"Stellvertreterkrieg" in der Ukraine
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Gedanken eines ukrainischen Patrioten –
Von VIKTOR TIMTSCHENKO, 23. Juli 2014 –
Seit dem Zerfall der Sowjetunion wurde Russland am laufenden Band durch den Westen gedemütigt. Die Auflösung des Warschauer Paktes hatte nicht zur logisch erscheinenden Auflösung der NATO geführt. Jugoslawien, der treue russische Verbündete in Europa, wurde von der NATO völkerrechtswidrig in Kleinstaaterei und Bürgerkrieg gebombt. Trotz aller Beteuerungen, dies zu unterlassen, rückte die NATO (fast) an die russischen Grenzen – Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen, Albanien, Kroatien wurden NATO-Mitglieder.
Mit der NATO kamen amerikanische Raketen. Vor 1990 standen sie in der BRD. Jetzt schmiedet die USA Pläne, bis 2015 das Raketenschild in Polen und Rumänien zu stationieren (früher war auch Tschechien im Gespräch). Den Menschen wurde eingetrichtert, die seien gegen Iran und Nordkorea gerichtet. Der russische Vorschlag, bei der amerikanischen Raketenabwehr mitzuwirken, wurde ausgeschlagen, warum wohl? Bei alledem hat es die USA ständig rigoros abgelehnt, (schriftliche) juristische Garantien zu geben, dass das System nicht auf Russland gerichtet ist. Russland kann sich dabei denken, was es will.
Wenige Minuten entfernt
Die Gespräche über den NATO-Beitritt der Ukraine werden seit 2004 immer intensiver, 2008 schien die Sache bereits entschieden zu sein. Momentan liegt die Einladung zur Aufnahme in die NATO vor, genau so wie ein Gesetzentwurf zum NATO- Beitritt im ukrainischen Parlament.
Es ist ein Kampf um die Ukraine: Die NATO will Russland auf die Pelle rücken; für Russen ist die Involvierung der Ukraine ins westliche Militärbündnis die rote Linie, die man nicht überschreiten darf. Es geht nicht um verwandtschaftliche Bande der Russen und Ukrainer, es geht nicht um gemeinsame Geschichte, nicht um wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Es geht für Russen um das Überleben des Landes, wenn amerikanische (NATO)-Raketen direkt an der westlichen russischen Grenze stationiert werden. Wenn man Russland der (theoretischen) Möglichkeit beraubt, auf den Raketenschlag der Amerikaner zu antworten, dann gerät das gesamte Sicherheitssystem der Welt aus den Fugen. Der ABM (Anti-Ballistic Missile)-Vertrag zwischen Russland und den USA, der dieses Gleichgewicht sicherte, wurde 2002 einseitig von den USA aufgekündigt. Und genau das – Außerkraftsetzung der gesamten russischen Raketenabwehr – passiert im Zuge des (angedachten) Beitritts der Ukraine in die NATO. Mit der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU (das auch militärische Zusammenarbeit beinhaltet, über die die westliche Presse eisern schweigt) wurde noch ein Schritt in diese Richtung getan.
Also, die Ukraine interessiert den Westen nicht primär als (Absatz)-Markt, sondern als die Möglichkeit, seine Truppen hier zu stationieren und seine Raketen in die Nähe Moskaus zu verschieben. Die Geschwindigkeit einer amerikanischen Rakete liegt bei 7 Kilometer pro Sekunde, die Entfernung von der ukrainischen Grenze bis Moskau 400 km, die Anflugzeit der Rakete kann jeder Leser leicht ausrechnen.
Wenn der Westen die Ängste Polens und der Balten in Bezug auf bis dato theoretische Aggressionspläne Russlands ernst nimmt und deshalb Flugzeuggeschwader und Truppen dorthin schickt, warum will er nicht die Angst Russlands vor dem bereits stattgefundenen Vorrücken der NATO anerkennen?
Leider ist die Ukraine zum Spielball zweier Mächte geworden. Die ukrainische Gesellschaft ist, was die Ausrichtung der Entwicklung anbelangt, nicht konsensfähig, und die Kämpfe im Osten und Süden der Ukraine (mit der Einmischung der „Diversanten“ aus Russland oder ohne) sind ein Beleg dafür. Wer behauptet, die ganze Ukraine habe ihr begehrtes Ziel im Westen gefunden, ist ein schlecht informierter Mensch oder Lügner. Und der Krieg, den wir jetzt in der Ukraine sehen, ist ein „Stellvertreterkrieg“ der NATO gegen Russland (das stimmt auch umgekehrt). Dabei kämpfen die ukrainische Regierung und ukrainischen Truppen nicht für die viel beschworene Unabhängigkeit der Ukraine, nicht für ihre Souveränität, sondern für die Abhängigkeit des Landes von der EU und der NATO. Man kämpft dafür, einem (in den Augen Vieler) guten Militärbündnis und einem guten Imperium angehören zu dürfen.
Mögliche Lösungen
Egal, auf welche Seite sich die Ukraine im Ergebnis der heutigen Auseinandersetzung auch schlägt – westliche oder östliche – eine dauerhafte Lösung bringt das nicht. Ein NATO-Beitritt (oder eine Stationierung der NATO-Truppen in der Ukraine auf einer anderen rechtlichen Grundlage) provoziert heftige Reaktion Russlands. Ein Pakt mit den Russen wird (weiter anhaltende) NATO-Bestrebungen gen Osten nicht bremsen, sondern noch mehr anheizen. Die Ukraine ist in beiden Fällen verdammt, ein Kampfeld zwischen der NATO und Russland zu bleiben, und die Ukrainer können die Hoffnung begraben, ruhig ihre Zukunft zu bauen.
Eine dauerhafte Lösung bringt nur die echte Unabhängigkeit des Landes, seine Blockfreiheit. An dieser Stelle ist einzuwenden, die Blockfreiheit ist in der ukrainischen Verfassung verankert, und Machthaber in Kiew geben ab und an von sich, dass es auch so bleibt. Das ist alles gut, aber wenig glaubwürdig. So wie die Verfassung von 2004 innerhalb von wenigen Tagen in der Ukraine zurückgeholt wurde, kann auch dieser Punkt der Verfassung leicht geändert werden – besonders wenn, wie jetzt, ein Teil des ukrainischen Parlaments demoralisiert ist und ab und an des Sitzungssaals „demokratisch“ verwiesen wird!
Der Westen muss zeigen, dass es ihm um die Lösung des Konfliktes überhaupt geht. Wenn der Westen die Strategie verfolgt, einen Krieg zwischen der Ukraine (westliche Waffen, ukrainisches Blut) und Russland zum Dauerbrenner zu machen, sind alle oben notierten Gedanken einfach unnütz. Wenn Russland und der Westen, so wie sie schwören, an einer Lösung des Konfliktes wahrhaftig interessiert sind, sollten dem Wunsch auch Taten folgen.
Und diese Tat wäre (neben dem hehren Ziel des Wiener Abkommens – Entwaffnung ALLER paramilitärischen Kräfte…): einen Vertrag über die Blockfreiheit der Ukraine abzuschließen – mit der Beteiligung der UNO, OSZE, USA, EU, NATO, von Russland, China, Indien und wem auch immer. Aber der Vertrag muss – im Unterschied zum ehemaligen NATO-Nichterweiterungsschummel gegenüber Gorbatschow – schriftlich und verbindlich sein.
Damit sind Status quo, die Unversehrtheit der russischen Grenzen erst einmal auf diesem, für Russland nicht ganz vorteilhaften, aber von ihm inzwischen akzeptierten, Niveau eingefroren. Die NATO wäre in ihrer Lust auf weitere Eroberung gebremst. Diesen Vorschlag hat noch kein westlicher Politiker wahrgenommen, obwohl von russischer Seite die Idee schon artikuliert wurde.
Föderalisierung der Ukraine
Das ist die zweite russische Idee. Sie birgt, aus meiner Sicht, sehr große politische Gefahren. Aber zuerst die Frage, was und mit welchem Ziel soll „föderalisiert“ werden? Die Krim ist weg. Die Krim ist ethnisch überwiegend russisch. Eine Menge Ukrainer, die dort leben, sind russifiziert. Das sorgt für eine gewisse Homogenität der Bevölkerung. Die Erklärung des russischen Schriftstellers Viktor Schenderowitsch, warum die Annexion der Krim so leicht vonstatten ging („In 20 Jahren der ukrainischen Staatlichkeit hat es die Ukraine nicht geschafft, die Einwohner der Krim zu eigenen Bürgern zu machen“), klingt einleuchtend, impliziert aber einen gewaltigen Fehler. Man kann jemanden schnell zum Bürger (sowohl formell als auch reell) machen, das Gefühl der (anderen) Volkszugehörigkeit kann man in zwei Jahrzehnten nicht überwinden. Um einige Beispiele zu nennen: Schotten und Iren wurden auch nicht zu Engländern, Basken und Katalanen nicht zu Spaniern, Kurden nicht zu Türken. Die Assimilierung dauert nicht Jahrzehnte, sondern Jahrtausende. Deshalb möchten alle diese vorgenannten Volksgruppen jetzt von ihren „größeren Brüdern“ weg. Die Krim, als Chruschtschow sie 1954 der Ukraine schenkte, war ein Sprengsatz, deren Zeitzünder durch die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine 1991 in Gang gesetzt wurde. Er musste irgendwann explodieren. Es ist vielleicht sogar gut für die Ukraine, dass er so zeitig (und nicht erst nach hundert Jahren) hochging.Jetzt bekam Russland die Krim zurück – und mit ihr zusammen auch die Probleme der Krimtataren und der Ukrainer, die dort leben.
Die Lage in Donezk und Luhansk, geschweige denn in anderen oft genannten Gebieten (Charkiw, Saporizhzha, Dnipropetrowsk, Mykolajiw, Cherson, Odessa) ist anders als auf der Krim. Die Bevölkerung ist hier heterogen. Viele Russen und russifizierte Ukrainer leben in den Städten; auf dem Land hingegen Ukrainer – mit ukrainischer Mentalität, den ukrainischen Traditionen und mit einer wohl etwas holprigen in dieser russischsprachigen Umgebung, aber trotzdem ukrainischen Sprache. Wo möchten wir die föderalen Grenzen ziehen? Um die Städte herum? Und soll dann jedes Dorf eine ukrainische Exklave werden? Föderationsgrenzen zu ziehen, scheint also in dieser Region der Erde sehr kompliziert bis unmöglich zu sein, ohne eine Lunte an einem Pulverfass zu zünden.
Aber wie oft schon waren wir Zeugen einer gewalttätigen Grenzziehung. Deshalb nehmen wir einmal Folgendes an: Die Grenze zwischen ukrainischsprachigen und russischsprachigen Gebieten der Ukraine würde doch irgendwo gezogen. Was wäre daran so schlimm? In den USA leben Amerikaner in einer Föderation der Staaten, Deutschland ist eine Föderation. In fest gefügten Strukturen ist das nicht gefährlich. Aber wenn das Gebäude noch instabil ist, dann bilden die Grenzen die Linien, an denen der Staat auch auseinander brechen könnte. Eine zerschlagene Tasse zu kitten wäre danach eine mühsame, undankbare und vor allem nicht viel Erfolg versprechende Aufgabe. Eine Föderation zu lenken ist auch komplizierter als ein Staat aus einem Guss; allein Abstimmungsprobleme sind schon schwer zu überwinden – siehe beispielhaft die EU. Deshalb werden innerhalb eines Staates ohne Not eigenhändig keine Grenzen geschaffen, besonders keine ethnisch-politischen oder religiösen.
Ostukraine: Anschluss an Russland unwahrscheinlich
Wenn dann die Ukraine entlang dieser Grenze zerfällt, steht die Frage des Anschlusses der östlichen und südlichen Regionen an Russland. Putin, sollte er sich dafür entscheiden, würde sich mit diesen Gebieten eine Zeitbombe, von der wir oben bereits gesprochen haben, ins Land holen. Da er dies zweifelsohne versteht, bin ich der Meinung, dass er diese Gebiete nicht an Russland anschließen will. Deshalb sagte ich allen, die mich danach fragten: Es kommt nicht zum großen Krieg. Die Destabilisierung der östlichen Gebiete der Ukraine benötigt Putin als Druckmittel, um westliche Partner samt heutiger ukrainischer Regierung zu den ernsthaften Gesprächen über eine neue Sicherheitskonfiguration in Europa zu zwingen. Ohne „separatistische Bewegung“ würde die Ukraine genau so schnell der NATO beitreten, wie die neue Regierung das EU-Assoziierungsabkommen unterschrieben hat, und zwar, fünf Wochen nach der Machtübernahme. Unruhen in der Ostukraine sind für die russische Regierung eine Notbremse für die Ukraine-NATO-Allianz.
Wir wissen nicht, ob es wirklich so würde. Aber wenn, dann wäre es für Russland zu spät, auf irgendwelche Bremsen zu drücken. So wie Putin in Bezug auf die Krim sagte, „wenn wir nichts getan hätten, dann hätten sie die Ukraine in die NATO eingefangen“, und behauptet, das betreffe Russland nicht und damit hätten sie Russland „praktisch aus der Schwarzmeerregion herausdrückt“. Tatsache ist: Versprochen wurde die Nichterweiterung der NATO nach Osten Gorbatschow mehrmals (sowohl durch Amerikaner als auch durch Deutsche), und nach dem das doch passierte, gab es stets eine Erklärung: „Das ist eine bilaterale Angelegenheit, Russland betrifft das nicht.“ Wie Lenin sagte: Formal korrekt, aber in der Tat ein Hohn.
Zu den „bilateralen Angelegenheiten“: Es gibt heutzutage auf der Welt kaum etwas Bilaterales, wenn es um Verschiebung der Einflusssphären, um Regime-Change, um eine Umgestaltung der Grenzen geht. Sogar die kleinsten Konflikte berühren Interessen dutzender Staaten weltweit. Ein Bürgerkrieg zwischen Serben und Kosovo-Albanern war nicht bilateral, deshalb mischte sich die NATO ein. In Ruanda schlachteten Hutu Tutsi ab, das war nicht bilateral, deshalb lastet diese Million Tote auf dem Gewissen der UNO. Nicht bilateral sind japanisch-chinesische Auseinandersetzungen um eine Inselgruppe, der Nord- und Südsudan-Konflikt, die Kraftmeierei auf der Koreanischen Halbinsel. Deshalb ist das Wort „bilateral“ kein Freibrief für die Einbeziehung der Ukraine in die Interessensphäre der NATO. Russland wäre mit so einer Entwicklung geostrategisch stark benachteiligt.
Hört den Rebellen zu!
Erstens, sie anhören. Bislang hat kein Mensch diese Forderungen ausformuliert zum Lesen bekommen. Wenn sie vorliegen, dann sie analysieren, und man wird mit Sicherheit feststellen, dass es den meisten nicht um die Föderalisierung, sondern um Dezentralisierung geht. Man will selbst über kommunale Belange entscheiden – Sprache inbegriffen. Diese erweiterten Rechte sollen nicht nur östliche und südliche, sondern alle Gebiete bekommen.
Deshalb gibt es keinen Zwang zu Föderalisierung. Ein Paket aus Blockfreiheit der Ukraine und ihrer Dezentralisierung wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur Russland zufrieden stellen, sondern auch der Ukraine einen unabhängigen Status und auf Dauer weniger sowohl äußere als auch innere Konflikte bescheren.
All das gilt, wiederhole ich, wenn die Absicht aller Konfliktparteien die Beilegung des Konfliktes ist. Wenn der Westen mit dem Tauziehen um die Ukraine andere Ziele (NATO-Beitritt) fest verfolgt, dann wird nichts aus oben erwähnten Vorschlägen. Dann wird Russland, angesichts des Verlustes der ganzen Ukraine, dafür kämpfen, wenigstens einen Gürtel entlang der russischen Grenze an sich zu reißen – und das sind nun mal die oben aufgezählten acht Gebiete.
Über die Rechtskonformität der Loslösung der Krim von der Ukraine gibt es sogar unter westlichen Gelehrten verschiedene Ansichten. Jede Loslösung entspricht irgendeinem Gesetz nicht, so war das z. B. auch bei der Erklärung der Unabhängigkeit der Ukraine selbst (1991). Hätte sie damals den gültigen sowjetischen Gesetzen gefolgt, wäre sie für immer und ewig ein Bestandteil der Sowjetunion geblieben. Damals hat sie sich selbstverständlich auch auf das Recht des Volkes auf Selbstbestimmung berufen. Jetzt erscheint ihr der andere Teil des Völkerrechts vorteilhafter: das Recht auf territoriale Integrität.
So oder so: Russland hat mit der Krim-Annexion die Grenzen des souveränen Staates, der Ukraine, verletzt. Muss das Land sich gegen den Eindringling verteidigen? Momentan drängen „Separatisten“ auf die Abspaltung mehrerer Gebiete vom „Mutterland“. Soll die Ukraine die Trennung zu verhindern versuchen? Unbedingt!
Aber bei dieser Verteidigung müssen sie auch die Motive der Abläufe verstehen. Wenn man die Gründe nicht berücksichtigt, sie verdrängt, dann kann man auch keine Lösung des Problems finden. Und die Gründe liegen nicht im „imperialen Wahn Putins“, nicht in seinen Absichten demnächst auch Polen und die baltischen Staaten zu überfallen, sondern in dem Schutz eigener Staatlichkeit.
Es geht uns auch um die Art der Verteidigung der ukrainischen Interessen. Bis jetzt haben wir nur barbarische Verteidigungsstrategien gesehen: Hasstiraden, Informationskrieg, Verunglimpfung, Sanktionen, antiterroristische Operationen… Emotional ist das durchaus verständlich, weil die Ukraine zu Recht sich angegriffen und gedemütigt fühlt. Aber nicht alles, was emotional verständlich ist, ist auch segensreich.
Das Interesse der Ukraine besteht ohne Zweifel darin, ihr Territorium zu erhalten, ihre Unversehrtheit zu bewahren – aber doch nicht um jeden Preis! Zwischen der Schlagkraft der russischen und ukrainischen Armeen liegen Welten. Ein Sieg der Ukrainer in einem offenen Krieg ist daher unwahrscheinlich. Sie wird unterliegen, besonders aktive Menschen werden vielleicht dann noch 20 Jahre Partisanenkrieg führen – ohne große Aussicht auf Erfolg. In dieser Zeit werden Tausende, wenn nicht dutzende von Tausenden, wenn nicht Hunderttausende der besten Vertreter des Volkes sterben, sie werden auf kaltschnäuzige und zynische Weise einfach als Kanonenfutter in die russische Maschinerie hineingeworfen und dort zermalmt. Ist das das Ziel der ukrainischen Machthaber, die Vernichtung ihres eigenen Volkes – wenn auch für einen hehren Zweck? Sicher, der Preis der Souveränität kann sehr hoch sein, und er ist zu bezahlen. Aber nur dann, wenn es keine andere, absolut gar keine andere Möglichkeit gäbe.
In diesem Fall gibt es sie: siehe oben. Die Ukraine muss nicht gegen Russland einen blutigen Krieg für die Amerikaner und die NATO führen, sondern ihre eigenen Interessen durch offene Verhandlungen verteidigen, die darin bestehen, den Russen Paroli zu bieten, eigene Grenzen zu sichern, das Volk zu einen.
Aber das kann die Ukraine nur dann, wenn sie souverän ist, wenn die eigene Regierung im Interesse des eigenen Volkes handelt und nicht nur die Interessen der westlichen Förderer und Unterstützer in einem Krieg gegen Russland verteidigt.
Dafür muss die Ukraine verstehen, dass die Geschichte ihr ausgerechnet jetzt eine Chance bietet, wirklich souverän zu werden. Nicht der Beitritt zur NATO und in die EU ist das Ziel der demokratischen Regierung, also einer Regierung, die die Interessen der Bürger verinnerlicht, sondern das Glück und die Blüte des ukrainischen Volkes, jedes einzelnen Menschen.
Es wird sehr schwierig: Nicht nur ein Teil der Ukrainer hat eine große Vorliebe für die EU und die NATO, sondern auch die EU und die NATO haben eine große Vorliebe für das ukrainische Territorium und wirtschaftliche Potential. Man gibt ein lang ausgeklügeltes „Projekt“ der Einverleibung der Ukraine nicht einfach auf. Deshalb ist es für die ukrainische Regierung geboten, ein System der Gewichte und Gegengewichte aufzubauen, das nicht nur Russland, sondern auch die EU und die NATO zufriedenstellt.
Gleichzeitig Partner der EU und der Zollunion?
Die Ukraine soll sich sowohl nach Westen als auch nach Osten öffnen. Die Forderungen, die Ukraine solle sich für eine der Richtungen entscheiden, sind kontraproduktiv und führen in die Sackgasse. Wirtschaftliche EU-Ukraine-Russland-Probleme sind leichter lösbar. Es kann einfach nicht sein, dass die Volkswirtschaften der EU und der Zollunion (eurasische „EU“ mit Russland, Kasachstan und Belorussland) grundsätzlich nicht kompatibel sind, wie uns vorgegaukelt wird. Diese Länder handeln miteinander, sie investieren untereinander, d. h. die „Probleme“ der angeblichen „Inkompatibilität“ zweier Bündnisse sind politisch gemacht, unter anderem, um die Ukraine vor die unlösbare Wahl (entweder – oder) zu stellen. Mit etwas politischem Willen sind diese „Schranken“ leicht überwindbar – die Zusammenarbeit der EU mit der Zollunion muss keine heiße Liebe sein (zwischen der Sowjetunion und Europa gab es auch keine), aber für einen fairen Handel ist das nicht von größerer Bedeutung.
Der geopolitische Appetit der NATO ist schwerer zu befriedigen. Aber gerade deshalb ist die heutige Lage in der Ukraine die Stunde der Wahrheit: Will die NATO Frieden und friedliches Miteinander mit Russland, so muss sie der blockfreien Ukraine zustimmen. Wenn sie nur über Frieden redet, selbst aber Expansionspläne im Schilde führt, um den alten und neuen Hauptfeind Russland zu schwächen, dann ist sie, und nicht Russland, für die kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Rücken des ukrainischen Volkes verantwortlich. Und die Ukrainer dürfen ziemlich tief nachdenken, wer hier Freund und wer Feind ist.
Kann es zum großen Krieg kommen?
Es gibt nur vier Hauptvarianten der Entwicklung um die Ukraine. 1. Ukraine geht Richtung Westen und NATO. 2. Die Ukraine geht Richtung Russland. Diese beiden Versionen haben wir bereits besprochen, sie sind konfrontativ und können nicht zum Dauerfrieden in der Region führen. 3. Die Ukraine bleibt auf Dauer blockfrei, sie bekräftigt das aufs Neue, und Russland lässt sich dies durch Verträge mit Westmächten schriftlich garantieren. Dabei muss man im Auge behalten, dass die Blockfreiheit der Ukraine bereits ein Zugeständnis seitens Russlands an den Westen ist – im Vergleich zur Variante Nummer 2, – aber Russland hat sein Einverständnis dafür schon signalisiert.
Es gibt auch Variante vier. Die Ukraine wird durch zwei Mächte (westliche und östliche) geteilt. Eine undenkbar schlechte Lösung, vor allem für die Existenz des ukrainischen Volkes und die Bildung der ukrainischen Nation. Dazu könnte es kommen, wenn der Westen auf die (Kompromiss-)Variante 3 nicht eingeht.
Ich bin eine Zeit lang fest davon ausgegangen, dass es allen um das Übereinkommen in dem Konflikt und um den Frieden in der Ukraine geht, bis ich verstanden habe, dass das nicht so ist. Wortwahl und Taten der USA und der EU lassen die Gewissheit aufkommen, dass der Westen wohl nur die Option 1. – siehe oben – anstrebt und akzeptieren wird. Und jetzt ist ihnen auch egal, ob es dafür in der Ukraine eine Mehrheit gibt.
Die Unterstützung der Amerikaner, des Westens für den Maidan hatte (vielleicht) mehrere Ziele, aber das grundlegendste war und ist, die enge Zusammenarbeit mit der Ukraine in strategischen militärischen Fragen, die es dem Westen erlaubt, Russland weiter nach Osten zurückzudrängen bzw. (diese Frage möchte ich definitiv nicht ausklammern) ein multinationales Russland (siehe die Sowjetunion) so ideologisch, militärisch und wirtschaftlich zu zermürben, dass es in einzelne (militärisch unbedeutende) „souveräne“ Staaten zerfällt. In dieses Szenario der vollen Abspaltung der Ukraine von Russland und ihre Eingliederung in die westlichen wirtschaftlichen und militärischen Räume wurde im Westen schon viel Zeit, Mühe und Geld investiert, und es wäre aus seiner Sicht einfach nicht rentabel, jetzt, so kurz vor dem (wie sie annehmen, für den Westen erfolgreichen) Ende die getätigten Investitionen abzuschreiben. Das bedeutet, die Strategie (!) der NATO-Osterweiterung wird weiter mit Nachdruck verfolgt.
Aber nicht nur aktuelle Ereignisse bringen uns zu diesen Schlussfolgerungen. Die ganze Geschichte um die Ukraine im 19. und 20. Jahrhundert zeigt, dass der Westen, vor allem Deutschland und England, immer darum bemüht waren, die nationalen Gebiete Russlands von ihm abzutrennen, um das Imperium zu schwächen. Das war die so genannte „Politik der Desintegration Russlands“. Es ging damals natürlich nicht allein um die Ukraine, sondern um Polen, das unter den Zaren zu Russland gehörte, um Baltikum, Belorussland, aber auch um die transkaukasischen und zentralasiatischen Republiken. Und das heute in Bezug auf die Krim verpönte Selbstbestimmungsrecht der Völker war damals eine scharfe Waffe, nicht nur im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (gegen Briten), sondern auch des Westens gegenüber Russland. Nun sind Polen und Baltikum in der NATO, die Ukraine ist an der Reihe. Die Beziehungen der NATO (und in ihrem Schlepptau der EU) mit Aserbaidschan, Georgien, Armenien und Moldawien und sogar Belorussland werden ausgebaut. Nächste Schritte des Westens sind zweifellos die Abspaltung Armeniens von Russland (dort gibt es Zündstoff genug, exemplarisch sei nur der aserbaidschanisch-armenische Konflikt genannt), Unruhestiftungen in Belorussland und Zentralasien. Der Sturz dort regierender Diktatoren und zu Diktatoren stilisierter Präsidenten wird einen willkommenen Anlass für den Regimewechsel bieten. Wie man heute weiß, auch die Entmachtung und Tötung Nicolae Ceauşescus in Rumänien (aber nicht nur ihn und nicht nur dort…) war von langer Hand vorbereitet und organisiert. Letzte Phase der Partie ist, so die Logik der letzten Jahrzehnte, die Desintegration Russlands, Schaffung jugoslawischer Verhältnisse mit dem gleichen Ergebnis. Anstelle Russlands können auf dem riesigen Territorium fünfzehn bis zwanzig unabhängige Staaten unter der Kontrolle des Westens entstehen. Erst dann wäre das Spiel zu Ende. Aber auf keinen Fall vorher.
Auf Konfrontationskurs
Manche Analytiker (wie exemplarisch der Direktor des Moskauer Zentrums für strategische Konjunktur Iwan Konowalow) hegen Hoffnung: „Die NATO wird nicht wegen der Ukraine auf ernsthaften Konfrontationskurs mit Russland gehen“. Solche Betrachtungsweise ist grundsätzlich falsch: Nicht die NATO tut etwas „für die ukrainische Interessen“, sondern die Kiewer Machthaber sind heute der Hilfstrupp der NATO und verfolgen die Ziele des Atlantischen Bündnisses. Und die NATO kämpft in der Ukraine nicht für die Ukraine, sondern für sich selbst. Die Ukraine ist nur ein Puzzle-Stein, den die NATO jetzt versucht ordentlich zu platzieren.
Deshalb wird der Westen, bei aller friedlichen Rhetorik, den Konflikt um die Ukraine anheizen und so lange mit ukrainischen Händen und mit ukrainischem Blut einen Krieg gegen Russland führen, bis Russland die volle und bedingungslose Eingliederung der Ukraine in den Westen akzeptiert (so wie vorher mit Baltikum, Polen, Tschechien, Ungarn usw. geschehen). Der Stellvertreter-Krieg in der Ukraine hat aus der Sicht der Organisatoren viel Positives: Erstens schürt er Hass zwischen Ukrainern und Russen, und das ist eine solide Basis für lange andauernde Zerwürfnisse; zweitens schwächt der Krieg Russland und bringt die Zeit der gewünschten wirtschaftlichen Probleme, die darauf folgenden Unruhen und Desintegration des Landes näher; drittens, das ist kein Vietnam: Yankees müssen hier nicht ihr Leben lassen, das machen diesmal für sie die Ukrainer.
Um historische Parallelen zu bemühen: 1941 glaubte auch der Anführer der ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera, Hitler würde ihm helfen, die unabhängige Ukraine zu gründen. Deshalb schickte er Ukrainer-Bataillone gegen Stalin auf der Seite der Wehrmacht. Hitler nutzte sie aber nur für seine eigenen schmutzige Zwecke und verfrachtete Bandera unvermittelt in das KZ Sachsenhausen. Diese Enttäuschung kann sich im 21. Jahrhundert ziemlich ähnlich wiederholen.
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