Weltpolitik

Proteststurm in Brasilien – Hunderttausende auf der Straße

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von REDAKTION, 18. Juni 2013 –

Brasilien erlebt eine der massivsten Protestwellen seiner Geschichte – ausgerechnet zum Confederations Cup, der Generalprobe für die Fußball-WM im nächsten Jahr. Geschätzt über 200 000 Menschen nahmen in der Nacht zum Dienstag in mehr als zehn Städten des Landes an weitgehend friedlichen Demonstrationen teil. Ursprünglich als Protest gegen Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr begonnen, richtet sich der Unmut der Demonstranten mittlerweile allgemein gegen Korruption und die Milliardenausgaben der Regierung für die anstehenden Sport-Großereignisse, bei gleichzeitigen Kürzungen im Gesundheits- und Bildungssektor.

Allein in Rio demonstrierten schätzungsweise 100 000 Menschen zunächst friedlich. Die Demonstranten riefen: „Rio wird stillstehen, wenn die Stadt die Preise nicht verringert.“ Auf Plakaten forderten sie ein „besseres Brasilien“, ein Ende der Korruption und mehr Geld für Hospitäler, Schulen und Universitäten. „Ich lass’ die WM sausen und will mehr Geld für Gesundheit und Bildung“, skandierten die Teilnehmer der Demonstration, zu der vor allem in sozialen Netzwerken im Internet aufgerufen worden war. Die Proteste verliefen zunächst friedlich. Vor dem Regionalparlament spielten sich jedoch bürgerkriegsähnliche Szenen ab, als Vermummte versuchten, das Gebäude in Brand zu setzen.

Auch in der Hauptstadt Brasília wurde protestiert. Tausende versammelten sich vor dem Nationalkongressgebäude, das durch die avantgardistische Architektur von Oscar Niemeyer weltbekannt ist. Hunderte junge Menschen drangen auf ein Zwischendach des Kongresses vor, wo Brasiliens Senat und das Abgeordnetenhaus ihren Sitz haben.

Sie besetzten das Dach stundenlang, feierten ihren Erfolg mit Liedern und schwenkten brasilianische Flaggen. „Der Kongress ist unser“, riefen sie. Einige Demonstranten versuchten, in das Gebäude einzudringen. Der Präsidentenpalast Palácio do Planalto wurde massiv von Sicherheitskräften abgeschirmt. Befürchtete Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei blieben zunächst aus.

Zu Aktionen mit tausenden Teilnehmern kam es auch in Porto Alegre, Belém, Recife, Fortaleza, Belo Horizonte und Salvador. In Porto Alegre entfachten Demonstranten ein Feuer auf der Straße, die Polizei setzte Tränengas und Gummigeschosse ein. Über Verletzte gab es keine Angaben.

In den US-Städten Los Angeles, New York, Chicago und Boston organisierten Hunderte Brasilianer Aktionen, um sich zu solidarisieren. Auch in Europa kam es zu Solidaritätskundgebungen.

Entzündet hatten sich die Proteste vergangene Woche in Sao Paolo, mit über elf Millionen Einwohnern die größte Stadt des Landes. Auslöser der massiven Protestwelle war eine Erhöhung der Fahrpreise für Busse Anfang des Monats.

Am Montagabend zogen nach Schätzungen über 60 000 Demonstranten durch die Millionenmetropole. „Das Volk vereint regiert ohne Parteien“, riefen dort die Teilnehmer.  Mehrere Dutzend Demonstranten blockierten in der Nacht zum Dienstag die Straße zum Sitz der Provinzregierung, berichtete die Tageszeitung Folha de São Paulo.

Die Sicherheitskräfte hielten sich zurück, nachdem die Proteste der vergangenen Tage noch von massiver Polizeigewalt überschattet worden waren. Die Militärpolizei setzte Tränengas und Gummigeschosse gegen friedliche Demonstranten ein. „Dutzende von Personen wurden verletzt, unter ihnen zahlreiche Unbeteiligte und Journalisten“, schreibt die Neue Zürcher Zeitung. (1)

Fußball-WM verschärft soziale Widersprüche

Das Schweizer Blatt verweist auf die tieferen Widersprüche, die sich in den Massendemonstrationen manifestieren: „Die Proteste haben bereits nach wenigen Tagen eine Dimension erreicht, die darauf hindeutet, dass es um viel mehr geht als nur um den Preis des Busbilletts oder die Kosten der Fußballstadien. Wer den Diskussionen im Internet folgt, findet Wortmeldungen einer jungen Generation von Brasilianern, (…) die nach einem Ende der Korruption und nach einem funktionierenden öffentlichen Dienst“ schreie, der die hohen Steuern und Lebenskosten rechtfertige. (2) Die Fahrtkostenerhöhungen seien lediglich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

Für die Modernisierung und den Neubau von Stadien für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Sommerspiele 2016 werden Milliarden investiert, die vor allem im maroden staatlichen Gesundheits- und Bildungssystem dringend gebraucht werden. Für den schlechten Zustand sind aber nicht nur die knappen Mittel verantwortlich, sondern auch die grassierende Korruption. Es sind die Berichte etwa über fabrikneue Krankenwagen, die auf Parkplätzen vor sich hin rosten, die vielen Brasilianern die Zornesröte ins Gesicht treibt. (3)

Den mit den sportlichen Großereignissen verbundenen Bauvorhaben und Infrastrukturprojekten stehen oftmals die Favelas im Weg. So werden die informell errichteten Ansiedlungen genannt, von denen es allein in Rio rund eintausend gibt. Die Kriminalitätsrate in den Elendsbezirken ist hoch, manche werden von Drogenbanden kontrolliert. Brasiliens Regierung will die Favelas am liebsten räumen oder in normale Stadtviertel verwandeln, oder doch zumindest die Kontrolle über sie erlangen. Zu diesem Zweck wurden in den vergangenen Jahren mehrfach Favelas von Polizisten und Soldaten gestürmt, wobei Dutzende Menschen getötet wurden.

Bei diesen Einsätzen werde die Infrastruktur teilweise zerstört, so dass die Bewohner zum Umzug gezwungen würden, kritisierte Patrick Wilson von Amnesty International. (4)

Der Weltfußballverband FIFA als WM-Ausrichter interessiert sich für die Nöte der von Zwangsumsiedlungen Betroffenen nicht. Zur Sicherung der Spiele gegen terroristische Anschläge verlangte die FIFA von der brasilianischen Regierung die Anschaffung militärischen Geräts, darunter deutsche Flugabwehrpanzer und israelische Drohnen.  

„Die FIFA wandte sich als militärischer Berater an unsere Streitkräfte und bestimmt, welche Art von Waffen sie kaufen sollten. Das ist eine komplette Verhöhnung der nationalen Souveränität“, kritisiert der Soziologe und Stadtplaner Professor Carlos Vainer das FIFA-Diktat. (5) Bürgerrechtsorganisationen warnen vor einer Militarisierung des öffentlichen Raumes.  

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In einer ersten Reaktion äußerte Staatspräsidentin Dilma Rousseff  Verständnis für „friedliche Demonstrationen“. Diese seien legitim und gehörten zur Demokratie. Was die Angriffe von Demonstranten auf das Regionalparlament von Rio betrifft, so sprach dessen Präsident, Paulo Mello, von einem „Akt des Terrorismus“. FIFA-Präsident Joseph Blatter hatte noch vor Beginn der massiven Demonstrationen betont, der Fußball sei stärker als die Unzufriedenheit der Menschen.


Anmerkungen
(1) http://www.nzz.ch/aktuell/international/brasiliens-jugend-erwacht-1.18100550
(2) ebd.
(3) http://g1.globo.com/al/alagoas/noticia/2013/01/ambulancias-novas-do-samu-estao-paradas-em-patio-diz-sindicato.html
(4) http://jungle-world.com/artikel/2011/19/43202.html
(5) http://amerika21.de/2013/05/83091/brasilien-ruestet-fuer-mega-even

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