Öl, Korruption, Ungleichheit
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In Nigeria überlagern sich mehrere Konflikte, die zu einer bürgerkriegsartigen Situation geführt haben –
Von SIMON LOIDL, 25. Juni 2013 –
Mitte Mai hat Nigerias Präsident Jonathan Goodluck für drei Bundesstaaten im Nordosten des Landes den Notstand erklärt. Die von der islamistischen Sekte Boko Haram zu verantwortende Gewalt in Borno, Yobe und Adamawa habe ein Ausmaß erreicht, das „außergewöhnliche Maßnahmen“ erforderlich mache, so Jonathan in einer Rundfunkansprache am 14. Mai. Es handle sich bei den Taten der Gruppe nicht mehr einfach um „Militanz oder Kriminalität“, sondern um „Rebellion und Aufstand“. Als Gegenmaßnahme kündigte Jonathan die Entsendung von militärischen Einheiten mit Sonderbefugnissen an. Diese dürfen Gebäude besetzen, ganze Stadtviertel abriegeln und umfassende Razzien durchführen. Obwohl derartige Maßnahme auch bis dahin schon zum Alltag in einigen Regionen Nigerias zählten, stellte die Verhängung des Notstandes dennoch eine weitere Eskalation dar, die nicht zuletzt auch zuvor durchgeführte, von Beobachtern aufgrund der Brutalität oft kritisierte Maßnahmen von Polizei und Militär im Nachhinein legitimierte.
Binnen 24 Stunden nach Ausrufung des Notstandes wurden 2 000 zusätzliche Soldaten sowie Antiterroreinheiten in die drei Staaten entsandt. Die Armee rief Ausgangssperren aus und führte eine militärische Operationen in den Wäldern um Sambisa in Borno durch. Dort befinden sich nach Angaben der Behörden Kämpfer des „Verbandes der Sunniten für Da’wa und Dschihad“, wie der offizielle Name der als „Boko Haram“ (übersetzt etwa „Bücher sind Sünde“) bekannten Sekte lautet. Dabei kamen auch Kampfjets und -hubschrauber zum Einsatz, nigerianische Medien berichteten von zahlreichen Toten. Politiker der Region sprachen von einer „indirekten Kriegserklärung“ Jonathans gegen den Norden des Landes. Nur wenige Tage nach Verhängung des Notstandes waren bereits Tausende Menschen vor den Kämpfen über die Grenze nach Niger geflohen.
Seither eskaliert die Gewalt auf beiden Seiten. Während die Armee mit äußerster Härte vorgeht, kommt es immer wieder zu Anschlägen. Gleichzeitig gibt es Berichte über Waffenstillstandsverhandlungen, wobei unklar ist, inwieweit die involvierten Boko-Haram-Mitglieder überhaupt für die gesamte Organisation sprechen.
Hinzu kommt, dass auch andere islamistische Gruppen derzeit sehr aktiv sind. Anfang Juli wurden bei einem Anschlag auf eine Schule im Bundesstaat Yobe mehr als 30 Menschen getötet. Nigerianische Medien und Nachrichtenagenturen nannten Boko Haram als Attentäter, die Sekte wies dies allerdings zurück.
Eskalation statt Amnestie
Etwa einen Monat vor der Verhängung des Notstandes war es zu einem der Höhepunkte in den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen islamistischen Gruppen und Sicherheitskräften in Nigeria während der letzten Jahre gekommen. Mitte April wurde bei Kämpfen zwischen Militär und Boko-Haram-Mitgliedern das im Nordosten des Landes am Tschadsee gelegene Fischerdorf Baga dem Erdboden gleichgemacht. Über die Zahl der Getöteten gehen die Angaben weit auseinander. Während das Militär von 20 bis 30 gefallenen islamistischen Kämpfern sprach, berichteten Einwohner von fast 200 Toten. Das Rote Kreuz zählte 187 Opfer, die meisten davon Zivilisten, die in ihren Häusern verbrannten. Soldaten haben, so wurden Augenzeugen in nigerianischen Medien zitiert, die Brände im Verlauf der mehrstündigen Kämpfe absichtlich gelegt. Nach Angaben von Bewohnern und Untersuchungen der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wurden 2 275 Häuser zerstört – in offiziellen Stellungnahmen ist auch hier von etwa 30 Fällen die Rede. Präsident Jonathan kündigte Anfang Mai an, dass die nigerianischen Menschenrechtskommission die Vorwürfe, wonach die Armee hunderte oder tausende Häuser in Brand gesteckt habe, untersuchen würde. Mit „Fehlverhalten“ von Militärvertretern würde entsprechend umgegangen, so Jonathan laut BBC. Gleichzeitig erwähnte er aber auch, dass Brandstiftung eine wohlbekannte Taktik der Islamisten sei.
In den Wochen nach dem Massaker von Baga kam es in mehreren Städten zu Angriffen vor allem auf Polizeistationen und Sicherheitskräfte. Die anhaltende Gewalt führte zunächst dazu, dass eine seit längerem diskutierte Amnestie für Boko-Haram-Mitglieder wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Die Idee war von politischen und religiösen Führern des Nordens in die Diskussion eingebracht worden: die Zentralregierung müsse sich auf die Sekte zubewegen um eine friedliche Entwicklung anzustoßen. Kurz nach dem Massaker in Baga stimmte Jonathan schließlich der Einsetzung einer 25köpfigen Kommission aus Vertretern des politischen und religiösen Lebens des Landes zu, die Grundlagen für eine Amnestieregelung ausarbeiten sollte. Boko Haram lehnt das Vorhaben allerdings ab. Man habe sich keiner Verbrechen schuldig gemacht, die einer Begnadigung bedürfen, so die Gruppe. „Was haben wir falsch gemacht?“, fragte ein Sprecher der Sekte laut der nigerianischen Tageszeitung The Guardian in Richtung der Regierung. „Im Gegenteil sind wir es, die euch verzeihen sollten“, so der Sprecher weiter.
Von der Tagesberichterstattung in westlichen Medien weitgehend unbeachtet, entwickelt sich in Nigeria aus mehreren Konfliktherden eine bürgerkriegsartige Situation. Der seit Jahrzehnten existierende Nord-Süd-Konflikt drückt sich derzeit in den Auseinandersetzungen zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und Boko Haram aus. Gleichzeitig brach während der vergangenen Monate aber auch andere Bruchlinien erneut auf. Mitte Mai wurden etwa im zentralnigerianischen Bundesstaat Nassarawa Dutzende Polizisten von Mitgliedern der Ombatse-Sekte getötet. Anhänger dieses unter Mitgliedern der Bevölkerungsgruppe der Eggon verbreiteten synkretistischen Kults erklärten, man habe sich lediglich gegen die drohende Verhaftung des obersten Priesters der Gemeinschaft zur Wehr gesetzt. Vertreter von Organisationen der Eggon machten auf Repressionen und Benachteiligung durch die Regierung aufmerksam, die immer wieder zu Gewalt führten.
Auch der schwelende Konflikt im Niger-Delta brach erneut auf. Hier kam es zu neuen Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Kräften und bewaffneten Gruppen. Eine weitere Konfliktebene prägte vor allem die ersten Monate des Jahres 2012. Nachdem die Regierung mit Beginn des vergangenen Jahres die Subvention von Benzin abgeschafft hatte, kam es zu Massenprotesten, die schließlich eine teilweise Rücknahme der Neuregelung bewirkten.
Soziale und ökologische Verheerung
Während die sozialen Proteste und die seit Jahrzehnten immer wieder aufflammenden Auseinandersetzungen im Niger-Delta in den westlichen Medien kaum Beachtung finden, sorgen die Gewaltexzesse, für welche islamistische Gruppen wie Boko Haram sowie Polizei und Militär verantwortlich sind, immer wieder international für Schlagzeilen. Dies liegt vor allem daran, dass es sich dabei um eine Auseinandersetzung handelt, die relativ einfach in die üblichen kulturalistischen Erklärungsmodelle gepresst werden kann, die von Medien des Westens bzw. Nordens geprägt und gepflegt werden. „Islamisten gegen Christen“ lautet die einfache Formel, und im Zeitalter des globalen „Kriegs gegen den Terror“ sieht man dann Nigeria in diesem Modell einfach als eine von zahlreichen Fronten dieses Kampfes. In den Agenturmeldungen wird dabei häufig auch auf den seit Jahrzehnten bestehenden Konflikt zwischen dem mehrheitlich islamischen Norden und dem mehrheitlich christlichen Süden verwiesen. Abgesehen davon, daß sich kulturell-ethnische Konflikte in einem Land mit einer religiösen und ethnischen Vielfalt wie sie in Nigeria vorhanden ist, kaum auf einen simplen Dualismus herunterbrechen lassen, wird bei der Beschreibung aktueller Kämpfe die soziale Dimension der Auseinandersetzungen in der Regel ausgeblendet.
Kurz und bündig zusammengefasst ist Nigeria vor allem aufgrund seines Ressourcenreichtums potentiell eines der reichsten Länder Afrikas – gleichzeitig zählt die Bevölkerung zu den ärmsten des Kontinents. Das Bruttoinlandsprodukt beträgt derzeit nach Kaufkraftparität etwa 450 Milliarden US-Dollar, während der Wert pro Kopf nur etwa 2 700 Dollar beträgt (zum Vergleich: für Belgien lauten die entsprechenden Zahlen etwa 420 Milliarden US-Dollar BIP (KKP) und 38 000 Dollar pro Kopf). Anders ausgedrückt: im internationalen Vergleich liegt Nigeria derzeit beim BIP auf Platz 30, während der Human Development Index der Vereinten Nationen das Land auf Platz 153 reiht. Die ungleiche Verteilung des Reichtums Nigerias ist rekordverdächtig.
Hintergrund dieser Situation ist ein über die Jahrzehnte entwickeltes System aus Korruption, das in der staatlich organisierten Abzweigung der Einnahmen aus der Ölförderung seinen Kern hat. Nigeria ist der elftgrößte Erdölproduzent der Welt, die Einnahmen wurden aber zu keinem Zeitpunkt für das Wohl der Bevölkerung genutzt. „Ein halbes Jahrhundert des Ölüberflusses hat Nigeria in die Kategorie der ölreichen Länder katapultiert, gleichzeitig wurde ein großer Teil davon allerdings verschleudert, gestohlen oder für politische Zwecke abgezweigt, statt für die wirtschaftliche Entwicklung genutzt zu werden“, fasst Michael Watts in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift PROKLA die Situation zusammen. Die ungleiche Verteilung der Öleinnahmen hat aber nicht nur zur Entstehung eines komplexen System korrupter und mafiöser Strukturen beigetragen, sondern verschärfte auch die Spannungen an den ethnischen Konfliktlinien.
Nach mehren Jahrzehnten ökologischer und sozialer Verheerung vor allem des Niger-Deltas befindet sich die Industrie seit einigen Jahren im Rückgang. Produktionskapazitäten werden abgebaut, die mit dem Öl in Zusammenhang stehende Kriminalität im Großen wie im Kleinen ist Wirkung und Ursache des Rückgangs der Produktion und schuf gleichzeitig Strukturen, die das System am Laufen halten. Rebellengruppen wie das Movement for the Emancipation of the Niger Delta (MEND), die seit einigen Monaten wieder verstärkt von sich reden machten, entstanden aufgrund des legitimen Anspruchs der lokalen Bevölkerung, am Ölreichtum zu partizipieren. Gleichzeitig führte das Agieren bewaffneter Gruppen zum Entstehen einer mafiaartigen Parallelwelt, in der Milizen nicht selten gleichzeitig für ihre Teilhabe an den Öleinnahmen stritten und sich – etwa als private „Sicherheitskräfte“ – in den Dienst der Ölkonzerne stellten und so dafür sorgten, dass trotz Protesten und Sabotageaktionen an Ölfördereinrichtungen die Produktion weiterlief. Gruppen, die mit dem Anspruch aufgetreten waren, für die Rechte der Bevölkerung in den Erdölregionen zu kämpfen, waren so zu einem weiteren Teil des destruktiven Systems geworden. Vor allem für Jugendliche bietet genau diese Parallelwelt aber auch die einzige Möglichkeit, an Einkommen zu gelangen.
Die bewaffneten Gruppen im Niger-Delta agieren also vor einem ähnlichen sozialen Hintergrund wie die islamistischen Gruppen im Norden des Landes. Verarmten, arbeits- und perspektivlosen Jugendlichen bietet sich die Möglichkeit, im Rahmen organisierter Strukturen für eine angeblich gute Sache zu kämpfen. Dabei werden sie zu Söldnern für Gruppen oder Einzelpersonen, die ihre eigene Agenda verfolgen. Beobachter sprechen etwa von einer komplexen Verstrickung islamistischer Gruppen und Politiker des Nordens. Immer wieder gab es auch Gerüchte über eine inoffizielle Zusammenarbeit zwischen Regierung und Boko Haram im Sinne einer Art Strategie der Spannung, die der Regierung Zustimmung und den Islamisten weiteren Zulauf und Einfluss in einigen Regionen sichern sollte. Die derzeitige Eskalation stellen manche Kommentatoren bereits in einen Zusammenhang mit den für 2015 angesetzten Wahlen.
Occupy Nigeria
Vor diesem Hintergrund korrupter Regierungspolitik, ausbeuterischer und zerstörerischer Konzernstrategien, Mafia-Strukturen und islamistischer Gewalt überraschte die breite zivile Bewegung, die Anfang 2012 das politische Geschehen in Nigeria für einige Wochen bestimmte. Nach einer Erhöhung der Benzinpreise durch Streichung von Subventionen brachen im ganzen Land Proteste aus. Mehr als zehn Millionen Menschen in über 50 Städten des Landes gingen auf die Straße, Parks und Plätze wurden nach dem Vorbild der Bewegungen in den USA und Europa besetzt. Mitte Jänner 2012 ließ ein acht Tage andauernder Generalstreik gegen die Benzinpreiserhöhung das ganze Land stillstehen.
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Nach Zusagen der Regierung, die Korruption in der Ölindustrie zu „untersuchen“ sowie einer partiellen Rücknahme der Preiserhöhung, wurde der zunächst unbefristete Ausstand von der Führung der beiden Gewerkschaftsföderationen abgebrochen. Die Protestbewegung konnte zwar nur einen Teilerfolg erreichen und scheiterte nicht zuletzt am Einlenken der Gewerkschaftsführung. Gleichzeitig werteten viele aber das relativ spontan entstandene Aufbegehren als großen Erfolg und Hoffungsschimmer für weitere soziale Proteste. Nicht zuletzt die Beteiligung von Menschen aus allen religiösen und ethnischen Gruppen an den Streiks und Demonstrationen war ein eindrucksvoller Beweis dafür, dass die von der herrschenden Korruption und Ausbeutung Betroffenen zu einer solidarischen Zusammenarbeit und zur Überwindung ihrer von verschiedenen Kräften im Land forcierten Spaltung in der Lage sind. Wie sich die verschiedenen Konflikte in Nigeria weiterentwickeln wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es den fortschrittlichen Kräften im Laufe der kommenden Jahre gelingen wird, einen oppositionellen Block gegen Goodluck Jonathan aufzubauen.
Im April urteilte das Oberste Gericht, daß dieser 2015 erneut zu den Wahlen um die Präsidentschaft antreten darf. Laut Verfassung kann das höchste Amt Nigerias nur zwei Mal ausgeübt werden. Um ein mögliches erneute Kandidatur Jonathans in zwei Jahren war eine Kontroverse entstanden, da dieser nach dem Ableben seines Vorgängers Umaru Yar’Adua das Amt bereits ein Jahr innehatte bevor er gewählt wurde. Bislang hat sich Jonathan noch nicht offiziell festgelegt, ob er wieder antritt. Die derzeitige militärische Eskalation des Konflikts mit Boko Haram könnte ihm aber durchaus Rückhalt in großen Teilen der Bevölkerung sichern und vermag in jedem Fall von den ungelösten strukturellen Problemen Nigerias abzulenken.