Syrien

Kein Frieden für Aleppo

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

1468240169

Der Kampf um die einstmals einwohnerreichste Stadt Syriens eskaliert, nachdem die syrische Armee die letzte Versorgungsroute der Aufständischen gekappt hat

Anfang April hatten die Regierungsgegner unter der Führung der Nusra-Front, dem syrischen al-Qaida-Ableger, mehrere wichtige Ortschaften im Süden Aleppos erobert. An der Offensive waren auch vom Westen unterstützte Gruppen beteiligt, die die zuvor in Genf ausgehandelte Feuerpause unterzeichnet hatten. „Wir betrachten den Waffenstillstand als beendet“, erklärte ein Kommandeur der „Division 13“, einer der stärksten Kampfverbände der Freien Syrischen Armee, zu Beginn der Attacke.

Mit einer Gegenoffensive der syrischen Armee und ihrer Verbündeten im Raum Aleppo war seitdem immer wieder gerechnet worden. Diese setzte nun zu Monatsbeginn ein, jedoch im Norden der einstigen Wirtschaftsmetropole. Vor Tagen gelang es der Armee, die inzwischen unbewohnten al-Mallah Höfe zu erobern, die nördlich der Castillo-Straße liegen – die letzte Versorgungsroute in die von den Aufständischen kontrollierten Stadtteile Aleppos. Über diesen Abschnitt der Zufahrtsstraße haben die syrischen Truppen nun die Feuerkontrolle erlangt.

Der Nachschub ist somit für die Aufständischen stark eingeschränkt und dürfte derzeit nur noch über angelegte Tunnelsysteme oder etwaige Schleichwege möglich sein. Die ohnehin schlechte Versorgungslage für die verbliebenen Bewohner der von den „Rebellen“ kontrollierten Stadtteile wird dadurch noch prekärer. Schätzungen gehen von einhundert- bis zweihunderttausend Betroffenen aus. Gelingt es den Aufständischen nicht, die Castillo-Straße wieder freizukämpfen, dann droht Teilen der Stadt wie schon 2013 eine Blockade – damals waren es jedoch die von der Regierung kontrollierten Bezirke, die von der Außenwelt abgeschnitten waren.

Geführt wird der Vorstoß auf die Versorgungsroute von den sogenannten „Tiger Forces“, eine der wenigen Einheiten der syrischen Armee, die zu umfangreichen Offensivaktionen fähig ist. Ihr Vormarsch wurde von massiven Schlägen der syrischen und russischen Luftwaffe unterstützt.

Konfrontiert werden die Regierungstruppen vor allem von Kämpfern der Nusra-Front und anderer islamistischer Gruppierungen, darunter Ahrar al-Sham und Nur ed-Din Sinki. Die beiden Letztgenannten sind Teil der Fatah Halab („Eroberer Aleppos“), ein Zusammenschluss von islamistischen Gruppen und Kampfverbänden der Freien Syrischen Armee, der mit der Nusra-Front kooperiert. Viele der in der Fatah Halab organisierten Gruppen werden von den Vereinigten Staaten und Regionalmächten unterstützt und mit Waffen versorgt. Amnesty International warf diesen Kampfverbänden jüngst erneut vor, Kriegsverbrechen zu begehen.

Der Vorstoß der syrischen Truppen erfolgte an einem Abschnitt der Castillo-Straße, in dessen Süden sich das kurdische Stadtviertel Sheikh Maqsud befindet, in das sich die islamistischen Aufständischen nicht zurückziehen können. Die sich vornehmlich aus Kurden rekrutierenden „Demokratischen Kräfte Syriens“ (SDF) stießen ihrerseits von Sheikh Maqsud aus gegen Gebiete am Rande des Stadtteils Bani Zaid vor, die von den Islamisten kontrolliert werden und zuvor von der syrischen Luftwaffe bombardiert worden waren.

Ob es sich dabei um eine koordinierte Aktion zwischen der von den USA unterstützten SDF und der syrischen Armee handelte, oder ob die kurdischen Kräfte die Situation lediglich opportunistisch für sich nutzten, ist unklar. Die rund dreißigtausend Einwohner Sheikh Maqsuds wurde in den vergangenen Monaten wiederholt durch massiven Raketenbeschuss seitens der „Eroberer Aleppos“ terrorisiert – dabei setzten Einheiten der von Saudi-Arabien unterstützten „Armee des Islam“ auch Chlorgas ein.

Mehrere Versuche der islamistischen Aufständischen, die al-Mallah Höfe zurückzuerobern, scheiterten unter teils hohen Verlusten. Die Zahl der in den letzten Tagen dabei getöteten Kämpfer dürfte im unteren dreistelligen Bereich liegen. Aus Vergeltung schossen die „Eroberer Aleppos“ am Wochenende hunderte Raketen und Granaten auf die von der Regierung kontrollierten Stadtteile ab.

Dabei kamen auch sogenannte „Höllenkanonen“ zum Einsatz, deren Geschosse von der Konstruktion her den sogenannten „Fassbomben“ gleichen, die die syrische Luftwaffe in der Vergangenheit wiederholt eingesetzt hat. Durch den Beschuss auf die Regierungsviertel, der hauptsächlich aus Bani Zaid erfolgte, kamen dutzende Zivilisten ums Leben, hunderte Einwohner wurden verletzt.

Auch in der nordwestlichen Provinz Latakia flammten die Kämpfe erneut auf. Wohl zur Entlastung der Aleppiner Front gingen dort verschiedene Kampfverbände – darunter Ahrar al-Sham, die Islamische Turkestan-Partei und die „1. Küstendivision“ der Freien Syrischen Armee – vor gut einer Woche in die Offensive. Dabei gelang es ihnen, die strategisch wichtige Ortschaft Kinsibba zu erobern. Die syrische Armee konnte Teile des verloren gegangenen Gebietes inzwischen zurückgewinnen, Kinsibba ist derzeit umkämpft.

Während die Aufständischen in Latakia dank der Nähe zur türkischen Grenze keinerlei Nachschubprobleme haben, wird die Situation für die Regierungsgegner in den bei Damaskus gelegenen Enklaven Darayya und Ost-Ghuta immer brenzliger. Große Teile der eingekesselten Gebiete konnte die syrische Armee in den vergangenen Wochen den Aufständischen abtrotzen.

Auch der „Islamische Staat“ gerät immer stärker unter Druck. Zwar war es dem IS im vergangenen Monat gelungen, eine Offensive von Regierungstruppen in der Provinz Rakka vollständig zurückzuschlagen, doch mit Manbidsch wurde eine Hochburg der Terrormiliz in der Aleppiner Provinz vollständig von der SDF eingekreist.

Abo oder Einzelheft hier bestellen

Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.

Hintergrund abonnieren

Mehrere Versuche des IS, die Blockade zu durchbrechen, scheiterten letztlich unter hohen Verlusten auf beiden Seiten. In der Stadt sollen sich noch rund siebenhundert IS-Kämpfer verschanzt haben. Neben einer Vielzahl an Sprengfallen und dem häufigen Einsatz von Selbstmordattentätern kommt die vollständige Eroberung der Stadt durch die SDF auch unter Rücksichtnahme auf die verbliebenen Zivilisten nur schleppend voran – trotz der Unterstützung durch die US-Luftwaffe.

 

Newsletter

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Der Hintergrund-Newsletter

Wir informieren künftig einmal in der Woche über neue Beiträge.

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Drucken

Drucken

Teilen

Voriger Artikel Wahlen Überflüssige Spekulationen
Nächster Artikel Kein „Normalbetrieb“ Kalter Krieg 2.0 – NATO rüstet sich gegen Russland