langfristig verfestigen. „Wenn du akzeptierst, dass du marginalisiert bleibst, wenn du nicht modernisiert, und wenn du akzeptierst, dass du selber nicht modernisieren kannst, dann ist die Außenpolitik ziemlich klar. Du musst dich mit entwickelten Ländern verständigen, die zu Quellen deiner Modernisierung werden können“, erklärte Trenin gegenüber Reuters.
Die beabsichtigte Unterordnung der Moskauer Außenpolitik unter die innenpolitische Maxime einer raschen, allumfassenden Modernisierung Russlands, die durch den Ausbau ökonomischer Kooperation mit der EU und den USA erreicht werden soll, geht einher mit dem Vorschlag, die Beziehungen zu weniger entwickelten Ländern herabzustufen. Hierbei wurde vor allem China erwähnt: „Wir müssen uns von der Annahme fortbewegen, dass wir China halten müssen, damit es im Konzert mit Russland auf internationalen Foren agiert, wo sie doch unsere Hilfe mehr brauchen als wir ihre.“ Dennoch werden die Schwellenländer China und Indien in dem Newsweek Russia zugespielten Dokumenten als wichtige Partnerländer genannt, da sie für die russische Waffenindustrie die wichtigsten Exportmärkte bilden.
Inzwischen ist der im Mai signalisierte Strategiewechsel russischer Geopolitik weit gediehen, obwohl er keineswegs friktionslos abläuft oder gar irreversibel ist. Einen wichtigen Meilenstein bildete hierbei die mehrtägige Staatsvisite Medwedews in den Vereinigten Staaten vom 22. bis zum 24. Juni, bei der Russlands Staatschef einen Besuchsschwerpunkt auf das US-Hochtechnologiezentrum „Silicon Valley“ legte. „Mein Ziel ist es, zu sehen, wie hier alles funktioniert“, erklärte Medwedew vor Beginn seiner Tour den führenden Ikonen des amerikanischen Hightech-Kapitalismus. Russlands Präsident kam hierbei mit den Gründern des Mikroblogging-Service Twitter und dem Vorstandsvorsitzenden des Computergiganten Apple zusammen, der diesem einen Tag vor Verkaufsstart ein iPhone der vierten Generation schenkte. „Zu Hause scherzten unterdessen die Russen, dass dies der einzige Zweck der Visite sei“, witzelte das US-Blatt Foreign Policy, das den US-Besuch Medwedews als eine „Geschäftsreise“ charakterisierte. „Ich wollte mit meinen eigenen Augen den Ursprung des Erfolgs sehen, ich wollte sehen, wie innovative Hightechunternehmen geboren werden“, erklärte Medwedew bei einer Rede in der Eliteuniversität Stanford, bei der er auch für Auslandsinvestitionen in Russland warb.
Bei dem Telekommunikationsunternehmen Cisco Systems unterzeichnete Russlands Präsident während seiner Visite auch einen konkreten Vertrag in Höhe von einer Milliarde US-Dollar, in dessen Rahmen das geplante russische Hochtechnologiezentrum Skolkowo mit der neuesten Netzwerkausrüstung ausgestattet werden soll. Das unweit von Moskau projektierte Forschungs- und Technologiezentrum Skolkowo steht im Zentrum der russischen Modernisierungsbemühungen, die eine umfassende Transformation der bislang vom Energie- und Rohstoffsektor abhängenden russischen Volkswirtschaft zum Ziel haben. Auf einem Areal von nahezu 400 ha soll eine ganze „Forschungsstadt“ aus dem Boden gestampft werden, die nach dem Cluster-Prinzip eine möglichst nahtlose Verkettung von Forschung, Produktkonzeption und Produktion auf höchstem technischen und wissenschaftlichen Niveau ermöglichen soll. Die Investitionen in dieses gigantische Modernisierungsprojekt bewegen sich bereits im zweistelligen Dollar-Milliardenbereich. Dieses Projekt sei eine Art „Startrampe“, von der aus die Modernisierung des Landes initiiert werden könne, erläuterte der mit diesem Projekt betraute kreml-treue Oligarch Victor Wekselberg, der besonderen Wert auf eine internationale Vernetzung bei diesem Pilotprojekt legt.
Zur Initiierung eines umfassenden landesweiten Modernisierungsschubs glaubt der Kreml, auf enorme westliche Investitionen angewiesen zu sein. „Russland braucht einen echten Investitionsboom“, erklärte Medwedew während des alljährlichen Wirtschaftsforums in Sankt Petersburg vor hochkarätigen russischen und internationalen Kapitalvertretern am 18. Juni. Bei dieser Gelegenheit stellte er umfangreiche Investitionsanreize in Aussicht, wie etwa Steuerfreiheit für Kapitalgewinne bei langfristigen Investitionen ab Anfang nächsten Jahres. Zudem wurde eine umfassende Privatisierungskampagne angekündigt, bei der die Anzahl der im Staatsbesitz befindlichen „strategischen Sektoren“ der Volkswirtschaft signifikant beschnitten werden soll. Deutschland bildet bei der angepeilten Modernisierung Russlands den Wunschpartner des Kreml. Schon Ende Oktober 2009 ließ der russische Ministerpräsident Wladimir Putin 15 Topmanager der deutschen Wirtschaft nach Moskau einfliegen, um mit ihnen umfassende Investitionsvorhaben zu erläutern. „Wir werden alles daransetzen, dass Ihre Arbeit hier erfolgreich ist“, begrüßte Putin die Chefs von Siemens, Daimler, Volkswagen, RWE, E.ON, Wintershall und ThyssenKrupp damals.
Diesen Worten folgten Taten. Es vergeht inzwischen kaum ein deutsch-russisches Gipfeltreffen, bei dem nicht weitere gigantische Wirtschaftsprojekte vereinbart würden. Allein bei dem diesjährigen deutsch-russischen Wirtschaftstreffen am 15. Juli in Jekaterinburg konnten deutsche Konzerne erneut Milliardenaufträge an Land ziehen, die Deutschlands Stellung als wichtigster Wirtschaftspartner Russlands weiter zementieren dürften. So wird Siemens für umgerechnet 2,2 Milliarden Euro Regionalzüge für die russische Staatsbahn liefern. Neben der bereits bestehenden engen Kooperation im Energiesektor sprachen sich beide Seiten auch für eine Intensivierung der Zusammenarbeit auf dem Felde der Hochtechnologie aus. Im Gespräch ist ein Joint Venture zwischen dem Halbleiterhersteller Infineon und dem russischen Konzern Sistema. Laut Medwedew nehme Deutschland die Rolle eines Schlüssellandes bei der Modernisierung Russlands ein, deutsche Investitionen seien „hochwillkommen“. Neben der Kooperation mit Deutschland spielen für den Kreml auch die an Intensität gewinnenden Wirtschaftskontakte mit Italien und Frankreich eine wichtige Rolle. Ende Juli kündigte der Kreml für die Jahre 2011 bis 2013 überdies die größte Privatisierungskampagne seit dem Ende der Ära Jelzin an, bei der ausländische Investoren ausdrücklich zugelassen und die Einnahmen von geschätzten 22,5 Milliarden Euro zum Stopfen von Haushaltslöchern verwendet werden sollen.
Mitte Juli formulierte der russische Staatschef diese aus dem Modernisierungsstreben des Kremls abgeleitete außenpolitische Neuausrichtung erstmals explizit in aller Öffentlichkeit, als er vor dem versammelten Diplomatischen Korps Russlands – alle russischen Botschafter und Sondergesandten waren anwesend – einen „Paradigmenwechsel“ in der Außenpolitik des Kremls ankündigte. Wiederum sprach Medwedew von der Etablierung von „Modernisierungsallianzen“ mit „Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien, der Europäischen Union im Allgemeinen und den Vereinigten Staaten.“ Russlands Außenpolitik solle „alte Stereotype“ hinter sich lassen und sich in den Dienst der Modernisierungsbemühungen des Kreml stellen: „Wir sollten unsere außenpolitischen Möglichkeiten effektiver zur Lösung unserer internen Probleme und zur Modernisierung unseres Landes nutzen, seiner Ökonomie, der sozialen Sphäre und des politischen Systems.“
Die neue geopolitische Ausrichtung Russlands
Dieser „Paradigmenwechsel“ russischer Außenpolitik ging bisher mit umfassenden Zugeständnissen an westliche Interessen bei etlichen Streitthemen und Konfliktfeldern einher, die im Endeffekt zu einer deutlichen geopolitischen Neuausrichtung Russlands führten. Zum einen mussten die Vorbehalte in Mittelosteuropa ausgeräumt werden, die insbesondere gegenüber dem weiteren Ausbau der Achse Moskau-Berlin bestehen. Hier gelang es dem Kreml nach dem tragischen Flugzeugabsturz der polnischen Präsidentenmaschine bei Smolensk – bei dem Polens Staatschef mit einem Teil der politischen Elite des Landes verunglückte – dank einer klugen Politik ein regelrechtes Tauwetter zwischen Warschau und Moskau zu initiieren. Dabei spielten nicht nur die spontanen Gesten, Trauerbekundungen und Solidaritätsaktionen russischer Politiker und Bevölkerungsteile eine wichtige Rolle, sondern auch die geschichtspolitischen Initiativen in Russland, die eine Aufarbeitung der dunklen Kapitel polnisch-russischer Geschichte, wie des Massakers von Katyn, zum Ziel haben. Die Verbesserung der polnisch-russischen Beziehungen liegt aber auch im Interesse der rechtsliberalen polnischen Regierung um Ministerpräsident Donald Tusk, der sich längst enttäuscht von der einseitigen Allianz mit den USA verabschiedet hat, die noch sein Amtsvorgänger Jaroslaw Kaczynski propagierte.
Russland kam aber auch den USA weit entgegen, indem es am 9. Juni den vom Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen gegen Teheran verhängten Sanktionen zustimmte. Für Moskau sind insbesondere die Restriktionen bei der militärischen Kooperation schmerzhaft, da der Iran im Verlauf einer langfristigen Modernisierung seiner Streitkräfte umfangreiche Waffenkäufe in Russland plante, die nach Schätzungen von RIA Novosti bis zu 13 Milliarden US-Dollar betragen sollten. Militärisches Gerät im Wert von 500 Millionen US-Dollar konnte Russland allein im letzten Jahr im Iran absetzen. Von hoher Symbolkraft ist in diesem Zusammenhang die seit 2008 vom Kreml auf Eis gelegte Lieferung der modernen russischen S-300-Luftabwehrsysteme, die dank ihrer enormen Reichweite den Iran in die Lage versetzen würden, im Verbund mit den bereits erworbenen Tor M1 und S-200 eine tief gestaffelte Luftverteidigung aufzubauen. Vergangenen Juni erklärte Moskau schließlich, dass dieser Deal gegen die jüngsten Iran-Sanktionen verstoßen würde und er folglich nicht realisiert werden könne. Rückschläge wie dieser dürften den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad zu seiner wütenden Attacke gegen die russische Führung Ende Juli verleitet haben, bei der er Medwedew als ein „Sprachrohr der Feinde des Irans“ bezeichnete. In einer Stellungnahme des Russischen Außenministeriums vom 26. Juli wurden die Bemerkungen des iranischen Staatschefs umgehend als „inakzeptabel, sinnlos und verantwortungslos“ bezeichnet.
Moskau verstärkt auch die Unterstützung für die Besatzungstruppen in Afghanistan. Schon seit Januar letzten Jahres öffnete Russland seinen Luftraum und seine Schienenwege für den Transport von militärischen Versorgungsgütern für die NATO-Truppen am Hindukusch, deren Versorgungswege im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet durch zunehmende militärische Aktivitäten der Aufständischen gefährdet sind. Im Vorfeld einer von Russland am 18. August abgehaltenen Afghanistan-Konferenz präzisierte der Kreml seine bereits Mitte Juli angedeutete Bereitschaft zur Lieferung militärischer Ausrüstung an Afghanistan. Konkret möchte Moskau Militärhubschrauber an die afghanische Armee liefern: „Wir haben da keinerlei Restriktionen. Die Lieferung von Hubschraubern wird diskutiert werden, wenn die afghanische Seite diese Frage aufwirft“, erklärte dar Präsidentensprecher Sergei Prichodko am 17. August gegenüber Interfax. Victor Korgun, Vorsitzender der Abteilung für Afghanistanstudien am Institut für Orientstudien der Russischen Akademie der Wissenschaften, sieht diesen Kurswechsel durch die Angst Russlands vor „dem militanten Islamismus und dem ausartenden afghanischen Drogenschmuggel befördert. Islamistische Gruppierungen sind führend an den Aufstandsbewegungen im Nordkaukasus beteiligt, wobei auch ein Überspringen dieser dschihadistischen Kräfte auf den zentralasiatischen „Vorhof“ Russlands befürchtet wird. Zudem sollen an die 90 Prozent des nach Russland importierten Heroins aus Afghanistan kommen.
Dieser geopolitische Umschwung Moskaus bildet aber nur die jüngste Etappe einer längerfristigen Annäherung zwischen Russland und dem Westen, die bei Amtsantritt der Regierung Obama durch den berühmten „Reset“ (Neuanfang) in den Beziehungen der einstigen Gegenspieler des Kalten Krieges eingeleitet wurde. Hervorzuheben ist hierbei vor allem der Verzicht der derzeitigen US-Administration auf die Stationierung einer effektiven Raketenabwehr in Osteuropa, die von Russland als eine Bedrohung seiner nuklearen Abschreckungsfähigkeit angesehen wurde. Im April verständigten sich Obama und Medwedew zudem auf ein Nachfolgeabkommen zum START-Vertrag, das die Reduzierung des strategischen Nuklearpotenzials beider Staaten regeln soll. Inzwischen findet punktuell sogar eine enge Kooperation zwischen dem russischen Militär und der NATO statt, wie etwa bei der Luftraumüberwachung in der nördlichen Hemisphäre. In diesem Herbst wird der Oberbefehlshaber der NATO, James Stavridis, in Moskau erwartet, um bei den Themenkomplexen Afghanistan, Terrorismusbekämpfung, Drogenbekämpfung und Raketenabwehr eine weitere Annäherung zu suchen.
Russland leitete diese Annäherung an den Westen aus einer momentanen Position geopolitischer Stärke ein. Die Bemühungen des Westens, im postsowjetischen Raum – der weiterhin von Moskau als seine Interessensphäre angesehen wird – an Einfluss zu gewinnen, sind größtenteils gescheitert. In der Ukraine kamen mit dem Wahlsieg von Victor Janukowitsch diejenigen Fraktionen der ostukrainischen Oligarchie an die Macht, die für einen Ausgleich und eine stabile Partnerschaft mit Moskau eintreten. Seit dem Krieg um die abtrünnigen georgischen Regionen Abchasien und Südossetien im August 2008 konnte auch die Allianzbildung des Westens im Kaukasus entscheidend geschwächt werden, da die USA nicht willens oder befähigt waren, den militärisch bedrängten georgischen Aggressoren zu Hilfe zu eilen. Schließlich offenbarten die jüngsten politischen Turbulenzen in Kirgisien, dass der Westen seine Bestrebungen derzeit ruhen lässt, in diesem zentralasiatischen „Vorhof“ Russlands eine relevante geopolitische Präsenz aufzubauen. Ein geopolitisches Kräftemessen zwischen Ost und West um Kirgisien fand dieses Mal nicht statt. Im Gegenteil: Moskaus Zögern bei der Intervention in Kirgistan, das zu einem „Failed State“ zu zerfallen droht, deutet darauf hin, dass selbst der Kreml seine Ressourcen nicht übermäßig durch eine imperiale Überdehnung strapazieren möchte.
Doch es dürften vor allem die Erfolge Russlands im geopolitischen Pipeline-Poker um Energieressourcen und deren Transportwege gewesen sein, die Moskau dazu verleiten ließen, eine „importierte Modernisierung“ aus dem Westen anzustreben. Mit dem Bau der Ostseepipeline und der geplanten „South Stream“-Pipeline – die von Südrussland auf dem Boden des Schwarzen Meeres bis nach Bulgarien verlaufen soll – nimmt der Kreml die EU in die „Gaszange“, zumal das europäische Pipeline-Konkurrenzprojekt Nabucco kaum noch Chancen auf einen rentablen Betrieb hat. Die Europäer werden aller Voraussicht nach in den kommenden Dekaden sowohl auf die Energielieferungen aus Russland als auch auf Lieferungen durch russische Pipelines angewiesen sein. Deswegen sprach auch Lawrow in dem eingangs gewährten außenpolitischen Positionspapier von der „Stärkung der Beziehungen wechselseitiger Abhängigkeit“ zwischen Russland und dem Westen – hier natürlich insbesondere der EU. Die von Moskau forcierte Monopolisierung von Energiequellen und Transportwegen im postsowjetischen Raum soll im Endeffekt die Bereitschaft im Westen befördern, Russlands Modernisierungsbestrebungen zu forcieren. „Energieträger gegen Technologie“ – so ließe sich das neue außenpolitische Kalkül des Kremls auf einen kurzen Nenner bringen.
Neubestimmung russischer Außenpolitik
Dennoch läuft diese geopolitische Neubestimmung russischer Außenpolitik keinesfalls reibungslos ab; sie bleibt auch aufgrund einer Fülle innen- wie außenpolitischer Faktoren instabil. Zum einen geht Russland dem Westen nur so weit entgegen, wie es dies im Rahmen seiner Modernisierungsstrategie für absolut notwendig erachtet, da es ansonsten seine Interessen in weiten Teilen Eurasiens gefährdet sieht. Im Falle des Iran etwa bemühen sich weiterhin russische Spitzenpolitiker um möglichst gute Kontakte. Russland kritisierte beispielsweise die unilateralen Sanktionen gegen den Iran, die von der EU und den USA nach der Abstimmung im Weltsicherheitsrat zusätzlich verhängt wurden. Zudem lieferte Moskau Ende August auch den Nuklearbrennstoff für den ersten iranischen Reaktor in Buschehr, wofür eigens eine entsprechende Ausnahmeregelung bei Verhängung der UN-Sanktionen auf Betreiben des Kremls erlassen wurde. Zumeist ist es Ministerpräsident Wladimir Putin, der die Unabhängigkeit russischer Außenpolitik immer wieder unter Beweis zu stellen versucht. Nur einen Tag, bevor Russland im Weltsicherheitsrat den Sanktionen gegen Teheran zustimmte, bekräftigte Putin bei einem Treffen mit Ahmadinedschad in Istanbul seine Unterstützung für das iranische Atomprogramm: „Ich bin der Auffassung, dass eine Resolution nicht notwendig sein dürfte, sie sollte nicht die iranische Führung oder das iranische Volk in Schwierigkeiten bringen.“ Auch in dem einstmaligen geopolitischen „Hinterhof“ der USA, in Lateinamerika, baut Russland seine Präsenz aus. Während seiner Argentinienreise im vergangenen April erklärte Medwedew ausdrücklich, dass der Kreml sich künftig stärker auf dem Kontinent engagieren werde: „Ich pfeif drauf, wenn es jemandem nicht passt“, teilte der russische Präsident einen Seitenhieb gegen Washington aus. „Wir sind kein Hinterhof anderer Staaten mehr“, sekundierte ihm Argentiniens Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner. Diese zweigleisige Geopolitik Russlands, die eine eindeutige Fixierung auf den Westen vermeidet, gleicht einem permanenten „Balanceakt“, der wohl auch auf Differenzen innerhalb des russischen Machtapparates verweisen dürfte.
Im Zusammenhang mit der Modernisierungsstrategie Russlands und dessen außenpolitischer Neuorientierung wird oftmals auf einen Konflikt zwischen den liberalen Technokraten um Medwedew und den Vertretern der Geheimdienste um Putin – den sogenannten Silowiki – verwiesen. Demnach würden die „Liberalen“ für Privatisierungen, eine importierte Modernisierung mitsamt Öffnung gegenüber dem Westen plädieren, während die Silowiki auf autonome Modernisierungsprozesse, einen starken staatlichen Sektor und eine unabhängige Großmachtpolitik setzen. Namentlich nicht genannte Diplomaten erklärten gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, dass eine „weiterhin mächtige Fraktion“ von „Hardlinern“ von der Westannäherung Russlands „bei Weitem“ nicht überzeugt sei: „Sie glauben, die Krise habe bewiesen, dass Russland einen Fehler beging, sich auf westliches Geld zu verlassen.“ Dennoch kann hier nicht von zwei geschlossenen Fraktionen im Machtapparat ausgegangen werden, sondern eher von einer Vielzahl von Gruppierungen und Allianzen, die sich aus verschiedenen Regionen, Teilen des Staatsapparates, Unternehmen oder Oligarchengruppen rekrutierten, untereinander in Konkurrenz um Machtmittel und Einfluss stehen, und die der einen oder anderen der oben geschilderten Optionen mehr oder weniger stark zuneigen. Unklar bleibt indes, ob es auch Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Machttandem Medwedew und Putin gibt – diese werden aber in westlichen Medien seit dem Amtsantritt des neuen russischen Präsidenten herbeigeschrieben. Ernsthafte Rückschläge bei der Realisierung der derzeitigen außenpolitischen Linie dürften den latenten Widerstand innerhalb des russischen Machtapparats aber schnell anschwellen lassen und die Westannäherung Russlands zu einem abrupten Ende bringen.
In der russischen Bevölkerung dominiert indes eine abwartende Haltung. Eine jüngst von dem Soziologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaft durchgeführte Umfrage bemühte sich, die Stimmung in der russischen Bevölkerung bezüglich der Modernisierungspläne des Kreml zu sondieren. Das in Kooperation mit dem Moskauer Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung Mitte 2010 ausgewertete statistische Material identifiziert unter Zuhilfenahme eines umfangreichen Fragenkatalogs einer Minderheit von 23 Prozent aller Befragten als überzeugte „Modernisierer“, während 15 Prozent als skeptische „Traditionalisten“ bezeichnet wurden. Die überwiegende Mehrheit der Umfrageteilnehmer konnte aber aufgrund ihrer ambivalenten Haltung weder der einen noch der anderen Gruppe zugeordnet werden. Eindeutig hingegen konnte aber die Ablehnung einer „liberal-kapitalistischen“ Modernisierungsstrategie konstatiert werden, die mit Privatisierungen und dem forcierten Ausbau kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen einhergehen würde. Nahezu 60 Prozent der Befragten waren der Meinung, dass Russlands Wirtschaftssystem entweder einer „Sozialistischen Planwirtschaft“ oder einer „auf Staatsbesitz gegründeten Wirtschaft mit marktwirtschaftlichen Elementen und Privatbesitz“ gleichen sollte. Die Anhängerschaft der „freien Marktwirtschaft“ umfasste bei der Erhebung gerade mal 14 Prozent. Bei einer weiteren, schon im November 2009 durchgeführten Umfrage äußerten folglich auch circa 58 Prozent der Befragten die Auffassung, dass eine erfolgreiche Modernisierung vor allem von dem Agieren des Staates abhinge. Im März 2010 gaben bei einer Erhebung des Umfrageinstituts Lewanda-Zentrum wiederum 60 Prozent der Teilnehmer an, die „Kontrolle durch den Staat“ sei „bei der Entwicklung neuer Technologien förderlich.“ Diese Ergebnisse lassen eine klare Diskrepanz zwischen der öffentlichen Meinung und den Modernisierungsplänen Medwedews erkennen, der auf ein Zurückdrängen staatlicher Kontrolle, Privatisierungen und auf verstärkte Investitionstätigkeit ausländischen Kapitals in der russischen Volkswirtschaft setzt. Es verwundert somit nicht, dass der russische Präsident in letzter Zeit einen weitaus stärkeren Popularitätseinbruch erlebte als Ministerpräsident Putin, der einem Bericht der Nesawisimaja Gaseta zufolge eher auf eine staatlich kontrollierte „Enklaven-Modernisierung“ setzen würde, bei der wenige Modernisierungszentren auf das gesamte Land „ausstrahlen“ sollen. Anfang Juni 2010, also noch vor der Eskalation der gigantischen Brandkatastrophe in Russland, die zu einem massiven Einbruch der Umfragewerte der russischen Spitzenpolitiker führte, musste Präsident Medwedew den niedrigsten Popularitätswert seit Amtsantritt hinnehmen. Laut einer am 11. Juni veröffentlichten Umfrage vertrauten 53 Prozent aller Russen ihrem Präsidenten. In Mai 2010 betrug dieser Wert noch 62 Prozent. Wladimir Putin sprachen hingegen 61 Prozent aller Befragten ihr Vertrauen aus, wobei auch dieser einen Popularitätsschwung von 8 Prozent seit Jahresanfang hinnehmen musste. Russlands derzeitige, auf „Westimporte“ und Privatisierungen setzende Modernisierungsstrategie wird also nicht nur von einer Opposition im Staatsapparat abgelehnt, sondern auch von weiten Teilen der Bevölkerung. Obwohl der russische Staatsapparat aufgrund seiner berüchtigten Korruptionsanfälligkeit auch als das größte Hemmnis bei der Durchführung einer erfolgreichen Modernisierung bezeichnet wird, sehen die meisten Befragten keine Alternative zu einer staatlich gelenkten Erneuerung der russischen Volkswirtschaft. Nahezu die Hälfte aller Befragten gab bei der Umfrage des Soziologischen Institutes der Russischen Akademie der Wissenschaft an, dass die Korruptionsbekämpfung im Staatsapparat die wichtigste Voraussetzung einer erfolgreichen Modernisierung bildet. Diese ambivalente Haltung resultiert sicherlich auch aus der noch lebendigen Erinnerung an die katastrophalen kapitalistischen „Schocktherapien“ der Jelzin-Ära, als große Teile der russischen Industrie unter chaotischen Umständen privatisiert wurden und das gesamte Land einen gigantischen Wirtschaftseinbruch durchlebte.
Schließlich könnten aber auch die aggressiven Kräfte in den Vereinigten Staaten den außenpolitischen Kurswechsel Moskaus bald torpedieren. Da die Popularität Barack Obamas in den USA im Schwinden begriffen sei, würden die konservativen Scharfmacher die Durchsetzung einer konfrontativen Russland-Politik in Washington forcieren, bemerkte schon Außenminister Lawrow in dem eingangs erwähnten Geheimpapier: „Das US-Establishment in Militär, den Geheimdiensten und der Außenpolitik sucht bereits die Rückkehr zur Konfrontationspolitik der letzten Administration.“ In einer Fülle von Artikeln und Publikationen plädieren bereits konservative Denkfabriken für eine härtere Gangart gegenüber Moskau, während erste Querschüsse gegen den Kreml abgefeuert werden. So musste die Abstimmung über den Nachfolgevertrag des START-Abkommens bis Mitte September vertagt werden, da die Republikaner sich in dieser Frage querstellen. Durch diesen neuen Abrüstungsvertrag würde die Anzahl der nuklearen Langstrecken-Sprengköpfe beider Seiten um circa 30 Prozent reduziert werden. Wütende Proteste des russischen Außenministeriums löste am 13. August auch ein Bericht des US-Außenministeriums über „terroristische Bestrebungen“ in Georgien aus, der Russland indirekt eine Mitschuld an der Verbreitung terroristischer Aktivitäten durch die Aufrechterhaltung eigener Grenzkontrollen in den umstrittenen Sezessionsgebieten gab. „Die Unwilligkeit, die neuen geopolitischen Realitäten im Kaukasus zu akzeptieren, hinderte die Autoren des Reports daran, die Absurdität ihrer Formulierungen zu realisieren“, hieß es postwendend in einer Erklärung aus Moskau. Inzwischen gehen führende konservative Presseorgane auch direkt in die Offensive. Es sei an der Zeit, einen erneuten „Reset“ der Russlandpolitik Washingtons durchzuführen und eine härtere Gangart einzulegen, argumentierte das Wall Street Journal am 10. August, da Moskau erfolgreich seine Einflusssphäre insbesondere im Kaukasus habe erweitern können. Um den wachsenden regionalen Einfluss des Kreml zurückzudrängen, müsse demnach Washington die „politisch-militärische Kooperation mit Ländern Zentralasiens und des Kaukasus“ ausbauen – und somit wieder auf direkten Konfrontationskurs mit Moskau gehen.
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Zusammenfassend lässt sich somit prognostizieren, dass der gegenwärtige geopolitische Kurswechsel des Kreml mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht langfristig Bestand haben wird. Die derzeit betriebene Ausrichtung der Außenpolitik an die Erfordernisse der vom Kreml forcierten Strategie der „importierten Modernisierung“ stößt nicht nur innerhalb das russischen Machtapparates auf Widerspruch; große Teile der russischen Bevölkerung dürften dem Vorhaben ebenfalls schnell ablehnend gegenüberstehen, sobald nur der Verdacht aufkommen sollte, hierbei fände ein „Ausverkauf russischer Interessen“ oder „russischen Besitztums“ statt. Gegen eine zentrale Rolle ausländischen Kapitals bei der Modernisierungsstrategie können sehr schnell die in der Bevölkerung weitverbreiteten Befürchtungen vor einer Kolonisierung Russlands mobilisiert werden. Der Vorwurf, man agiere als eine „Marionette des Westens“, kommt immer noch in der russischen Öffentlichkeit einem politischen Todesurteil gleich. Fraglich bleibt indes auch, ob der Westen überhaupt bereit ist, tatsächlich einen Technologietransfer auf höchstem Niveau mit Russland einzuleiten; die bisherigen historischen Beispiele, auch und gerade im osteuropäischen Raum, weisen in eine andere Richtung. Schließlich kann auch eine Rückkehr der amerikanischen Konfrontationspolitik gegenüber Moskau im postsowjetischen Raum diesem Westkurs des Kremls ein Ende setzen.
Abschließend muss bemerkt werden, dass „der Westen“ von der russischen Außenpolitik keinesfalls als ein homogenes Gebilde betrachtet wird. In Russlands Machtzirkeln ist vor allem die Annäherung an Washington umstritten, während die enge Kooperation mit Berlin eine breitere Akzeptanz – auch von Putin – erfährt. Die sich verfestigende Achse Berlin-Moskau weckt nicht nur in Mittelosteuropa hartnäckiges Misstrauen, sondern auch in den USA.
Der Artikel erschien zuerst in Hintergrund, Heft 4 – 2010