Weltpolitik

Nahostkonflikt: „Die Blase ist längst zerplatzt“

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Der israelischen Historiker MOSHE ZUCKERMANN über die aktuelle Eskalation in Israel-Palästina, die Beweggründe der Konfliktparteien und den Pakt des israelischen Bürgertums mit Rechtsradikalen, 11. Juli 2014 –

Herr Zuckermann, Sie haben am Dienstagabend Ihren Schreibtisch eiligst verlassen müssen, weil die Sirenen heulten – Luftalarm. Hamas-Raketen gegen Tel Aviv? Das ist ungewöhnlich; normalerweise ist nur der Süden Israels betroffen. Kam das überraschend?

Es hätte nicht überraschend kommen müssen, weil in den vergangenen Monaten in der Presse hier und da die Rede davon war, dass sich die Hamas neu gerüstet und die Reichweite ihrer Raketen sich um einiges erweitert hat. Es war ja auch so, dass es bereits beim letzten Gewaltausbruch einige Male Luftalarm in Tel Aviv gegeben hat. Aber dieses Wissen nützt einem wenig, wenn man nicht konkret auf einen solchen Angriff im Moment seines Geschehens gefasst ist. Und ich habe am Dienstagabend keinen solchen Angriff erwartet. Daher kam für mich dieser erste Luftalarm, von dem wir in Tel Aviv inzwischen mehrere gehabt haben, in der Tat überraschend.

Wie hat die Bevölkerung reagiert? Wie ist die Stimmungslage? Wie lautet der herrschende Tenor unter den Einwohnern von Tel Aviv? Ist das Hauptanliegen Vergeltung und eine neue Bodenoffensive auf dem Gaza-Streifen?

Die Bevölkerung ist natürlich nicht einheitlich in ihren Reaktionen. Man kann aber generell davon ausgehen, dass sie in Tel Aviv weniger extrem ausgefallen ist als etwa im Süden des Landes. Zum einen weil Tel Aviv nicht unter dem intensiven Beschuss der Raketen steht wie dort – das ist von der Häufigkeit her gar nicht zu vergleichen. Zum anderen weil sich in diesen Situationen auch das bemerkbar macht, was man über Tel Aviv gemeinhin sagt, dass es nämlich eine „Luftblase“ sei: Die Stadt zeichnet sich durch eine urbane Liberalität und ein mediterranes Lebensgefühl aus, das für den Rest des Landes nicht typisch ist. Das Leben geht in Tel Aviv auch in solchen bedrohlichen Situationen irgendwie weiter. Viele Autos halten beim Erklingen der Sirenen gar nicht erst an – was übrigens nicht in Ordnung ist. Es gibt hier kaum hysterische Ausbrüche, auch keine größeren politischen Ausfälle. Allerdings muss ich nochmals betonen: Tel Aviv ist beim gegenwärtigen Waffengang bis jetzt nicht sonderlich gefordert worden.

Und welche Töne sind aus dem Rest des Landes zu vernehmen? Während der Operation Cast Lead 2008/2009 oder während der Operation Pillar of Defense 2012 wurden von rechten Hardlinern regelrechte Olympiaden veranstaltet, um sich gegenseitig im Ersinnen radikaler Lösungen zu überbieten, wie mit den verfeindeten Palästinensern zu verfahren ist: Der Gaza-Streifen möge dem Erdboden gleichgemacht werden, war nicht einmal die drastischste Forderung, die erhoben wurde.

Ja, derlei Äußerungen sind zu hören. Übrigens hier und da auch in Tel Aviv, wie ich es gestern von einem Taxifahrer die ganze Strecke lang erleben durfte. Es gab auch – bisher wenige – physische Übergriffe. Das hängt damit zusammen, dass bei vielen Bürgern das Gefühl vorherrscht, diesmal hätten „die anderen angefangen“. In der Tat hat sich die Regierung, allen voran Netanjahu, zunächst relativ moderat verhalten. Ich glaube, Netanjahu, im Gegensatz zu einigen seiner Regierungskollegen, ist an dieser militärischen Auseinandersetzung nicht interessiert. Die Hamas aus gewissen Erwägungen schon eher. Daher ist man von israelischer Seite erst allmählich in die gegenwärtige Eskalation geraten. Nun aber, da man drin ist, werden die zur Verfügung stehenden Waffen vehement eingesetzt. Und wenn das erst einmal der Fall ist, dann radikalisiert sich auch sehr schnell die Reaktion der Bevölkerung.

Sind die Reaktionen dieses Mal heftiger, weil der Mord an den drei israelischen Jugendlichen die Bevölkerung stark emotionalisiert hat?

Ja, das spielt ohne Zweifel auch eine Rolle. Wobei freilich allen inzwischen klar sein dürfte, dass die Regierung die Zeit der „Suche“ nach den Entführten bereits dazu instrumentalisiert hat, mit der Hamas im Westjordanland abzurechnen und die PLO-Hamas-Koalition auseinanderzutreiben. Es gilt nämlich inzwischen als Fakt, dass die Sicherheitskräfte ziemlich bald nach dem Kidnapping wussten, dass die Entführten nicht mehr am Leben sind und trotzdem nichts dazu bekannt gaben, um Zeit für die rabiaten Aktionen in der Westbank zu gewinnen. Aber wie gesagt, die heftigen Reaktionen, soweit man das pauschalisierend sagen darf, verdanken sich mittlerweile der Eskalation selbst.

Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, die Hamas sei „aus gewissen Erwägungen“ an einem bewaffneten Konflikt mit Israel interessiert?

Die Hamas hat durch das Eingehen auf das nationale Koalitionsbündnis mit der PLO einiges an politischem Boden verloren. Teile ihrer Infrastruktur in der Westbank sind auch, wie gesagt, in den Wochen der Suche nach den Entführten aufgerieben worden. Die neue ägyptische Regierung geht ihrerseits gegen die Hamas vor, indem sie die Wege vom Sinai in den Gaza-Streifen blockiert. Hamas befindet sich daher in realer Profilierungsnot. Die Gewalteskalation mit Israel bietet ihr sozusagen die Gelegenheit dazu. Zum Schaden ihrer eigenen Bevölkerung natürlich.

Die Israel Air Force führt seit Tagen massive Luftschläge auf dem Gaza-Streifen durch. Die palästinensische Seite behauptet, die Angriffe seien besonders heftig und extrem rücksichtslos gegenüber der Zivilbevölkerung. Medienberichte bestätigen diesen Vorwurf – zumindest indirekt. „Die israelischen Angriffe der Offensive ,Schutzrand‘ im Gaza-Streifen sind bereits härter als im letzten Gaza-Krieg“, titelte die Wochenzeitung Die Zeit. Ist das auch Ihr Eindruck?

Das ist nicht nur mein Eindruck, sondern wird von diversen Militärexperten in den Medien seit gestern hervorgehoben. Militärisch hat Israel die Möglichkeit einer Bodenoffensive oder  massiver Luftschläge, wobei freilich bekannt ist, dass derlei Kriege nicht  aus der Luft entschieden werden können – was viele in der Bevölkerung absurderweise dennoch erwarten. Weil man aber die Bodenoffensive scheut, weil klar ist, dass sie Opfer unter den israelischen Soldaten fordern würde, versucht man, den Gazastreifen durch einen heftigen Luftkrieg in die Knie zu zwingen. Die Hamas lässt sich aber nicht so schnell bezwingen, daher die extreme Steigerung der Angriffe, was wiederum viele, darunter nicht wenige zivile, Opfer auf der palästinensischen Seite zeitigt.

Bislang hat die israelische Regierung kein klares Ziel für ihre Militäroperation definiert. Wie ist dieses Vorgehen zu interpretieren?

Netanjahu sprach in der Sondersitzung des Kabinetts, bei der es um Israels Reaktion auf die Ermordung der drei entführten Jugendlichen ging, von drei zentralen Zielen: Gefangennahme der Entführer, Angriff auf Aktivisten und Infrastruktur der Hamas auf der Westbank und Schläge gegen die Hamas auf dem Gaza-Streifen. Besagte Gefangennahme der Entführer spielt gegenwärtig keine Rolle. Der Angriff auf Aktivisten und Infrastruktur der Hamas im Westjordanland ist im Vorfeld des gegenwärtigen Waffengangs weitgehend vollzogen worden. Bleibt also nur das dritte Ziel: Die Aktionen auf dem Gaza-Streifen. Das ist es, was zurzeit läuft. Aber das ist kein neues Ziel der israelischen Regierung unter Netanjahu.

Das klingt aber nicht nach einer präzise durchdachten und auf bestimmte Ergebnisse fixierten Offensive auf dem Gaza-Streifen. In einer Erklärung von Medico International ist zu lesen, Netanjahu stehe unter Druck zu beweisen, dass er politisch noch immer weit genug rechts steht, um die Erwartungen der zahlreichen Hardliner in seinem Land zu erfüllen. „Manche fühlen sich an das Gesellschaftsklima kurz vor der Ermordung Yitzhak Rabins erinnert, an die Wochen vor seinem Tod, in denen eine beispiellose Hetzkampagne gegen ihn veranstaltet worden war.“ Ist an dieser Analyse etwas dran und empfinden Sie die innere Spannung in der israelischen Gesellschaft als auch so drastisch?

Von einer „präzise durchdachten und auf bestimmte Ergebnisse fixierten Offensive auf dem Gaza-Streifen“ kann in der Tat nicht die Rede sein. Man hat zwar eine „Bank von Zielen“, die man militärisch angreifen möchte, ohne aber zu wissen, was genau diese Attacken politisch zeitigen sollen. Ich glaube auch, dass Netanjahu diesen bewaffneten Konflikt nicht wollte, aber durch die Hardliner (und den realen Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen) in Zugzwang geraten ist. Wem allerdings die Drohung dessen, was an „das Gesellschaftsklima kurz vor der Ermordung Yitzhak Rabins“ erinnert, gelten soll, ist mir nicht ganz klar. Netanjahu? Das sehe ich ganz und gar nicht so. Netanjahu ist nicht in seinem Leben bedroht, wie es Rabin, nicht zuletzt durch die perfide Diffamierung durch Leute wie Netanjahu, tatsächlich war. Rabin ist ermordet worden. Netanjahu regiert Israel.

Für den Mord an Eyal Yifrach, Gilad Shaar und Naftali Frenkel haben jüdische Rechtsradikale auf barbarische Weise Vergeltung an einem palästinensischen Jungen verübt und ihn bei lebendigem Leib verbrannt. Auf der Westbank treiben sich seit Längerem bis an die Zähne bewaffnete, äußerst gewaltbereite Horden herum, die nicht sonderlich behelligt von israelischer Polizei,  Militär und Justiz die palästinensische Bevölkerung terrorisieren – manchmal auch schwere Gewaltverbrechen begehen. In deutschen Medien wird die Existenz dieser Leute verschwiegen, oder sie werden als „jüdische Nationalisten“ verharmlost, selbst wenn sie Anhänger der illegalen Kach-Bewegung sind oder sich an den Aktionen der berüchtigten Hilltop Youth beteiligen. Welcher ideologischer Provenienz sind diese Ultras? Steigt ihre Zahl mit dem kontinuierlichen Rechtsruck israelischer Regierungen und der Gesellschaft, oder hat genau dieser Rechtruck der „bürgerlichen Mitte“ sie ausgebremst? 

Die Provenienz besagter jüdischer Terroristen – und als solche sind sie anzusehen – mag zwar die faschistische Kach-Bewegung sein. Aber man greift zu kurz und macht sich das Leben leicht, wenn man sie ideologisch in diese Region abschiebt, ohne zu begreifen, dass es erstens auch viele Leute aus der Siedlerbewegung gibt, die die gleiche Stoßrichtung verfolgen, und zweitens diese Leute über den Konsens eines Hinterlandes verfügen, der weit bis in die Mitte des israelischen Parlaments greift. Denn dass diese Leute von israelischen Sicherheitskräften und der Polizei nicht gefunden und festgenagelt werden, während nämliche Sicherheitskräfte jeden palästinensischen Jugendlichen, der „Unruhe gestiftet“ hat, innerhalb von wenigen Stunden zu fassen bekommen, hat einzig damit zu tun, dass man sie nicht fassen will. Nicht zuletzt deshalb, weil man die Rechtsradikalen in der Regierung, allen voran Wirtschaftsminister Naftali Bennett und Außenminister Avigdor Lieberman, nicht verärgern will. Netanjahu und andere aus der Regierungskoalition haben versichert, sie werden die Menschen, die den palästinensischen Jungen umgebracht haben, wie jeden anderen Terroristen behandeln. Das ist ein ganz perfides Lippenbekenntnis.

Heißt das, dass ein Teil des israelischen Bürgertums, zumindest objektiv, einen Pakt mit Faschisten und anderen Rechtsradikalen eingegangen ist?

Ja, insofern das israelische Bürgertum sich den faschistischen Tendenzen in der israelischen Gesellschaft nicht dezidiert entgegenstellt, mithin „ein Auge zudrückt“, geht es mit diesen Tendenzen einen Pakt ein. Das verwundert aber nicht allzu sehr: Dieses Bürgertum hat seine parlamentarische Vertretung in den bürgerlichen Parteien Israels, die heute die Regierungshegemonie des Landes bilden. Und diese Parteien unternehmen nicht nur nichts gegen die faschistischen Tendenzen, sondern akzeptieren sie auch stillschweigend, nicht zuletzt aus macht- und herrschaftslogischen Erwägungen.

Und die Opposition demonstriert ihre eigene Ohnmacht: Am Mittwoch versammelten sich auf dem Habima-Platz in Tel Aviv Kriegs- und Okkupationsgegner, nur rund 100, maximal 150 Menschen, um gegen die Militäroffensive auf dem Gaza-Streifen zu protestieren. Repräsentiert dieser klägliche Widerstand das, was noch vom aktiven Friedenslager in Israel übrig geblieben ist, oder sieht es aus der Ferne düsterer aus als es ist?

Es sieht in der Realität noch viel düsterer aus. Denn weder innerhalb des Parlaments noch außerparlamentarisch hat das Friedenslager im heutigen Israel irgendwas zu bestellen. Netanjahu hat, so besehen, gesiegt und ist nicht von ungefähr zum dritten Mal gewählt worden. Und selbst wenn er abgewählt werden würde – sein Nachfolger würde nicht aus der linken oder linksliberalen Opposition kommen, sondern aus dem rechten, wenn nicht gar aus dem rechtsradikalen Lager. Lieberman stünde heute in Aussicht. Die Erbärmlichkeit der 100 bis 200 gegen den Waffengang auf dem Habima-Platz Versammelten widerspiegelt aufs Getreueste die Machtverhältnisse in Israels Politiklandschaft.

Die Tageszeitung Haaretz titelte am Donnerstag: „Israels ruhige Jahre sind vorbei. Die Blase ist geplatzt.“ Nach mehr als 65 Jahren Kriegs- und Krisenzustand klingt das absurd. Oder ist die derzeitige Eskalation ein bitterer Vorgeschmack auf das Umschlagen der Quantität des permanenten Gewaltzustands in eine Dauerkatastrophen-Qualität?  

Ich glaube, die Blase ist schon längst zerplatzt. Für mich ist das keine neue Qualität. Vielmehr meine ich, dass jetzt auf den Punkt kommt, was schon seit vielen Jahren in der Logik der Existenz dieses Landes und seines ideologischen Selbstbetrugs angelegt war. Das Pathos des Haaretz-Titels trifft vielleicht eine momentane Stimmung, denn immerhin ist es ja nicht mehr nur der Süden, der beschossen wird, sondern auch Tel Aviv – eine Stadt, die man „die Blase“ zu nennen pflegt –, und das vermittelt das Gefühl von etwas Neuem. Aber in der Tendenz ist nichts daran neu.

Sie werden im Herbst ein neues Buch mit dem Titel „Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt“ veröffentlichen. In der Ankündigung ist eine  bemerkenswerte Aussage zu lesen: Der Grund für die scheinbar ausweglose Lage in Israel-Palästina sei womöglich, „dass Israel die historische Entscheidung seit 1967 nie angestrebt hat, weil der Zionismus selbst nicht an die Zukunft seines eigenen Projekts glaubt“. Ohne hier ein Gespräch über Ihre neue Publikation vorwegnehmen zu wollen, eine Frage: Ist das, was wir derzeit erleben, ein direkter Ausläufer einer angeborenen Existenzkrise des Zionismus?

Ja, aber es ist auch nicht der einzige. Was wir derzeit erleben, reiht sich in ein Grundmuster der israelischen, mithin zionistischen Praxis ein und kann nur mit einem genuinen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern aufgehoben werden. Das zionistische Israel will diesen Frieden aber nicht. Dass und warum dem so ist, darum geht es in meinem neuen Buch.

Herzlichen Dank, Herr Zuckermann

Interview: Susann Witt-Stahl

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