Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan

Neuer Krieg im Kaukasus kurz vor Gipfel abgewendet

In der größten Eskalation seit dem Waffenstillstandsabkommen vom November 2020 sind Aserbaidschan und Armenien haarscharf an einem neuen Krieg vorbeigeschrammt. Doch mit dem jetzt vereinbarten Waffenstillstand ist der Konflikt nicht beigelegt und wird auch beim Gipfeltreffen der Shanghai Cooperation Organisation in Samarkand Thema sein. Westliche Beobachter befürchten derweil, Russland, China und der Iran könnten das zweitägige Treffen dafür nutzen, politisch und militärisch näher zusammenzurücken.

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Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev (Mitte) zeigt sich am Dienstag mit seinen Militärführern.
Foto: Presse- und Informationsbüro des Präsidenten von Aserbaidschan, Lizenz: CC BY, Mehr Infos

Die jüngsten Zusammenstöße waren die schwerwiegendsten seit Beendigung des zweiten Krieges um Berg-Karabach im November 2020. Nach Meinung verschiedener Experten hätten sie zu einem neuen Krieg führen können. So sagte der armenische Journalist und politische Analyst Tatul Akopjan, der sich zum Zeitpunkt der Eskalation in Sotke, einem der umkämpften Gebiete, befunden hatte, die Situation sei „nahe an einem Krieg“ gewesen. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew will den Konflikt auch bei dem Gipfeltreffen der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) in Samarkand zum Thema machen.1

Kurz vor dem Gipfeltreffen hatten sich Mittwochabend um 20 Uhr (Ortszeit) Aserbaidschan und Armenien auf einen Waffenstillstand in der umkämpften Grenzregion geeinigt, die sich selbst seit 2017 Republik Arzach nennt. Wie das armenische Verteidigungsministerium bestätigte, sind die Gefechte fast überall eingestellt worden. Zuvor war die unter Vermittlung Russlands vereinbarte Feuerpause immer wieder durch Schusswechsel unterbrochen worden, auch unter Einsatz von Artillerie und Raketenwerfern. Laut offiziellen Angaben sind im Zuge dieser jüngsten Eskalation im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt mindestens 49 Angehörige der armenischen Armee und 42 Angehörige der aserbaidschanischen Armee ums Leben gekommen. Die Angaben zu den Opfern sind jedoch widersprüchlich. So hatte Aserbaidschan am Mittwoch angeboten, Armenien die Körper von 100 getöteten armenischen Soldaten zurückzugeben, woraufhin der armenische Premier Nikol Paschinian von insgesamt 105 getöteten armenischen Soldaten sprach.2

Zu den Ursachen der Eskalation sind die Versionen der Konfliktparteien widersprüchlich. Aserbaidschan beschuldigt Armenien, die Versorgungswege seiner Streitkräfte vermint und damit bewusst einen bewaffneten Konflikt provoziert zu haben. Der armenische Premier Nikol Paschinian dementiert jedwede Provokation vonseiten seines Landes.3 Paschinian sagt, Aserbaidschan gehe es dabei um die Frage von Berg-Karabach. Die von beiden Staaten beanspruchte Bergregion steht im Mittelpunkt des Konflikts.

Einen ersten blutigen Krieg um das Gebiet hat es von 1992 bis 1994 gegeben, nachdem sich 1991 die von Armeniern bewohnte Region Arzach zur unabhängigen Republik erklärt hatte. Damals gewann Arzach mit Unterstützung armenischer Streitkräfte. Ein zweiter Krieg entbrannte nach monatelangen Kämpfen Ende September 2020 und endete mit einem Sieg Aserbaidschans. Nach einem unter Vermittlung Russlands im November 2020 erzielten Waffenstillstandsabkommen ringen beide Seiten um die Bedingungen für einen Friedensvertrag.4 Zudem sagte Paschinian in seiner Rede, die gegenwärtigen Spannungen würden dadurch befördert, dass Aserbaidschan von Armenien einen Korridor verlange, der durch armenisches Gebiet führe. „Wir haben nicht vor, jemandem einen Korridor durch armenisches Territorium zu eröffnen“, sagte Paschinian. Gemeint ist ein Korridor zur aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan, die zwischen Armenien, dem Iran und der Türkei liegt. Bis heute gibt es keine Einigung bezüglich der Zugangswege. Nach Einschätzung verschiedener Beobachter könnte Aserbaidschan mit der neusten Eskalation des Konflikts versucht haben, mit Waffengewalt zu einer schnelleren Lösung dieser Frage zu kommen.

Suche nach Verbündeten

Als Vermittler im fortdauernden Konflikt der beiden Kaukasus-Republiken agiert traditionell Russland. Seine Position ist dabei jedoch alles andere als einfach. Einerseits wurde der Waffenstillstand in Berg-Karabach mit Beteiligung Moskaus vereinbart und Russland verfolgt die Strategie, beide Seiten mittels Gesprächen dazu zu bewegen, die Waffen ruhen zu lassen. Außerdem kann sich Russland angesichts des Ukraine-Krieges keinen weiteren Kriegsherd erlauben. Andererseits hatte Armeniens Premier Paschinian im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), der Armenien zusammen mit Russland, Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan angehört, Russland um Unterstützung ersucht. In einem Bündnisfall könnte Armenien beispielsweise fordern, dass Russland OVKS-Truppen schickt. Zuletzt wurden diese Anfang 2022 nach Kasachstan entsandt, als der kasachische Präsident Tokajew angesichts der Massenausschreitungen im eigenen Land Moskaus Unterstützung anforderte.

Paschinian hat sich aber auch an weitere Staaten und Institutionen gewandt, darunter an den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den US-Außenminister Anthony Blinken, den Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel, den iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi und den UNO-Sicherheitsrat. Über Worte der Unterstützung und der Hoffnung auf eine schnelle Deeskalation sowie Bekundungen der Bereitschaft, zur Stabilisierung der Lage beizutragen, hinaus konnte Paschinian jedoch keine nennenswerte Einmischung aus dem Ausland bewirken.5

Aserbaidschan hält sich derweil an seinen engen Verbündeten, das NATO-Mitglied Türkei. In einem Telefonat am Dienstag versicherte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan seinem aserbaidschanischen Amtskollegen Ilham Alijew, die brüderliche Türkei stehe immer auf der Seite Aserbaidschans. Den Angehörigen der getöteten Soldaten, die er als Märtyrer bezeichnete, und dem ganzen aserbaidschanischen Volk bekundete Erdogan sein tiefes Beileid. Für die Türkei scheint die Schuld an der neuerlichen Eskalation des Konflikts vollumfänglich bei Armenien zu liegen, dem Erdogan eine groß angelegte militärische Provokation unterstellte.6

Konflikt wird Thema beim Gipfeltreffen der Shanghai Cooperation Organisation (SCO)

Der aserbaidschanisch-armenische Konflikt wird auch die Teilnehmer des zweitägigen Treffens der Shanghai Cooperation Organisation beschäftigen. Bereits im Vorfeld des am Donnerstag begonnenen Treffens der SCO im usbekischen Samarkand wurde bekannt, dass der armenische Premier Paschinian seine Teilnahme aufgrund des Konflikts mit Aserbaidschan abgesagt hat. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew verfolgt hingegen eine andere Strategie. Er will den Gipfel nutzen, um den Konflikt zu thematisieren. Angedacht sind hierzu bilaterale Gespräche mit dem russischen Präsidenten Putin sowie dem türkischen Präsidenten Erdogan. Nach Einschätzung des russischen Politologen Arkadij Dubnow ist es gerade in diesen Zeiten für Putin und die Staatschefs der SCO-Mitgliedsstaaten besonders wichtig, zu zeigen, dass sie Frieden zwischen sämtlichen Parteien stiften können, wobei sie eine einheitliche Front des Ostens bildeten, die dem kollektiven Westen gegenüber stehe.7

Bei dem Treffen in Samarkand soll es unter anderem um Sicherheitsfragen, die Stärkung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Mitgliedsländern, die Entwicklung von neuen Transportwegen und die Stärkung des Potentials der SCO gehen. Natürlich bringt jedes Land aber auch eigene Interessen mit. Zentrales Thema für China wird sein Projekt der Neuen Seidenstraße sein. Die „One Belt, One Road“ Initiative verbindet die maritime Seidenstraße und die Seidenstraße auf dem Landweg über den asiatischen Kontinent in Richtung Europa. Der Landweg führt dabei durch die zentralasiatischen Republiken. Es wird erwartet, dass China sich auf dem Gipfel in Samarkand auch bezüglich seiner Investitionen in den Ausbau der Seidenstraße in der Region äußert. Manche Beobachter sehen in dem wachsenden Einfluss Chinas in Zentralasien Konfliktpotential mit Russland, das die ehemaligen Sowjetrepubliken zu seiner Einflusssphäre zählt.8

Der Westen befürchtet wiederum eine weitere Annäherung der beiden Großmächte. Der Gipfel in Samarkand ist das erste Zusammentreffen der beiden Staatschefs seit Beginn des Ukraine-Krieges. Offiziell wollen Wladimir Putin und Xi Jinping über die Ukraine, Taiwan und bilaterale Themen sprechen. Öl dürfte zu diesen Themen gehören, denn China ist Russlands größter Öl-Abnehmer. Auf militärischer Ebene wird die Zusammenarbeit ebenfalls intensiviert – derzeit laufen gemeinsame Militärübungen der russischen und der chinesischen Marine im Pazifik. Der Westen befürchtet zudem einen Schulterschluss Russlands mit dem Iran. Damit könnte er nicht so falsch liegen. Der Iran hat am ersten Tag des Gipfeltreffens eine Vollmitgliedschaft in der SCO beantragt. Russlands Präsident Putin unterstützte dieses Vorhaben offiziell und sagte, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern entwickelten sich gut. Irans Präsident Ebrahim Raisi sagte, Länder wie der Iran und Russland, die die USA sanktionierten, können viele Probleme überwinden und ihre Beziehungen stärken.9

Die Shanghai Cooperation Organisation wurde 2001 gegründet und bestand zunächst aus China, Russland und den zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan. 2017 bekamen Indien und Pakistan bei dem Gipfel in Astana den Mitgliedsstatus. Als Beobachter sind zudem Afghanistan, Belarus, Iran und die Mongolei mit am Tisch. Weitere sechs Staaten haben den Status von Dialogpartnern. Dazu zählen neben Kambodscha, Nepal, der Türkei und Sri Lanka auch die beiden Konfliktparteien Aserbaidschan und Armenien.

Endnoten

1 https://www.kommersant.ru/doc/5559485

2 https://www.rbc.ru/politics/14/09/2022/632010709a79475400e257dc

3 https://rus.azatutyun.am/a/32032167.html

4 https://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_um_Bergkarabach_2020

5 https://www.rbc.ru/politics/14/09/2022/632010709a79475400e257dc

6 https://azertag.az/de/xeber/Prasiddent_Recep_Tayyip_Erdogan_telefoniert_mit_Prasident_Ilham_Aliyev-2290271

7 https://theins.ru/news/254991

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8 https://www.rfi.fr/ru

9 https://www.aljazeera.com/news/2022/9/15/iran-signs-memorandum-join-shanghai-cooperation-organisation

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