Weltpolitik

Israel, eine Ethnokratie? Eine Herrenvolk- Demokratie?

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Preußen am Mittelmeer? –

Von ROANE CAREY, 3. August 2009 –

Unter der liberalen amerikanischen Intelligenzija herrscht die fast allgemeine Vermutung vor, dass die israelische Besatzung zwar unterdrückerisch und abscheulich ist, Israel selbst aber ein offener, ganz und gar demokratischer Staat mit einer lebendigen, argumentativen und sehr freien Presse sei.

Gott bewahre! Nachdem ich drei Monate mit einem Forschungsstipendium in Israel war, kann ich sagen, dass fast jeder aus der liberalen israelischen Intelligenz, mit dem ich ins Gespräch kam, etwas ganz anderes sagte: dass die Medien des Landes schwer angeschlagen sind und versäumen, auf unterstem Niveau fair zu berichten und ernsthafte kritische Erkundigungen einzuziehen, was die wichtigen Pfeiler einer offenen Gesellschaft seien.

Amerikaner, die nicht Hebräisch lesen oder Nachrichten im israelischen Fernsehen sehen, mögen eine verzerrte Sicht der Situation bekommen. Sie vermuten auch, dass die Tageszeitung Haaretz – mit geringerer Auflage als die anderen und vor allem von den Intellektuellen und der politischen Klasse gelesen- und die von Ausländern verschlungene englische Online -Ausgabe repräsentativ seien. Und sie vermuten, dass kritische Kolumnisten wie Gideon Levy, Akiva Eldar und Amira Hass in allen anderen Medien auch vorkommen. Das ist aber nicht so. Die größeren Tageszeitungen wie Yediot, und Maariv als auch die Jerusalem Post und die TV-Nachrichten neigen viel mehr zur Rechten – genau wie die US-Medien, die Israel in dieser Hinsicht sicher nichts beibringen können.

Und was den offenen, so sehr demokratischen Staat betrifft, so reden die Leute, mit denen ich gesprochen habe, von einem beunruhigenden Dissens der letzten Jahre, der parallel mit den Wahlen zunehmend in rechte Regierungen läuft. Der Tiefpunkt kam während des Gaza“krieges“ im Januar 2009. Ich habe dies selbst im Mikrokosmos hier in Beer Sheva an der Ben-Gurion-Universität (BGU) erlebt.

Vor ein paar Tagen wurde Noah Slor, die im Programm für Jungakademiker der BGU-Abteilung für Nahoststudien ist, auf Order der Campussicherheitsleuten von der Polizei verhaftet und mehrere Stunden festgehalten, weil sie ganz still Flugblätter verteilt hatte. Es ging um die Ablehnung einer der Knesset vorliegenden Gesetzesvorlage, in der das Gedenken an die Nakba zu einem kriminellen Akt erklärt wird. Sie stand an einer Stelle außerhalb des Haupteinganges zum Campus, wo Studenten aus Tradition alles verteilen, von einer Party-Einladung bis zur Information über politische Demonstrationen, wobei sie nie von Sicherheitskräften belästigt werden.

Aktivisten, Studenten wie Professoren, bestätigen ein Muster von politisch motivierten Schikanen durch Campus-Sicherheitsleute. Slor, eine Aktivistin der Gruppe “Der Süden für Frieden“, die sich erst vor kurzem aus Arabern und Israeli im Raum Beer Sheva gebildet hat, kämpft gegen Rassismus und für Gleichheit und Koexistenz von Arabern und Juden. Sie erzählte mir, dass zu dem Zeitpunkt ihrer Verhaftung einer der Sicherheitsleute ihr sagte: „Hör zu, gibt nicht vor, du seiest so naiv, Ich habe dich in der Vergangenheit bei Demos gesehen. Alles wird berichtet und notiert und alles wird dokumentiert.“ Sie kann es nicht beweisen, aber sie ist davon überzeugt, dass die Sicherheit hinter ihr her ist, weil sie gegen das Nakba-Gesetz ist; das war eigentlich gemeint, sagte sie mir.

Die Studenten nahmen das nicht einfach hin. Am selben Abend hielten sie eine Demo und protestierten gegen die Verhaftung, in dem sie sich bei einer Universitätsfeier versammelten, zu der eine Reihe Persönlichkeiten aus der Regierung und andere Würdenträger erwartet wurden. Sie hatten sich Krepppapier über ihren Mund geklebt und hielten Poster, auf denen zu lesen stand: „Die Sicherheitsabteilung leitet die Universität“ und „Sicherheitsabteilung = Geheimpolizei“. (In einer Antwort auf Fragen über den Vorfall sagte der Uni-Sprecher Amir Rosenblit, dass es Studenten nicht erlaubt sei, auf dem Campus Flugblätter zu verteilen – warum denn nicht? – und dass Noah sie in einem Bereich verteilt habe, der noch zum Campus gehört, auch wenn es außerhalb des Tores war.)

Der Dissens war während der Gaza-Kampagne überzeugend. Niza Berkowitch, eine Soziologin, sagte: „Ich denke, die Medien wurden vollkommen mobilisiert. Die Unterstützung des Krieges war vollkommen.“ Ein paar Tage nach Beginn des Krieges Ende Dezember hielt eine Gruppe arabischer und jüdischer Studenten eine friedliche Demo gegen den Krieg ab. Bald kam die Polizei und forderte, dass die Demo aufgelöst werde. Sie waren damit einverstanden; aber während sie ihre Poster zusammenfalteten, wurden mehrere mit Handschellen gefesselt und stundenlang festgehalten und wegen „Aufruhr“ angeklagt. Mitte Januar gab es eine zweite Demo, noch moderater; die Leute hielten Poster, auf denen zum Frieden aufgerufen wurde und zur Beendigung der Gewalt auf beiden Seiten. Es geschah wieder dasselbe: Dutzende von Polizisten kamen, schlugen die Menge zusammen und verhafteten einige. Einer der Studenten, Ran Tzoref, bekam einen Monat Hausarrest.

Harte Unterdrückung der palästinensischen Bürger ist in Israel seit langem Praxis. Jüngste Vorfälle aber machen deutlich, dass es möglicherweise eine Lockerung in der Zurückhaltung (in Bezug auf Bestrafung) gegen aufrührerische jüdische Dissidenten gibt. Hunderte von Israelis wurden verhaftet, als sie gegen die Gazakampagne protestierten, wahrscheinlich waren die meisten Palästinenser, aber auch viele Juden. Tzoref erzählte mir: „Ich war bei Protestveranstaltungen in den besetzten Gebieten und sie handelten hier in derselben Weise. Für mich war es schockierend, dass diese Einsatzpolizei nun auch auf das Universitätsgelände kommt und uns angreift. Dies war vorher nie geschehen, nicht in diesem Ausmaß.“ Berkowitch sagte: „Es war wie in einer südamerikanischen Diktatur. Es war, als ob landesweit eine willkürliche Order gegeben worden war, dass eine bestimmte Anzahl von Leuten verhaftet werden müsse – es war reine Einschüchterung.

Die Gazakampagne brachte sicher den schlimmsten Unterdrückungsapparat mit sich, der von der öffentlichen Stimmung von Rache und Hass gegen die Palästinenser aufgeheizt wurde, der selbst durch den Hamas Raketenbeschuss verstärkt wurde. (Berkowitch sagte mir, dass viele, die an der Januar-Demo vorbei gingen, Schimpfworte gegen die Demonstranten schrien und sie Verräter nannten und auch folgendes sagten: “Juden sollten noch mehr Araber töten“. „So viel Hass bin ich in meinem ganzen Leben nicht begegnet“, sagte sie. Der Trend ist beängstigend, aber es sollte betont werden, dass im Allgemeinen die israelischen Juden sich noch eines bemerkenswerten Grades von Freiheit erfreuen und fast über jedes Problem reden können – nicht so die Palästinenser.

Eine extrem rechte Regierung, die nicht nur entschieden hat, ernsthafte Verhandlungen mit den Palästinensern zu vermeiden , sondern aktiv den Siedlungsbau vorantreibt; eine Regierung, die allen Anzeichen nach, einen Krieg gegen den Iran vorbereitet und an dieser Front hier aktiv den öffentlichen Verfolgungswahn schürt; die zunehmend die palästinensischen Bürger als Bedrohung und als Feind im Inneren ansieht. Solch eine Regierung flößt mit all diesen Widersprüchen einer Nation, die behauptet, jüdisch und demokratisch zu sein, Angst ein. Wie kann ein Staat, der 4 Millionen Palästinenser hinter Ghettomauern, Umgehungsstraßen und einer Blockade gefangen hält und weitere 1,5 Millionen als Zweite-Klasse-Bürger behandelt, demokratisch sein? Der Geographieprofessor der BGU Oren Yiftachel nennt Israel eine Ethnokratie (der Titel seines letzten Buches); der verstorbene Soziologe der Hebräischen Universität Baruch Kimmerling nannte es eine „Herrenvolk-Demokratie“.

Egal wie man es nennt: Wenn Israel weiter seinen augenblicklichen Weg geht, wird die Unterdrückung stärker und die Alleen für Redefreiheit werden noch enger. Der alte Scherz über Preußen war, dass es eine Armee in der Gestalt eines Staates war. Ist Israels Bestimmung, ein Preußen am Mittelmeer zu sein?

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Der Artikel erschien im Original unter dem Titel Prussia on the Mediterranean? bei "The Nation".


Übersetzung Ellen Rohlfs

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