Kalter Krieg um die Arktis
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Von HARALD NEUBER, 14. Juli 2008:
Auf den ersten Blick schien es eine Meldung für die hinteren Seiten der Zeitungen. Die Arktis, so war Ende Juni in mehreren deutschen Medien zu lesen, könnte diesen Sommer zum ersten Mal seit Beginn der Klimaüberwachung eisfrei sein.[i] Ähnliche Berichte hatte es schon in den vergangenen Jahren gegeben. Erst auf den zweiten Blick wird deswegen die Brisanz der Entwicklung deutlich: Mit der Erwärmung der Arktis kann zum ersten Mal seit Beginn der Industrialisierung auf die dortigen Energieressourcen zugegriffen werden. Und weil die Gebietsansprüche auf das ausgedehnte Gebiet um den Nordpol nicht abschließend geklärt sind, ist der Streit programmiert. Unmittelbar betrifft das die Anrainer USA, Rußland, Kanada, Norwegen und Dänemark. Wie aus EU-Dokumenten hervorgeht, bereitet sich aber auch die Europäische Union auf die Jagd nach dem Erdöl und Ergas unter dem schmelzenden Eis vor. Die Arktis-Politik wird in Brüssel inzwischen offen unter außen- und sicherheitspolitischen Gesichtspunkten betrachtet – militärische Szenarien eingeschlossen.
Dabei gibt es bislang nur Vermutungen über die Reichtümer unter dem inzwischen nicht mehr ewigen Eis. Ein Viertel der weltweiten Ressourcen fossiler Brennstoffe befänden sich in der Arktis, schrieb der US Geological Survey im Jahr 2000.[ii] Die Schätzung hat bislang einige Begehrlichkeiten geweckt.
Mitte August vergangenen Jahres setzte ein Roboter die russische Flagge 4000 Meter unter der Wasseroberfläche auf dem arktischen Meeresgrund ab.[iii] Anfang Mai dieses Jahres dann absolvierte die US-Armee ein fast zweiwöchiges Militärmanöver unter dem Titel »Northern Edge« in der Region.[iv] An der Übung waren mehr als 5000 Soldaten, über 100 Flugzeuge und mehrere Kampfschiffe beteiligt. Doch nicht nur Washington und Moskau lassen die Muskeln spielen. Auch die Europäische Union hat die Arktis-Politik in ihre außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen einbezogen. Das rapide Abschmelzen der Poleiskappen verändere die "geostrategische Dynamik dieser Region", war in einem Strategiepapier[v] der EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner[vi] und des Hohen Beauftragten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana[vii], Mitte März zu lesen. Die Absetzung der russischen Flagge unter dem Nordpol wird von den beiden Autoren als "anschauliches Beispiel für die neuen strategischen Interessen" in der Arktis gedeutet. Bis zum Jahresende sollen die Überlegungen Ferrero-Waldners und Solanas, so hieß es in den parallel erschienenen Schlussfolgerungen[viii] des Europäischen Rates (Punkt 26), als Handlungsgrundlage für die konkrete Außen- und Sicherheitspolitik der EU herangezogen werden. Ferrero-Waldner und Solana vertreten die Ansicht, dass die EU angesichts der freiwerdenden Ressourcen in der Arktis dem Verhältnis zu Russland und den USA »besondere Aufmerksamkeit« widmen muss.
Angesichts solcher Entwicklungen mag man den beschwichtigenden Tönen kaum Glauben schenken. Ende Mai – nur wenige Wochen nach dem US-amerikanischen Militärmanöver in der Arktis – kamen Vertreter der Anrainerstaaten im grönländischen Ilulissat zusammen, um eine gemeinsame Regionalpolitik zu beraten. Ziel der Konferenz[ix] sei der "Schutz der empfindlichen Umwelt der Arktis", die durch den Wettlauf um Erdöl und Erdgas bedroht ist. Schon vor dem Ende des Treffens gab der dänische Außenminister Per Stig Moeller euphorisch bekannt: "Der Wettlauf zum Nordpol ist abgebrochen". Gemeinsam wolle man sich nun darum kümmern, die Schifffahrt in den nördlichen Gewässern sicherer zu machen. "Auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens und Transparenz" werde man zusammenarbeiten, versicherten die Außenminister der Regionalstaaten bei ihrem ersten Treffen.
Doch die Teilnehmerstaaten führen ihre eigenen Beschwichtigungen selbst ad absurdum. Während wenige Wochen vor der Konferenz in Ililissat US-Truppen in der Arktis aufmarschierten, übte sich kaum einen Monat später die russische Generalität in Drohgebärden. Auch Moskaus Truppen müssten zu Kampfoperationen unter den Extrembedingungen der Arktis bereit sein, sagte der Chef der Hauptverwaltung für Kampfausbildung der russischen Streitkräfte, Generalleutnant Wladimir Schamanow im Interview mit der Militärzeitung Krasnaja Swesda[x] am 24. Juni 2008. Schamanow verwies explizit auf das Manöver der US-Truppen und forderte grundlegende Veränderungen in den Ausbildungsplänen für die drei nördlichen Armeebezirke der russischen Armee.
Eine militärische Konfrontation in der Arktis ist möglich, weil die Hoheitsrechte über ein weitreichendes Terrain nach wie vor ungeklärt sind und mehrere Anrainer Anspruch auf das gleiche Gebiet erheben. Zwar gesteht das internationale Recht jedem der fünf Anrainer einen 200-Seemeilen-Streifen vor der Küste zur wirtschaftlichen Nutzung zu. Ungeklärt sind jedoch die Gebietsansprüche über insgesamt 1,2 Millionen Quadratkilometer. Die Seerechtskonvention[xi] der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) aus dem Jahr 1982 lässt grundsätzlich auch die Nutzung des Meeresbodens (und damit der unterseeischen Ressourcen) fernab der 200-Seemeilen-Grenze zu. Seit Jahren ist die so genannte Festlandsockelkommission der UNO damit befasst, die offenen Ansprüche zu klären.[xii] Doch deren Arbeit geht äußerst schleppend voran. Die USA sind der Seerechtskonvention bis heute nicht beigetreten, Russland verfügt noch über unzureichende geographische Daten und auch die übrigen Staaten haben sich bis zum Jahr 2014 Zeit erbeten, um ihre Ansprüche zu klären. Bis dahin aber könnten militärisch Fakten geschaffen werden. Auf jeden Fall soll das Drohszenario helfen, die eigenen Claims diplomatisch abzustecken.
Die EU will bei diesem Wettrennen nicht zurückstehen. Sicherheitspolitiker in der Union hoffen, bei einer Beteiligung an dem Ressourcenkampf in der Arktis die Versorgungslage in den Unionsstaaten entschärfen zu können. Bislang hängt die EU stark von Erdöl- und Erdgaslieferungen aus dem russischen Einflussgebiet ab.
Vor diesem Hintergrund erscheint eine Reise[xiii] von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) im vergangenen Jahr nach Grönland in einem neuen Licht. Merkel und Gabriel waren Mitte August 2007 für zwei Tage nach Grönland aufgebrochen, um sich nach eigenen Angaben über die Folgen der globalen Klimaerwärmung zu informieren. Die Opposition hatte den Kurztrip damals scharf kritisiert. FDP-Chef Guido Westerwelle bezeichnete es als Fehler, "die Umweltpolitik auf Symbolik zu beschränken". Der Grünen-Chef Reinhard Bütikhofer sprach von einer "Flucht in die Inszenierung".
Inzwischen drängt sich der Eindruck auf, dass es bei dem Grönland-Trip um mehr als symbolische Politik oder die Begutachtung der fortschreitenden Gletscherschmelze ging. Immerhin fand die Reise unmittelbar nach Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft (Januar bis Juli 2007) statt. Und in Brüssel wird der Klimawandel am Nordpol seit geraumer Zeit eng mit dem Ausbau der eigenen militärischen Kapazitäten in der Region behandelt. Die EU-Außenkomissarin Ferrero-Waldner und der Sicherheitsbeauftragte Solana wiesen in ihrem Papier Mitte März darauf hin, dass der globale Klimawandel die sicherheitspolitischen Interessen der Europäischen Union auf jeden Fall berühren wird. Hervorgehoben werden in dem elfseitigen Dokument nicht nur die zunehmenden Konflikte um Wasser in den Ländern der südlichen Hemisphäre. "Einer der signifikantesten potentiellen Ressourcenkonflikte entsteht aus dem verstärkten Ringen um den Zugang zu Energieressourcen und die Kontrolle darüber", schreiben Ferrero-Waldner und Solana. Im Bezug auf die Arktis werde es deswegen notwendig, "sich mit der an Breite gewinnenden Diskussion über Gebietsansprüche und den Zugang zu neuen Handelsrouten seitens verschiedener Länder" zu beschäftigen.
Zu den konkreten Vorschlägen Ferrero-Waldners und Solanas gehört der Ausbau der satellitengestützen Überwachung. Einbezogen werden solle dabei das Satellitenzentrum der EU (EUSC)[xiv] und das Gemeinsame Lagezentrum der EU (SITCEN)[xv] – letzteres ist eine zivil-militärische Institution. Das so aufzubauende Frühwarnsystem müsse sich auf "Situationen staatlicher Fragilität und politischer Radikalisierung, auf Spannungen um Rohstoffe und die Energieversorgung, auf ökologische und sozioökonomische Belastungen, auf Bedrohungen für kritische Infrastrukturen und Wirtschaftsgüter, auf Grenzstreitigkeiten, auf die Auswirkung hinsichtlich der Menschenrechte und auf potentielle Migrationsbewegungen erstrecken".
Ferrero-Waldner und Solana knüpften mit dem Strategiepapier an eine schon länger schwelende Debatte innerhalb der EU an. Schon im Jahr 2006 hatte das deutsche Verteidigungsministerium ein "Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr"[xvi] herausgegeben, in dem der Frage der Energieversorgung eine "strategische Bedeutung" und "sicherheitspolitische Relevanz" beigemessen wurde. Nur wenige Monate später brachte Polen das Konzept einer Energie-NATO ins Spiel[xvii], die deutsche Bundesregierung konterte mit dem Entwurf einer Energie-KSZE[xviii]. Während beide Modelle selbst nach Ansicht der regierungsnahen Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) "stark von Grundmustern des Kalten Krieges" geprägt waren, hatten sie eines gemein: Die Frage der Energiesicherheit wurde in ihnen nicht nur bündnispolitisch definiert, sondern auch militärisch unterlegt. Der Einsatz von NATO-Kräften "zur Erhöhung der Energieversorgungssicherheit kann als ein mögliches Aufgabenfeld für die NATO gesehen werden", heißt es bei der SWP[xix]. Denkbar wären in diesem Zusammenhang ein Militäreinsatz "zur Überwachung und zum Schutz der Energieversorgung" wie etwa der Einsatz von Seestreitkräften zur Sicherung von Transportrouten für Öltanker oder der Schutz wichtiger Versorgungseinrichtungen.
Die Verquickung von klima- und sicherheitspolitischen Fragen kulminiert in der Arktispolitik der EU. Beachtlich ist, wie das progressive Ziel der Klimaschutzpolitik den militärischen und wirtschaftlichen Belangen untergeordnet wird. Merkel und Gabriel wollten sich offiziellen Darstellungen zufolge bei ihrem Gröndland-Trip über die Bedrohung der Gletscher-Schmelze informieren. Tatsächlich dürfte der freiwerdende Zugang zu der abtauenden Region eine nicht unbeträchtliche Rolle bei den Gesprächen gespielt haben. Und auch das satellitengestütze Überwachungssystem der EU wurde zunächst damit begründet, die fortschreitende Umweltzerstörung zu observieren. Inzwischen ist die »Globale Umwelt- und Sicherheitsüberwachung« (GMES)[xx] Teil der militärischen Planungen der EU.
[vii]http://www.consilium.europa.eu/cms3_applications/applications/solana/index.asp?lang=DE&cmsid=358
[x]http://www.redstar.ru (russisch)
[xx]http://ec.europa.eu/research/leaflets/gmes/page_38_de.html
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