Präsidentin Rousseff aus dem Amt getrieben
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Mithilfe des Senats haben die rechten und wirtschaftsliberalen Kräfte es geschafft, Präsidentin Dilma Rousseff aus ihrem Amt und die Arbeiterpartei von der Macht zu drängen – zumindest für ein halbes Jahr
Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff muss ihr Amt vorläufig abgeben. Der brasilianische Senat stimmte am Donnerstag nach einer rund 20-stündigen Marathonsitzung mit 55 zu 22 Stimmen für eine Suspendierung Rousseffs von zunächst 180 Tagen, um mögliche Amtsverfehlungen der Präsidentin juristisch prüfen zu lassen. Nötig war eine einfache Mehrheit, es wurde aber eine Zweidrittelmehrheit erreicht. Der Präsidentin werden eigenmächtige Kreditvergaben und Bilanztricks zur Verschleierung der wahren Haushaltslage vorgeworfen.
Vizepräsident Michel Temer von der Partei der demokratischen Bewegung (PMDB) will noch am Donnerstag das Amt übernehmen. Er will ein Kabinett ohne Beteiligung der seit 2003 regierenden gemäßigt linken Arbeiterpartei (PT) bilden. Einen letzten Einspruch der Regierung gegen das Absetzungsverfahren hatte der Oberste Gerichtshof des Landes am Mittwoch zurückgewiesen.
Als eine der letzten Handlungen unterzeichnete Rousseff ein Dekret, das den Abschuss verdächtiger Flugzeuge während der Olympischen Spiele im August in Rio de Janeiro regelt. Eröffnen wird sie die Spiele nicht mehr. Das darf nun Temer, seine PMDB hatte im März die Koalition mit der Arbeiterpartei nach 13 Jahren platzen lassen – Temer blieb aber Vize, um Rousseff im Amt beerben zu können. (1)
Diese weist die gegen sie erhobenen Vorwürfe zurück und spricht von einem „Putsch“. Sie sei bis zum 31. Dezember 2018 gewählt, einen Rücktritt schließt sie aus. In den 180 Tagen werden die Vorwürfe unter Beteiligung des Obersten Gerichtshofs geprüft. Dann müsste der Senat mit einer Zweidrittelmehrheit über eine endgültige Amtsenthebung entscheiden. Wird das Quorum verfehlt, würde die 68-jährige wieder das Amt übernehmen.
Zumindest für das nächste halbe Jahr wird eine Regierung ohne Beteiligung der Arbeiterpartei das Land führen. Die PT war vor dreizehn Jahren unter Lula da Silva an die Macht gekommen. Mit Hilfe von Sozialprogrammen und Mindestlöhnen war es ihr gelungen, vierzig Millionen Brasilianer aus der Armut zu holen.
Von 2004 bis zur Amtsübernahme Rousseffs im Jahr 2011 wuchs die Wirtschaft im Schnitt um 4,9 Prozent, auch dank sprudelnder Öleinnahmen und des Agrarsektors. Doch mittlerweile ist die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt in eine der tiefsten Rezessionen ihrer Geschichte gerutscht. Inzwischen sind elf Millionen Brasilianer arbeitslos.
Auch wenn es ihr gelang, den Lebensstandard für viele Brasilianer zu erhöhen, habe die PT es jedoch versäumt, Brasilien „vom Rohstoffland zu einem Industrieland weiter zu entwickeln“, analysierte der Ökonom Heiner Flassbeck vor einem halben Jahr die wirtschaftliche Lage des Landes. (2) Der Einbruch der Rohstoffpreise, vor allem der des Erdöls, hat die Wirtschaftsmisere im Amazonasstaat dementsprechend beflügelt.
Doch es war der Korruptionsskandal um Auftragsvergaben des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras, der vor einem Jahr erstmals Menschen massiv mit der Forderung nach einer Amtsenthebung der Präsidentin auf die Straßen trieb. Von 2003 bis 2010 war Rousseff Aufsichtsratsvorsitzende des Konzerns. Belege dafür, dass sie selbst in Korruptionsfälle involviert war, gibt es allerdings nicht.
Begründet wird das Amtsenthebungsverfahren gegen sie daher nicht mit Bestechungsvorwürfen, sondern primär mit Bilanztricks im Staatshaushalt. Über staatliche Banken wie die Banco do Brasil werden Sozialprogramme wie die Familiensozialhilfe bezahlt. Die Regierung soll zum Beispiel die Überweisung von 3,5 Milliarden Reais (900 Millionen Euro) für ein Hilfsprogramm für Bauern bewusst verzögert haben, um das Defizit zu verringern – das haben aber auch schon Vorgängerregierungen gemacht, ohne besondere Empörung auszulösen.
Nun wurde „ausgerechnet jene Frau, die nicht mitgeklüngelt hat und der keine Korruption vorgeworfen wird“ (Spiegel-Online), von einem Senat aus dem Amt befördert, der selbst als hoch korrupt gilt. Gegen rund sechzig Prozent der Senatoren, die nun für eine Absetzung Rousseffs votierten, laufen entsprechende Ermittlungen. „Das wirkliche Ziel hinter dem Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff ist es, den laufenden Ermittlungen ein Ende zu setzen, und dadurch die Bestechungspraxis zu schützen, nicht zu bestrafen“, urteilte der britische Guardian über die wirklichen Beweggründe von Senatoren und Abgeordneten, Rousseff zu stürzen. (3)
Kehrtwende zum Neoliberalismus
Auch Temers designiertes Kabinett ist nicht frei von Personen, die unter Korruptionsverdacht stehen – er selbst ist Gegenstand von Korruptionsermittlungen. Zudem ist seine PMDB genauso in den Bestechungsskandal bei Auftragsvergaben des Petrobras-Konzerns involviert, wie die nun von der Macht gedrängte Arbeiterpartei.
Kaum ein Brasilianer kauft es daher dem 75-jährigen ab, wenn er sich als Kämpfer gegen Korruption inszeniert. Erschüttert wurde seine Glaubwürdigkeit auch durch seine ursprünglichen Pläne, Eduardo Cunha das Amt des Vizepräsidenten zuzugestehen, obwohl dieser Schmiergelder in Höhe von fünf Millionen US-Dollar beim Bau von Bohrinseln des Petrobras-Konzerns kassiert haben soll. In der Schweiz waren dem PMDB-Politiker zugeordnete Konten mit Summen in dieser Höhe aufgetaucht.
Als Parlamentspräsident hatte Cunha das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff initiiert und zudem wichtige Reformvorhaben der Regierung blockiert, um den Handlungsspielraum der Präsidentin einzuengen – obwohl seine Partei noch der Regierung angehörte. Vergangene Woche musste Cunha jedoch selbst seinen Hut nehmen, nachdem er vom Obersten Gerichtshof suspendiert wurde, da er sein Amt als Parlamentspräsident zur Behinderung von gegen ihn laufenden Ermittlungen benutzt hatte.
Bezeichnenderweise befürwortet eine Mehrheit der Brasilianer laut Umfragen auch die Amtsenthebung des nunmehrigen Interimspräsidenten Temer. Schließlich gehörte er selbst jahrelang als Vizepräsident der Regierung an, an deren Sturz der „allerbestens vernetzte Strippenzieher“ (dpa) nun eifrig beteiligt war. Rousseff bezeichnet ihn daher als „Verräter“. „Im Vergleich zu Temer ist Judas ein Anfänger“, fällte vor einem Monat der Guardian sein wenig schmeichelhafte Urteil über den intriganten Politiker (4), dessen Zustimmungswerte gerade mal bei zwei Prozent liegen – weswegen dieser kein Interesse an Neuwahlen hat.
Ob seine Popularitätswerte bis zu den regulär für Ende 2018 angesetzten Präsidentschaftswahlen steigen werden, kann indes bezweifelt werden. Er will das Land auf einen strikt neoliberalen Kurs bringen, und entsprechend massiv Sozialprogramme kürzen und Staatsbesitz privatisieren lassen. Maßnahmen, die die von der Wirtschaftskrise bereits schwer gebeutelten unteren und mittleren Einkommensschichten zusätzlich belasten werden. Doch „Finanzmärkte und Wirtschaft setzen auf ihn“, berichtet dpa vor dem Hintergrund der engen Verbundenheit des neuen Regierungschefs gegenüber der Finanzelite, deren Vertretern Temer wichtige Posten und Schaltstellen überlassen will. (5)
Dass er mit dem bisherigen Senator Blairo Maggio einen weltweit führenden Sojaproduzenten zum neuen Agrarminister machen will, lässt Umweltschützer Böses ahnen – sie fürchten eine Aufhebung des Schutzes für Regenwaldgebiete. „Das Zepter übernehmen die Anhänger einer Wachstumsideologie ohne Augenmaß“, meint Roberto Maldonado vom WWF angesichts der Ernennung des „Sojabarons“ Maggio.
Anhänger der Arbeiterpartei, Vertreter von Gewerkschaften sowie sozialer Bewegungen kündigten an, die Absetzung Rousseffs nicht kampflos hinzunehmen – zur Ruhe wird das Land auf absehbare Zeit nicht kommen. Die Bundesregierung hat sich zum Machtwechsel in Brasilien noch nicht geäußert. Deutliche Worte fand indes der Außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Niels Annen. Die Suspendierung der Präsidentin bezeichnete er auf dem Kurznachrichtendienst Twitter als „Schande“. „Die brasilianische Rechte spaltet das Land und missbraucht die Verfassung.“
(mit dpa)
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Anmerkungen
(1) Siehe dazu: http://www.hintergrund.de/201603313907/politik/welt/brasilien-rousseff-immer-staerker-unter-druck.html
(2) Siehe dazu: http://www.hintergrund.de/201512173787/wirtschaft/wirtschaft-welt/krise-in-brasilien-verschaerft-sich.html
(3) http://www.theguardian.com/commentisfree/2016/apr/21/dilma-rousseff-enemies-impeached-brazil
(4) http://www.theguardian.com/commentisfree/2016/apr/18/brazil-impeachment-identity-crisis-dilma-rouseff-workers-party
(5) Siehe dazu: http://www.hintergrund.de/201604283934/politik/welt/was-in-brasilien-wirklich-geschieht.html