Massengräber bei Donezk
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
In der Ostukraine wurden offenbar von ukrainischen Kampfverbänden Zivilisten hingerichtet und verscharrt. Die Anzahl der Opfer und die näheren Umstände bleiben bislang unklar –
Von SEBASTIAN RANGE, 6. Oktober 2014 –
Angesichts der Entdeckung dreier „Massengräber“ vor zwei Wochen bei Donezk fordert Russland eine internationale Untersuchung. Mit entsprechenden Bitten wandte sich Moskau an die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die UNO sowie den Europarat.
Immer mehr Gräber mit „gefolterten und getöteten“ Zivilisten würden entdeckt, erklärte der Sprecher des russischen Abgeordnetenhauses, Sergei Naryshkin, am vergangenen Freitag. Es gebe immer mehr „Anzeichen für einen Völkermord“ gegenüber der russischsprachigen Minderheit. (1)
Die Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE), Anne Brasseur, sprach von „schockierenden Informationen“, die bei ihr eingingen. Eine Stellungnahme wolle sie jedoch erst nach Erhalt von Untersuchungsergebnissen abgeben. (2)
Am 23. September hatten Kämpfer der „Volksrepublik Donezk“ nach Hinweisen aus der Bevölkerung drei Gräber mit mehreren Leichen entdeckt, die von ukrainischen Truppen ausgehoben worden sein sollen, die Tage zuvor das Gebiet verlassen hatten.
Die OSZE bestätigte einen Tag später die Existenz der Gräber. Demnach befinden sich zwei davon auf dem Gelände eines Bergwerks in der Nähe des Ortes Nyzhnia Krynka, 35 Kilometer nordöstlich von Donezk. In Anwesenheit der OSZE-Beobachter waren an zwei Stellen jeweils zwei Leichen exhumiert worden, die sich bereits im Verwesungsprozess befanden. In der Nähe seien 9mm-Pistolenmagazine gefunden worden. Weitere Angaben machte die OSZE nicht. (3)
Die Darstellung in den russischen Medien und die Aussagen russischer Offizieller sind äußerst widersprüchlich. So berichtete die Stimme Russlands am 24. September, bei drei der vier Toten habe es sich um Frauen gehandelt. Alle hätten Zivilkleidung getragen, seien gefesselt gewesen und durch Kopfschüsse getötet worden. (4) Am selben Tag behauptet Wjatscheslaw Nikonow, Vorsitzender des Bildungsausschusses des russischen Parlaments, die Frauen seien „vergewaltigt, gefoltert, gefesselt und erschossen“ worden. (5)
Im Widerspruch dazu zitiert RT am 28. September den für die medizinische Untersuchung zuständigen Konstantin Gerasimenko, wonach es sich bei allen vier Opfern um Männer gehandelt habe, die mehrere Schusswunden in Kopf und Körper aufwiesen. „Ihre Hände waren gefesselt hinter ihrem Rücken. Einige von ihnen trugen nur Unterwäsche.“ (6)
Einer der Männer konnte laut des RT-Berichtes als der 21-jährige Dorfbewohner Nikita Kolomiytsev identifiziert werden. Einheimische vermuten, dass die Männer von der Nationalgarde, die das Gebiet bis zwei Tage vor Entdeckung der Gräber kontrolliert habe, ursprünglich entführt worden waren, um sie gegen eigene Kämpfer im Rahmen eines Gefangenenaustausches einzulösen. Die New York Times berichtete vergangenen Monat über die Praxis ukrainischer Truppen, willkürlich Zivilisten – darunter Minderjährige – zu inhaftieren, um sie anschließend als „separatistische Kämpfer“ auszugeben und so mehr eigene Gefangene eintauschen zu können. (7)
Ein drittes Grab war am Rande Nyzhnia Krynkas entdeckt worden. Wie die OSZE berichtete, enthielt es eine Inschrift mit den Namen von fünf Personen und dem Datum „27.08.2014“, mit dem Zusatz versehen: „Gestorben für Putins Lügen“. Laut Darstellung von Vertretern der „Volksrepublik Donezk“ handelt es sich bei den Toten um Einheimische, die auf Seiten der Aufständischen gekämpft hatten und offenbar in Gefangenschaft geraten waren.
Russland lastet die offenkundigen Hinrichtungen der Nationalgarde und Kampfeinheiten des Rechten Sektors an. Die Kiewer Regierung weist diese Darstellung zurück. Einheiten der Nationalgarde hätten sich in dem Gebiet nicht aufgehalten, es sei von regulären Truppen der ukrainischen Armee kontrolliert worden. Die Berichte über Massengräber seien „russische Lügen“, mit denen Kiews Truppen nach ihrem Rückzug in schlechtes Licht gerückt werden soll.
Laut Wladimir Markin, Sprecher der russischen Generalstaatsanwaltschaft, gebe es jedoch „unwiderlegbare Beweise“ dafür, dass die Verbrechen von Kämpfern der Nationalgarde und des Rechten Sektors verübt worden sind. Konkret zitiert der Sprecher aus der Aussage, die ein Kämpfer des Freiwilligenbataillon „Dnepr“ gemacht haben soll, der gegenwärtig in Russland in einem Krankenhaus behandelt wird, nachdem er aus der Ukraine geflohen war. Demnach habe Sergey Litvinov zugegeben, an der Ermordung von Zivilisten in der Region beteiligt gewesen zu sein. Darunter hätten sich auch Frauen und Minderjährige befunden. Die Getöteten seien zuvor als Sympathisanten der Aufständischen denunziert worden. Für die Morde habe es angeblich eine Prämie von dem Oligarchen Igor Kolomoiski gegeben, der den Kampfverband finanziert. (8) Bereits zu Beginn der „Anti-Terror-Operation“ gegen die aufständische Donbass-Region hatte der Oligarch, der die Industrieregion Dnipropetrowsk beherrscht, seine Bereitschaft öffentlich plakatieren lassen, Kopfgelder für getötete „Separatisten“ auszuzahlen.
In russischen Medien schlugen Spekulationen über ein mögliches anderes finanzielle Motiv hinter den Morden hohe Wellen, nachdem der „Ministerpräsident“ der Donezker Volksrepublik, Alexander Sachartschenko erklärt hatte, einige der Leichen seien „geöffnet“ gewesen. (9) Die daraufhin einsetzenden Mutmaßungen über einen möglichen Organhandel wurden zudem genährt durch eine Aussage der Vertreterin Kasachstans bei der OSZE, Madina Jarbussynova, die von einem entsprechenden Hinweis sprach. Auf einer OSZE-Beratung habe ein Vertreter einer vor Ort aktiven Nichtregierungsorganisation einen Zeugen zitiert, der davon sprach, den Opfern fehlten innere Organe. (10)
Sachartschenko wies die spekulativen Berichte über möglichen Organhandel jedoch anschließend zurück. Seine Rede von „geöffneten“ Leichen habe sich auf tote Kämpfer der Milizen und ukrainische Soldaten bezogen, die Splitterverletzungen erlegen seien. Er äußerte zudem Kritik an der Berichterstattung, in der nicht ausreichend zwischen Gräbern von Zivilisten und Kämpfern unterschieden werde. Die Volkswehr finde täglich neue Massengräber bei Donezk, dabei handele es sich aber nicht wie bei den Leichenfunden vom 23. September um getötete zivile Einwohner, sondern um umgekommene Soldaten beider Seiten. „Massengräber von Militärs werden fast allerorts, nahe den Ortschaften im Südosten der Ukraine gefunden. Aber das sind keine zivilen Einwohner, sondern Armeeangehörige“, zitiert die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti den „Ministerpräsidenten“, der damit auch eine russische Agenturmeldung vom 25. September zurückwies, die ihn dahingehend zitierte, es seien vierzig tote Zivilisten entdeckt worden. „Ich betrachte das unter dem Gesichtspunkt aller Massengräber, und die OSZE sieht das unter dem Gesichtspunkt der Massengräber ziviler Einwohner. Darauf sind die unterschiedlichen Angaben zu den Todesursachen zurückzuführen“, so Sachartschenko. (11)
Um die tatsächliche Anzahl der in den drei Gräbern entdeckten Leichen herrscht nicht zuletzt aufgrund sensationsheischender Schlagzeilen einiger russischer Medien Konfusion. So titelte RIA Novosti vor einer Woche: „OSZE-Experte: Rund 400 Leichen in Gräbern bei Donezk gefunden“. (12) In dem Artikel selbst ist dann allerdings zu erfahren, dass sich die Zahl von vierhundert auf sämtliche Toten bezieht, die sich in Leichenhallen in Donezk befinden und noch nicht identifiziert werden konnten. Zudem handelt es sich bei dem vermeintlichen OSZE-Experten um einen Menschrechtsaktivisten, der die OSZE-Vertreter lediglich begleitet hatte.
Dennoch sprach auch der russische Außenminister Sergej Lawrow am vergangenen Mittwoch in Bezug auf die Massengräber von mehr als vierhundert entdeckten Leichen. „Das ist ein offensichtliches Kriegsverbrechen“, sagte Lawrow. „Wir hoffen, dass die westlichen Staaten diese himmelschreienden Fakten nicht verschweigen werden.“
Lawrows Angaben wurden noch am gleichen Tag von einem Vertreter der Donezker Regierung korrigiert. Andrej Purgin sprach von einem „Missverständnis“ und stellte noch einmal klar, dass sich diese Zahl auf alle nicht identifizierten Leichen beziehe. Davon seien neunzig Prozent Zivilisten, die „zu verschiedenen Zeiten starben“. (13)
Die Leichen seien an verschiedenen Stellen gefunden worden, die zuvor unter Kontrolle ukrainischer Truppen gestanden hätten. Einige der Gräber seien offenbar „spontan” ausgehoben worden. (14) In Bezug auf die drei am 23. September entdeckten Gräber spricht Purgin lediglich von neun Toten – was sich mit dem OSZE-Bericht vom Tag danach deckt. (15)
Das „Highlight“ der Falschdarstellung lieferte der russische Fernsehsender REN TV. In einem Bericht über die Massengräber wurden zur Illustration Bilder von Opfern des Absturzes des malaysischen Airliners MH17 benutzt. (16)
Solcherlei „Berichterstattung“ liefert Wasser auf die Mühlen derer, die kaum eine Gelegenheit auslassen, jedwede Berichte über von den ukrainischen Truppen begangene Kriegsverbrechen als russische Propaganda abzukanzeln. So meldeten sich Die Grünen am Sonntag mit einer Stellungnahme zu Wort, in der russische Medien einer „immer gezielter werdenden Desinformationspropaganda“ bezichtigt werden, die es immer schwieriger mache, den Wahrheitsgehalt von Meldungen zu überprüfen. „In jedem Fall erreicht die groß angelegte Kampagne eines: die Solidarität mit der von russischer Aggression betroffenen Ukraine wird brüchig.“ Es sei zu befürchten, „dass der Kreml Schritt für Schritt an einem Szenario arbeitet, das einem direkten Einmarsch des russischen Militärs in die Ostukraine als Legitimation dienen soll. Russland könnte die Schutzverantwortung bei drohendem Genozid reklamieren.“
Die Grünen fordern die OSZE auf, „dem Einsatz von Desinformation als Teil der psychologischen Kriegsführung den Boden zu entziehen“, indem sie „unabhängig und vorurteilsfrei“ untersuche. (17)
Dass um sie ein Propagandakrieg entbrannt ist, ist die scheinbar einzige Gewissheit, die es bislang im Zusammenhang mit den Leichenfunden vom 23. September gibt. Immerhin scheint so viel klar: Mindestens neun Menschen wurden hingerichtet und anschließend verscharrt, darunter Zivilisten. Der Faktenlage nach befanden sie sich in Gefangenschaft ukrainischer Kampfverbände.
Anmerkungen
(2) http://de.ria.ru/politics/20140929/269667182.html
(3) http://www.osce.org/ukraine-smm/124216
(5) http://de.ria.ru/politics/20140924/269626651.html
(6) http://rt.com/news/191236-ukraine-mass-graves-exhumation/
(7) http://www.nytimes.com/2014/09/25/world/europe/ukraine-prisoner-swaps-russian-separatists.html?_r=0
(8) http://rt.com/news/192268-donetsk-mass-graves-right-sector/
(9) http://www.youtube.com/watch?v=g5hua37g8oA
(10) http://rusvesna.su/news/1412001923
http://de.ria.ru/politics/20140929/269670548.html
(11) http://de.ria.ru/politics/20140930/269676686.html
(12) http://ria.ru/world/20140930/1026327604.html
(16) http://www.bbc.co.uk/monitoring/russian-tv-uses-crash-pictures-in-mass-grave-report
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