Weltpolitik

Islamischer Staat

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Wie ist der IS entstanden, welche Ideologie verfolgt er und mithilfe welcher staatlichen Strukturen versucht er, sich in Gebieten Syriens und des Irak zu etablieren? Welchen Einfluss hatte der Westen bei seiner Entstehung?

Die Ursprünge des „Islamischen Staates“ (nachfolgend: IS) sind beim irakischen Zweig von al-Qaida zu suchen. Der Jordanier Abu Musab al-Zarqawi kämpfte zunächst in Afghanistan für al-Qaida, bevor er Anfang des neuen Jahrtausends in den Irak ging und von dort Terroranschläge in Jordanien organisierte. Nach dem Irak-Krieg 2003 wurde al-Zarqawi Befehlshaber von al-Qaida im Irak, von wo aus er durch Anschläge gegen die westlichen Invasoren, deren Botschaften sowie gegen Schiiten und deren Heiligtümer bekannt wurde. Im Jahre 2006 wurde er durch eine US-Bombe getötet. Sein Nachfolger Abu Omar al-Baghdadi wurde im Jahre 2010 ebenfalls umgebracht. Bereits unter seiner Führung benannte sich al-Qaida im Irak in „Islamischer Staat im Irak“ (ISI) um.

In dem intensiv geführten sunnitisch-schiitischen Krieg im Irak unterstützte die US-Regierung die sunnitischen Stammesführer, die wiederum al-Qaida bekämpften. Im Jahre 2010 übernahm der heutige IS-Kalif Abu Bakr al-Baghdadi, geboren 1971 im irakischen Samarra, die Führung von al-Qaida im Irak. Nachdem al-Baghdadi aus einem US-Gefangenenlager, wo er im Jahre 2004 mit vielen ehemaligen Offizieren der irakischen Armee unter Saddam Hussein Kontakt hatte, entlassen worden war, promovierte er zum Thema „Scharia“. Während der Islamwissenschaftler und Publizist Michael Lüders in seinem Buch Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet schreibt, dass al-Baghdadi „2004 einige Monate in US-Gewahrsam verbrachte“ (S. 89), berichtet die italienische Journalistin und Terrorismusexpertin Loretta Napoleoni: „Al-Baghdadis Gepflogenheit, sich dem Scheinwerferlicht fern zu halten, wurzelt möglicherweise in seiner fünfjährigen Inhaftierung in Camp Bucca“ (Die Rückkehr des Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens, S. 35). Vor seiner Verhaftung 2004 arbeitete al-Baghdadi als Imam in Falludscha, wo die US-Armee besonders gewalttätig agierte.

Mit der al-Qaida-Führung in Pakistan kam es zum Bruch: Der Nachfolger von Osama Bin Laden, Ayman al-Zawahiri, wollte einen globalen Dschihad gegen die westlichen Invasoren unter US-Führung, al-Baghdadi hingegen kämpfte im Irak vor allem gegen Schiiten und andere Andersgläubige – und wollte einen konkreten Islamischen Staat errichten.

Der Krieg in Syrien verhalf al-Baghdadi zur Machtausdehnung. Der „Islamische Staat im Irak“ hatte die al-Nusra-Front mitbegründet, deren Ziel vor allem der Sturz der syrischen Regierung war und ist. Im Jahre 2013 erklärte al-Baghdadi, dass der „Islamische Staat im Irak“ und die al-Nusra-Front zukünftig unter dem Namen „Islamischer Staat im Irak und in der Levante“ (ISIL) firmieren würden. Diese Vereinnahmung der al-Nusra-Front wollten Teile der Nusra-Front-Führung nicht hinnehmen, wodurch es zu einer Spaltung kam. Wegen der militärischen Erfolge, seiner hohen Durchschlagskraft und guter Ausrüstung bekam ISIL immer mehr Zulauf, wodurch im östlichen und nördlichen Teil Syriens große Gebiete unter ISIL-Kontrolle kamen, einschließlich der Provinzhauptstadt Raqqa. Al-Baghdadi vermied bis Mitte des Jahres 2014 militärische Kämpfe gegen die syrische Armee, sondern ging gegen Rebellen vor. Im Juni 2014 eroberten ISIL-Truppen Mossul – wodurch al-Baghdadi und dessen Führungskader riesige Mengen an Rüstungsgütern – Panzer, Geschütze, gepanzerte Fahrzeuge – in die Hände fielen, die zuvor die US-Regierung an die irakische Armee geliefert hatte. Nach der Eroberung Mossuls änderte al-Baghdadi erneut den Namen: Aus ISIL wurde IS – der „Islamische Staat“ – und er selbst erklärte sich zum Nachfolger (Khalifa) des Propheten Mohammed, zum neuen Kalifen des IS. Gegen diesen Anspruch protestieren zahlreiche sunnitische Rechtsgelehrte, darunter auch die für die gesamte islamische Welt äußert bedeutsame Azhar-Universität in Kairo, stellt der Politikwissenschaftler Volker Perthes in seinem Buch Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen fest (S. 92-98).

Eine „Armee aus Medina“ – die Ideologie des IS

Als der IS noch den Vorläufernamen „ISIL“ bzw. „ISIS“ trug, standen diese Abkürzungen für „Islamischer Staat im Irak und in Scham“ – wobei „Scham“ sowohl mit „Großsyrien“ als auch mit „Damaskus“ und „Levante“ übersetzt werden kann. „Scham“ umfasst für gläubige Muslime die Gebiete Syrien, Libanon, Israel, Palästina und Jordanien. Jerusalem ist wegen des Felsendoms und der Al-Aqsa-Moschee sowie der Himmelfahrt des Propheten Mohammed der drittwichtigste Ort nach Mekka und Medina.

Damaskus war während der Zeit der Omajjaden-Dynastie (661-750), deren islamisches Herrschaftsgebiet über die arabische Halbinsel, Nordafrika, Spanien bis an die Pyrenäen und im Osten bis nach Indien reichte, die Hauptstadt dieses größten Kalifats der gesamten Geschichte.

Sunniten wie Schiiten glauben, dass es in „Scham“ zu einem heilsgeschichtlichen Endkampf, einem „Armageddon“ kommt. Sie stützen sich dabei auf den Ausspruch des Propheten Mohammed: „Die letzte Stunde der Geschichte wird erst kommen, wenn die Römer entweder bei Al-A´maq oder bei Dabiq aufmarschieren (beide Orte liegen nordöstlich von Aleppo, direkt an der türkischen Grenze. Mit ‚Römer’ ist Byzanz gemeint, Michael Lüders). Dann wird eine Armee aus Medina, eine Armee der besten des Volkes auf Erden, aufbrechen und sich ihnen stellen.“ (Lüders, S. 88) Nach der Überlieferung wird die muslimische Armee einer feindlichen Übermacht aus 42 Heeren entgegentreten und diese vernichtend schlagen.

Schiiten glauben, dass erst nach dieser endgültigen Schlacht der Erlöser, der Mahdi, erscheinen wird, um die Gläubigen ins Paradies zu führen. „Radikale Sunniten deuten diesen Hadith (Ausspruch des Propheten Mohammed, Anm. von C.R.) als Versprechen eines endgültigen Sieges über die Ungläubigen, einschließlich der Schiiten. Die unterschiedliche Auslegung ist ein Grund dafür, warum den Schiiten der Dschihad gegen Nichtmuslime weitgehend fremd geblieben ist“, schreibt Michael Lüders (S. 89). „Dabiq“ heißt eine Propaganda-Hochglanzbroschüre des IS, die in vielen Sprachen, darunter deutsch, im Internet angeboten wird und auf den zitierten Ausspruch des Propheten Bezug nimmt. IS-Kämpfer sehen sich selbst als die prophezeite „Armee aus Medina“. Michael Lüders zieht als Fazit: „Man sollte die Wirkungsmacht solcher Heilsversprechen unter emotional aufgeladenen Gläubigen, besonders im Umfeld von Krieg und Gewalt, nicht unterschätzen.“ (S. 89)

Die Ausrufung des IS-Kalifats erfolgte am 29. Juni 2014, dem ersten Tag des Fastenmonats Ramadan. Michael Lüders zitiert den Islamwissenschaftler Stephan Rosiny, der die erste Freitagspredigt von al-Baghdadi am 4. Juli 2014 in Mossul analysiert hat: „Wegen seiner im ‚Dschihad’ erlangten Kriegswunde erklomm ‚Kalif Ibrahim’ nur humpelnden Schrittes die Kanzel. (…) Er war mit schwarzem Turban und Umhang gekleidet, wie sie auch Mohammed bei der Rückeroberung Mekkas im Jahr 630 getragen haben soll.“ Lüders folgert: „Deswegen auch die schwarze Fahne des ‚Islamischen Staates’ und die häufig schwarze Kleidung seiner Kämpfer, die ebenfalls auf diese Rückeroberung anspielen. Mehr noch, schwarze Uniformen und Flaggen gehörten zur höfischen Etikette der Abbasiden im achten Jahrhundert und erinnern so an das goldene Zeitalter des Islam.“ (Lüders, S. 92)

Der neue Kalif versprach in seiner ersten Predigt, die „Würde, Macht , Rechte und Führerschaft der Vergangenheit zurückzugeben.“ (L. Napoleoni, S. 15)

Der „Islamische Staat“ unter dem Kalifen al-Baghdadi sieht sich in der Tradition sowohl des Omajjaden-Weltreiches mit der Hauptstadt Damaskus als auch in der Tradition des nachfolgenden Abbasiden-Weltreiches mit der Hauptstadt Bagdad – und damit als Hüter des Erbes von Mohammed und des wahren islamischen Glaubens. Dies ist auch der Grund, warum der selbst ernannte Kalif al-Baghdadi alle muslimischen Gläubigen weltweit dazu aufgerufen hat, in den „Islamischen Staat“ zu kommen, der seiner Ansicht nach das neue globale spirituell-geistige Zentrum des Islam darstellt: „Wer kann, soll in den Islamischen Staat einwandern, denn die Übersiedlung ins Haus des Islam ist eine Pflicht“, so al-Baghdadi bei der Ausrufung des Kalifats (Napoleoni, S. 96) – und er ergänzte: „Eilt, o ihr Muslime in euren Staat. (…) Dies ist mein Rat an euch: Wenn ihr an ihm festhaltet, werdet ihr Rom und die Welt erobern, so Allah es will.“ (Napoleoni, S. 98)

Der IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani lässt an Deutlichkeit des IS-Machtanspruchs nichts zu wünschen übrig: „Mit der Ausdehnung des Herrschaftsgebiets des Kalifen und der Ankunft seiner Truppen wird die Legalität aller Emirate, Staaten, Gruppen und Organisationen hinfällig.“ (L. Napoleoni, S. 14)

Die staatlichen Strukturen des IS

Kalif al-Baghdadi hat den IS in Regierungsbezirke aufgeteilt, die wiederum in Provinzen gegliedert sind. Reichere Bezirke zahlen an ärmere eine Art „Länderfinanzausgleich“. Der Kalif hat alle relevanten Berufsgruppen in Syrien und Irak persönlich aufgerufen, am Aufbau des neuen Staatswesens tatkräftig mitzuhelfen. Schulen und Universitäten sind im IS, auf dessen Gebiet rund sechs Millionen Menschen leben, geöffnet. Es gilt die Wehrpflicht, der neue Staat erhebt Steuern und Abgaben. Davon werden unter anderem auch Suppenküchen für Arme sowie Renten für Witwen getöteter IS-Kämpfer finanziert. Mitarbeiter des IS kümmern sich um Stromversorgung und Müllabfuhr, anders als al-Qaida oder andere Terrororganisationen legt der IS großen Wert auf den Aufbau tragfähiger Strukturen eines Staates. Größere finanzielle Zuwendungen erhält der IS aus den reichen Golfstaaten. Der Verkauf von Erdöl – sowohl an die Türkei wie auch die syrische Regierung (L. Napoleoni, S. 52) – bringt Deviseneinnahmen in Höhe von zwei Millionen US-Dollar pro Tag (Wall Street Journal, 16.4.2014). Weitere Einnahmequellen sind Schmuggelgeschäfte, Schutzgelderpressungen und Lösegeldzahlungen für die Freilassung von Geiseln. Während viele Regierungen Lösegeld an den IS für ihre jeweiligen Staatsangehörigen zahlen, weigern sich die US-amerikanische und britische Regierung, dies zu tun.

Nach der Eroberung von Mossul im Sommer 2014 beschlagnahmte der IS von der Zentralbank Gelder in Höhe von 425 Millionen US-Dollar, die sowohl für militärische Zwecke wie auch für eine „Kampagne, die Herzen und die Zustimmung der Bevölkerung zu gewinnen“ (Napoleoni, S. 58) verwendet werden.

Die Zahl der Kämpfer wird nach unterschiedlichen Quellen auf 25 000 bis mehr als 50 000 Mann geschätzt, ebenso viele Zivilisten sollen im Dienst des IS als Verwaltungsmitarbeiter beschäftigt sein. Kämpfer erhalten einen Monatslohn zwischen 200 und 600 US-Dollar, Verwaltungsangestellte rund 300 US-Dollar, Abteilungsleiter bis zu 2 000 US-Dollar, schreibt Michael Lüders (S. 96). Loretta Napoleoni dagegen verweist auf Quellen, die von einem niedrigeren Sold ausgehen: „Freigegebene Dokumente des US-Außenministeriums zeigen, dass während einer bestimmten Aufzeichnungsperiode der durchschnittliche Soldat des Islamischen Staates einen Grundlohn von gerade mal 41 Dollar im Monat verdiente, viel weniger als ein irakischer Arbeiter wie beispielsweise ein Maurer, der monatlich 150 Dollar verdient.“ (L. Napoleoni, S. 55)

Der Kalif hat zwei Stellvertreter, von denen je einer für Irak und für Syrien zuständig ist. In einem „Führungsrat“ berät eine kleine Gruppe von Vertrauten des Kalifen die Politik des IS. In einem „Kabinett“ sitzen Manager und Technokraten, die sich um Sicherheit, Finanzen, Medienarbeit, Rekrutierung und andere Aufgaben eines Staates kümmern. Auf lokalen Ebenen sind im IS „regionale Räte“ eingerichtet, die mit zivilen und militärischen Aufgaben betraut sind und als Ansprechpersonen für die jeweilige lokale Bevölkerung dienen. In diesen Räten sollen auch zahlreiche ehemalige Offiziere der aufgelösten irakischen Armee unter Saddam Hussein beschäftigt sein.

Eine Religionspolizei achtet auf die Einhaltung der Scharia. In einem offiziellen Dokument mit dem Titel „Bekanntmachung Nummer 006“ des IS vom 18. April 2014 steht zu lesen: „Die folgenden Fakultäten und Abteilungen, die sich gegen die Scharia richten, werden geschlossen und abgeschafft: Fakultät für Jura, Politikwissenschaft und Kunst. Archäologie, Sporterziehung und Philosophie. Tourismus und Hotelmanagement. Abgeschafft werden ebenso alle Lehrinhalte, die gegen die Scharia sind: Demokratie, Kultur, Freiheit und Rechte. Romane und Theaterstücke in den Sprachen Englisch und Französisch und generell Übersetzungen. Die folgenden Fragen werden nicht thematisiert: Nationalität, ethnische Zugehörigkeit, Geschichte, Grenzziehung. Die Lehrkräfte sind gehalten, stets Folgendes zu beachten: Trennung von Männern und Frauen gemäß Scharia. (…) Diese Bekanntmachung ist ein Befehl. Er ist verpflichtend. Zuwiderhandlungen werden bestraft. Allahs Befehle führen zum Sieg, aber vielen Menschen ist das nicht bewusst. Gott sei gepriesen.“ (Lüders, S. 97)

Die Brutalität, mit der IS-Gerichte vorgehen, ist vielfach belegt: „In der syrischen Stadt Manbidsch beispielsweise hackten IS-Vertreter vier Dieben die Hände ab (…), peitschten Menschen wegen Beleidigung ihrer Nachbarn aus, konfiszierten und vernichteten gefälschte Medikamente und exekutierten und kreuzigten mehrere Personen wegen Glaubensabfall und Mord.“ (Napoleoni, S. 68)

Eine Grundlage für den Machtzuwachs al-Baghdadis liegt auch in seinem politischen Pragmatismus. Als im irakischen Falludscha sich die dortigen Stämme weigerten, „die ISIS-Fahnen aufzuhängen, wies er seine Kämpfer an, auf das Hissen der Flagge zu verzichten und statt dessen die Kooperation der Kämpfer bewaffneter Gruppen sowie der Clans und Gläubigen zu suchen,“ (L. Napoleoni, S. 53)

Der IS – ein Produkt verfehlter westlicher Interventionspolitik

Zum Thema „Afghanistan“ zitiert Michael Lüders aus einem Interview der französischen Zeitschrift Le Nouvel Observateur vom Januar 1998 mit Zbigniew Brzeziński, dem ehemaligen nationalen Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter:

Frage: „Als die Sowjets ihre Intervention mit der Absicht begründeten, dass sie das geheime Engagement der USA in Afghanistan bekämpfen wollten, hat ihnen niemand geglaubt. Dennoch war die Behauptung nicht ganz falsch. Bereuen Sie heute nichts?“

Antwort: „Was denn bereuen? Die geheime Operation war eine ausgezeichnete Idee. Das Ergebnis war, dass die Russen in die afghanische Falle gelaufen sind, und Sie verlangen von mir, dass ich das bereue? An dem Tag, an dem die Sowjets offiziell die Grenze überschritten hatten, schrieb ich Präsident Carter: Jetzt haben wir die Gelegenheit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu verpassen. Und tatsächlich, fast zehn Jahre lang war Moskau gezwungen, einen Krieg zu führen, der die Möglichkeiten der Regierung bei Weitem überstieg. Das wiederum bewirkte eine allgemeine Demoralisierung und schließlich den Zusammenbruch des Sowjetreiches.“

Frage: „Und Sie bereuen nicht, den islamischen Fundamentalismus unterstützt zu haben, in dem Sie künftige Terroristen mit Waffen und Know-how versorgten?“

Antwort: „Was ist für die Weltgeschichte von größerer Bedeutung? Die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetreiches? Einige fanatisierte Muslime oder die Befreiung Zentraleuropas und das Ende des Kalten Krieges?“ (S. 24-26).

Michael Lüders zeigt die aktuelle Fortsetzung dieser Politik mit einem Zitat aus der New York Times vom 24. März 2013 auf: „Mit Hilfe der CIA haben arabische Regierungen und die Türkei ihre militärische Unterstützung für oppositionelle Kämpfer in Syrien erheblich ausgeweitet.“ (S. 76)

Auf Seite 103 lässt der Autor den ehemaligen CIA-Mitarbeiter Graham Fuller zu Wort kommen: „Die USA hatten nicht die Absicht, den Islamischen Staat zu erschaffen. Aber deren zerstörerische Interventionen im Nahen Osten und der Krieg im Irak waren die beiden entscheidenden Geburtshelfer des IS.“

Lüders fährt fort: „Dessen militärische Führung besteht wesentlich aus der alten Saddam-Generalität, die vor allem mit Amerikanern und Briten noch eine Rechnung offen hat. Ihr Ansinnen ist schlicht, aber offenbar nicht schlicht genug, um nicht doch möglicherweise den gewünschten Effekt zu erzielen. Sie will Amerikaner und Europäer zu einer Bodenoffensive verleiten. Wohl wissend, dass diese einen solchen Krieg nicht gewinnen könnten – siehe Afghanistan, siehe Irak in den Jahren der Besatzung – und sich auf politischen Treibsand begeben würden. Das erklärt die provokanten Enthauptungen britischer und amerikanischer Geiseln, die größte Empörung auslösten und den innenpolitischen Druck besonders auf Präsident Obama verstärkten, endlich ‚etwas zu tun’. Vorstellbar auch, dass der IS durch Terroranschläge in Europa eine westliche Intervention mit Bodentruppen zu provozieren sucht. Für den ‚Islamischen Staat’ wäre sie eine willkommene Gelegenheit. ‚Kalif Ibrahim’ würde sich als moderner Saladin inszenieren, der den Kreuzfahrern die Stirn bietet, er würde zum globalen Dschihad gegen die Ungläubigen aufrufen. Eine riskante Strategie, denn der IS würde ebenfalls einen hohen Preis bezahlen – doch nicht besiegt werden zu können ist für eine Guerillaarmee bereits der halbe Sieg. Nicht zuletzt mit Blick auf die Emotionen, die eine weitere groß angelegte Militärintervention in einem islamischen Land unter Muslimen weltweit auslösen würde.“ (S. 103)

Nachtrag: Paris

Während der Abfassung dieses Artikels wurden am 13. November 2015 in Paris Terroranschläge ausgeführt, zu denen sich mutmaßlich der IS bekannt hat: „In dem noch nicht verifizierten Bekennerschreiben steht, ‚Soldaten des Kalifats’ hätten ‚die Hauptstadt der Abscheulichkeit und Perversion’ angegriffen. Die Schauplätze der Anschläge seien gezielt ausgewählt worden: das Stade de France, weil Frankreichs Präsident Hollande sich dort aufgehalten habe; die Konzerthalle Bataclan, weil ‚Götzendiener’ dort gefeiert hätten – tatsächlich spielte dort eine Popband. In dem Schreiben wurden weitere Angriffe gegen Staaten angedroht, die sich wie Frankreich an der Militärkoalition gegen den IS beteiligen.“(1)

Diese Anschläge werden vermutlich Folgen weit über das Jahr 2015 hinaus haben.

Der Publizist und engagierte Kriegsgegner Jürgen Todenhöfer plädiert für folgende Anti-IS-Strategie:
1. Fairness gegenüber der muslimischen Welt statt Krieg und Ausbeutung.
2. Respekt gegenüber unseren muslimischen Mitbürgern statt Diskriminierung.
3. Enttarnung des IS als anti-islamische Mörderbande, für die der Islam nur Maske ist.
4. Unterstützung der Wieder-Eingliederung der diskriminierten Sunniten ins politische Leben des Irak.
5. Bekämpfung der weitgehend unbehinderten Rekrutierungs-Maßnahmen des IS.

Dem Fazit Jürgen Todenhöfers ist wenig hinzuzufügen: „Ignoranz, Inkompetenz und rassistischer Dünkel gegenüber Muslimen führen uns immer tiefer in den Sumpf des Terrors hinein. Das Problem beginnt unlösbar zu werden. Selbst das haben unsere Anti-Terrorkrieger noch nicht bemerkt“ (2).


Der Autor:
Clemens Ronnefeldt, Jg. 1960, ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes. Seit 1990 hat er Irak, Iran, Syrien, Libanon, Israel, Palästina, Ägypten und Jordanien im Rahmen von Friedensdelegationen bereist und berichtet im gesamten deutschsprachigen Gebiet über die Arbeit von Friedens- und Menschenrechtsgruppen im Nahen und Mittleren Osten.


 

Anmerkungen:
(1) http://www.sueddeutsche.de/politik/terror-in-paris-was-wir-ueber-die-spur-zum-islamischen-staat-wissen-1.2737396
(2) http://www.ksta.de/politik/is-todenhoefer-irak-sote,15187246,31246632,item,3.html

Verwendete Literatur:
1. Michael Lüders, Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet, München 2015.
2. Volker Perthes, Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen, Berlin 2015.
3. Loretta Napoleoni, Die Rückkehr des Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens, Zürich, 2015
(Hinweis von C. Ronnefeldt: In diesem Buch stellt die Autorin immer wieder m.E. problematische Vergleiche an, weshalb
ich die Lektüre nur eingeschränkt empfehlen möchte).
4. Jürgen Todenhöfer, Inside IS – 10 Tage im „Islamischen Staat“, München 2015.

 

 

 

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