„Ich will keinen Faschismus vor meiner Haustür“
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Eine ukrainische Stadt im Kriegszustand –
Von SUSANN WITT-STAHL, Slawjansk, 1. Mai 2014 –
Die vielen Checkpoints auf der von Schlaglöchern übersäten Straße von Donezk nach Charkiw sind ein untrügliches Zeichen: Die derzeit größte Problemzone der Ukraine befindet sich ganz in der Nähe. Die Unabhängigkeitsbewegung von Donbass zeigt verschanzt hinter Stapeln von Autoreifen Flagge. An einem Kontrollpunkt bei Kostjantyniwka, einer rund 80.000 Einwohner zählenden Industriestadt siebzig Kilometer von Donezk entfernt, gibt Konstantin, der Kommandant, Auskunft, warum er hier ausharrt. „Der Maidan in Kiew zwingt mich dazu. Ich will keinen Faschismus vor meiner Haustür haben“, sagt der freundlich lächelnde Zwirbelbartträger mit einer auffällig sanften Stimme.
An seiner Tarnuniform trägt er das Wappen der am 7. April ausgerufenen Donezk People`s Republic und das St.-Georgs-Band, das an die militärischen Leistungen der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg erinnern soll und heute das Symbol des Widerstandes gegen die von den Gegnern als „Junta“ bezeichnete Kiewer Regierung ist. Notfalls will Konstantin bis zum bitteren Ende bleiben. „Lieber sterbe ich, als dass ich aufgebe, denn meine Tochter lebt schließlich hier“, sagt der ältere Mann und zeigt in Richtung Kostjantyniwka. Auf die Frage, ob seine Kampfgruppe, die nicht einmal zehn Männer zählt, denn über Waffen verfügt, lacht Konstantin und erwidert: „Wir haben nur Knüppel.“ An dem Kontrollpunkt sind, wie an den anderen Stellungen separatistischer Kräfte auf dem Weg nach Slawjansk auch, keine Schusswaffen zu sehen – nicht einmal Molotow-Cocktails, Steine oder andere Wurfgeschosse liegen bereit. Was würde er tun, wenn statt der ukrainischen die russische Armee käme? „Ich würde sie mit Brot und Salz empfangen“, erwidert Konstantin ohne Zögern – deutlicher lässt sich der Wunsch nach dem endgültigen Bruch mit Kiew kaum formulieren.
Wenige Kilometer weiter dann ein Checkpoint der ukrainischen Armee. Behelmte Scharfschützen liegen hinter Sandsäcken in ihren Stellungen. Panzer manövrieren auf einem Acker. Die größtenteils noch blutjungen Soldaten wirken unsicher und nervös. Fotografieren ist strengstens verboten. Reden will keiner – sie folgen ihren Befehlen.
Im Zentrum der im Donezk-Becken gelegenen Stadt Slawjansk (120.000 Einwohner) herrscht am frühen Morgen eine angespannte Ruhe. Das von den Separatisten besetzte Rathaus gleicht einer Festung. Hier postieren bewaffnete Paramilitärs. Der Eingangsbereich ist komplett mit Sandsäcken verbarrikadiert. Die Fassade schmückt eine riesige Fahne der Volksrepublik Donezk. An einem Lenindenkmal – das gibt es in jeder noch so kleinen Stadt in der Ukraine, sofern es nicht von Faschisten oder anderen Rechten zerstört wurde – hängen Fotos von Einwohnern, die in den vergangenen Wochen in Gefechten getötet wurden. An der nächsten Kreuzung halten einige Anti-Maidan-Milizen mit einem museumsreifen alten Maschinengewehr und einem vermutlich erbeuteten Panzerfahrzeug Wache.
In einem benachbarten kleinen Café erklären sich Bewohner und ihre Unterstützer bereit, die Lage zu erklären und zu kommentieren. „Wir sind im Krieg – in einem Bürgerkrieg“, sagt Lola*, die hier zusammen mit einigen Freundinnen als freiwillige Erste-Hilfe-Sanitäterin arbeitet. „Nachdem wir vor einer Woche in Charkiw Medikamente geholt hatten, stoppte uns das ukrainische Militär. Die Soldaten, die Waffen in ihren Händen hielten, sagten: ‚Wenn Ihr nicht sofort umkehrt, dann erschießen wir Euch alle – auf der Stelle‘“, berichtet Lola. Es sei ihnen schließlich gelungen, über Schleichwege und inkognito nach Slawjansk zu gelangen. „Beim nächsten Versuch hatte ich blonde Haare, trug einen kurzen Rock und High Heels“, erzählt die brünette junge Frau, die sportlich-rustikal gekleidet ist, und lächelt etwas spitzbübisch.
Aber dann wird sie wieder ganz ernst. „Wir wollen diesen Krieg nicht. Die Leute in Slawjansk verstehen überhaupt nicht, was los ist“, schickt Lola hinterher. Der ultranationalistische und faschistische Rechte Sektor operiere gegen sie an der Seite des ukrainischen Militärs und der Nationalgarde, in die viele der Maidan-Kämpfer eingetreten sind. Vor der Stadt sind Panzer und anderes schweres militärisches Gerät aufgefahren, über ihr kreisen Hubschrauber. In der Dunkelheit bewegten sich schwarz gekleidete, bewaffnete Männer in voller Kampfmontur durch die Gegend. Es seien aber weder Ukrainer noch Russen, meint sie. „Drei von ihnen haben uns gestoppt. Sie trugen Masken und sprachen Englisch miteinander“, so Lola weiter. Dem Akzent der Militärs und Paramilitärs nach zu urteilen, handele es sich aber nicht um Briten oder Amerikaner. Sie würden mit dem ukrainischen Militär zusammenarbeiten. „Niemand weiß, wer sie sind.“
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Auf der gegnerischen Seite hätten die Bewohner aus Slawjansk „nicht einmal Schusswaffen an den Barrikaden, nur Schlagstöcke. Sie verteidigen ihr Leben und ihre Stadt“, meint ein Kollege von dem russischen Privatfernsehsender REN aus Moskau, der seit einigen Tagen mit seinem Kameramann in der Stadt unterwegs ist. Die Bevölkerung im Osten sei sehr wütend auf die ukrainischen Medien und Journalisten aus dem westlichen Ausland wegen der verstörenden und unseriösen Berichterstattung über die als von der Kiewer Regierung als „Antiterror-Einsätze“ bezeichneten Angriffe. Deshalb behinderten sie oftmals die Journalisten und wollen nicht, dass sie filmen oder Fotos machen. Selbst russische Medienvertreter bekämen hier und da Schwierigkeiten.
Auch der REN-Reporter geht davon aus, dass der Rechte Sektor in die Eskalation in Slawjansk involviert ist. Anti-Maidan-Milizen aus der Stadt hätten berichtet, dass sie Kämpfer des Sektors in den benachbarten Wäldern gesehen haben. Der Anführer eines mobilen Kommandos des Sektors in Kiew „für spezielle Aufgaben“ bestätigt später in einem Interview mit Hintergrund, dass die Organisation hier aktiv ist. Die rechten Milizen treten in der Gegend aber nicht öffentlich auf und geben sich nicht zu erkennen.
Vor einigen Tagen ist ein von den Anti-Maidan-Kampfgruppen festgenommener Sektor-Aktivist Medienvertretern vorgeführt worden. Er sagte aus, dass er ein „einfacher Mann“ sei, der Geld verdienen wollte. Er sei vor einiger Zeit auf den Maidan gekommen, um beim Rechten Sektor anzuheuern. Er sei nach Slawjansk geschickt worden. Man habe ihn angewiesen, eine Kamera zu kaufen und Fotos von den Separatisten zu schießen, sie und ihre Tagesabläufe auszuspionieren und herauszufinden, wie sie sich von einem Checkpoint zum anderen bewegen. Er war unbewaffnet.
Olga*, eine ehemalige Sanitäterin der Roten Arme, die in Afghanistan und anderen Kriegsgebieten im Einsatz war und nun in Slawjansk verwundete Anti-Maidan-Milizen betreut, wundert sich nicht über die Präsenz von ultranationalistischen und faschistischen Paramilitärs. Bereits 2005 seien in Bunkeranlagen der Westukraine „Banderisten“, Anhänger des ehemaligen Chefs der rechts gerichteten Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), Stepan Bandera, von westlichen Militärausbildern aus den USA, Polen und Tschechien trainiert worden, behauptet Olga und beruft sich auf befreundete Journalisten, die damals belastendes Material, darunter heimlich aufgenommene Videos, vorgelegt hätten. Die Beweise seien von der damaligen ukrainischen Regierung unter Wiktor Juschtschenko – einem prowestlichen Politiker – unterdrückt worden.
Sind US-amerikanische Special Forces oder Blackwater-Söldner an den Kämpfen in der Ostukraine beteiligt? Es gebe keine harten Fakten, die das belegen würden, aber einige Indizien, so die Einschätzung des REN-Reporters. Anti-Maidan-Milizen, die Feindberührung gehabt hätten, würden ihm immer wieder berichten, dass Kämpfer, die auf Seite der ukrainischen Armee operieren, „merkwürdige Waffen“ trügen. „Bei ukrainischen Militärs findet sich nur veraltetes, teilweise sogar angerostetes Equipment. Aber die unbekannten Einsatzkräfte haben moderne Waffen und Nachtsichtgeräte.“
Sanitäterin Olga begibt sich zum örtlichen Hospital, wo Bewohner von Slawjansk und Anti-Maidan-Milizen liegen, die in den – in der Regel nächtlichen – Scharmützeln an den Barrikaden verletzt wurden. Darunter auch ein 32-jähriger Mann, der vor einigen Tagen am frühen Morgen gegen 7 Uhr von einem Dum-Dum-Geschoss – Munition, die durch die Haager Landkriegsverordnung geächtet ist – getroffen worden sein soll und operiert wurde. Er steht unter Schock und ist psychisch in einem sehr labilen Zustand. Seine Frau, Svetlana, schirmt ihn ab und will nicht, dass er sich fotografieren lässt: „Das ukrainische Fernsehen hat ihn als ,Terroristen‘ bezeichnet“, führt sie als Begründung an. Prorussische Milizen und andere aktive Gegner der Jazenjuk-Regierung werden in diesen Tagen sehr schnell als „Terroristen“ abgestempelt. Sie gelten als vogelfrei – Igor Kolomoisky, milliardenschwerer Oligarch und von Kiew eingesetzter Gouverneur des Oblast Dnipropetrowsk, hat ein Kopfgeld von 10.000 Dollar für jeden gefangenen Separatisten ausgesetzt.
Ihr Mann habe nachts eine Nachricht bekommen, dass sich einem von den Bewohnern gehaltenen Kontrollpunkt verdächtige Personen genähert hätten, erzählt Svetlana. Auf dem Weg dorthin sei er in seinem Wagen angeschossen worden und konnte noch stark blutend zum Krankenhaus flüchten. Wer der Schütze war, weiß sie nicht. Dass es Friendly Fire war, schließt sie aus: „Hier kennt jeder jeden viel zu gut, als dass so etwas passieren könnte.“ Die junge Frau wirkt sehr erschöpft. Sie bricht in Tränen aus. Olga, die während ihrer Zeit als Militärsanitäterin viel Schreckliches gesehen hat, nimmt sie in den Arm, tröstet sie und sagt nachdenklich: „Ich kann nicht einmal weinen – schon lange nicht mehr.“
*Name von der Redaktion geändert
** Vollmantelprojektile, deren Spitze abgefeilt wurde. Wirkung: Der Geschosskörper verformt sich beim Eintreten in das Zielobjekt und verursacht besonders schwere Verletzungen, große Austrittswunden und starken Blutverlust. Die Splitter des freigelegten Bleikerns, die sich überall im Körpergewebe verteilen, erschweren die Wundversorgung zusätzlich.
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