Griechenland: Chronik einer erwarteten Explosion
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Von WASSILOS ASWESTOPOULOS, 9. Dezember 2008:
Hilflosigkeit, Verzweiflung, Zerstörung, Chaos, pure blinde Gewalt. Faktisch herrscht der Ausnahmezustand, nur die Regierung hat diese Situation noch nicht akzeptiert.
Diese Worte beschreiben die Zustände in Griechenland seit nunmehr drei Tagen. Seit Samstag, den 6. Dezember 2008, befindet sich das ganze Land im Ausnahmezustand.
Drei Schüsse aus einer Polizeipistole und eine Patrone, die einen fünfzehnjährigen Schüler ins Herz traf und tötete, lösten eine Kettenreaktion aus, die das Land in die schlimmsten Unruhen seit 35 Jahren stürzte.
Damals – am 17. November 1973 – war ein Panzereinsatz der griechischen Militärregierung gegen protestierende Studenten der Auslöser für den Sturz des Diktators Georgios Papadopoulos.
Heute, kurz nach dem fünfunddreißigsten Jubiläum der Studentenrevolte, scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Wieder sind neben Schülern, Studenten und erklärten Randalierern „normale“ Bürger auf der Straße, um zu demonstrieren.
Doch dieses Mal werteten alle Parteien, selbst Polizeiangehörige, die Schüsse auf den Schüler als kaltblütigen Mord eines fanatisierten Polizisten.
Die Krise kündigte sich an
Der liberal-konservative Ministerpräsident Kostas Karamanlis, ein Neffe des früheren Staatspräsidenten Konstantinos Karamanlis, wurde in demokratischen Wahlen im September 2007 für eine zweite Amtszeit bestätigt und regiert seitdem mit knapper parlamentarischer Mehrheit von anfangs 152, nach dem Parteiausschluss des Parteidissidenten Petros Tatoulis, mit 151 von 300 Stimmen.
Bereits vor den Wahlen 2007 befand sich das Land in einem Krisenzustand, mitten im Wahlkampf brannten die Wälder Griechenlands, 70 Menschen kamen in den Flammen ums Leben, der Staat konnte seine Bürger nicht schützen. Trotzdem oder wegen der damaligen Krise wurde die Regierung bestätigt. Einerseits hatten die Griechen Angst vor einem Wechsel während einer Krise, andererseits konnte die Opposition trotz der Unfähigkeit der Regierung kein schlüssiges Konzept vorweisen.
In dieser Situation konnte die Karamanlis-Administration nahezu ungestört Skandale aussitzen, die jede Regierung eines europäischen Staates hätten stürzen können. So wurde z.B. nachgewiesen, dass sowohl die jetzige Regierung als auch die bis 2004 regierenden Sozialdemokraten unter Konstantinos Simitis bei öffentlichen Ausschreibungen von Siemens geschmiert worden waren.
Es stellte sich heraus, dass Regierung, Opposition, Journalisten und ausländische Bürger systematisch abgehört wurden. Dieser Umstand wurde vom zuständigen Minister zunächst vertuscht. Weder der Minister noch irgendein anderer Schuldiger musste sich vor der Justiz verantworten. Es gab noch nicht einmal Rücktritte.
Ebenso konnte nachgewiesen werden, dass mehrere Minister in einen lukrativen Grundstücksdeal mit mindestens einem Kloster verwickelt sind, bei dem der öffentlichen Hand ein Milliardenschaden entstand. Sexskandale, Eifersuchtsmorde und Selbstmordversuche erschütterten sowohl das Kultusministerium als auch – dies allerdings kurz vor den Wahlen – das Sozialministerium. Der griechische Bürger konnte nicht feststellen, dass auch nur ein wirklich Verantwortlicher angeklagt, geschweige denn verurteilt wurde.
In diesem Skandalsumpf wurde das Land von der weltweit drohenden Wirtschaftskrise kalt erwischt. Buchstäblich live, während der Rede des Ministerpräsidenten zur Lage der Nation, die traditionell im Rahmen der internationalen Messe von Thessaloniki im September gehalten wird, wurden in einer konzertierten Aktion von allen Medien düstere ökonomische Vorhersagen präsentiert. Schlagartig wurden die mit mehr oder minder pikanten Skandaldetails beschäftigten Griechen aus einer Art Traum geweckt. Bislang hatten viele Bürger in der Hoffnung, dass ein wirtschaftlicher Aufschwung ihre momentane Finanzlage ändern könnte, auf Kredit gelebt. Die Banken hatten eigens dazu großzügig sowohl Kreditkarten verteilt als auch mittels Werbung den Kunden Urlaubskredite, Weihnachtskredite, Hochzeitskredite und Ausbildungskredite aufgedrängt.
Völlig unvermittelt traf die Griechen im Herbst dieses Jahres die Ankündigung höherer Steuern, sogar einer Kopfsteuer, die auch von Bürgern mit Einkünften unterhalb des relativ niedrigen, staatlich festgelegten Existenzminimums zu zahlen ist. Enorme Strompreiserhöhungen wurden angekündigt und mit steigenden Energiekosten entschuldigt, während zur gleichen Zeit der Ölpreis auf dem Weltmarkt von 144 Dollar pro Barrel auf 44 Dollar sank.
Gleichzeitig zeigten die Banken ein anderes Gesicht: Kredite wurden reihenweise gekündigt und den gebeutelten Kreditnehmern, die mittlerweile entweder ihre Arbeitsplätze verloren haben oder um diese bangen müssen, wurde eine Einhaltung der Kredite nur zu erheblich höheren Zinsen gewährt. Je tiefer die Europäische Zentralbank die Zinsen senkt, umso mehr erhöhen die griechischen Banken ihre Kreditzinsen. Kontoüberziehungen kosten 23 Prozent.
Es wurde publik, dass selbst der neue Handelsmarineminister, Panagiotis Kamenos, auf rüde Art von Inkassounternehmen der Banken behelligt wird. Kamenos schuldet seiner Bank 60 Euro, da er seine Kreditkarte angeblich nicht fristgerecht kündigte. Es ist bezeichnend für die Macht der Banken, wenn ein amtierender Minister mit Belegen an die Öffentlichkeit geht und nachweist, die Kreditkarte fristgerecht gekündigt zu haben. „Wenn ein amtierender Minister so behandelt wird, wie ergeht es wohl den anonymen Bürgern?“, kommentierte Kamenos diese Geschäftsgebaren.
Armut und Arbeitslosigkeit
Pünktlich zu den ersten Massenentlassungen, die mit der globalen Krise begründet wurden, wurden die gesetzlich Sozialversicherten mit dem Umstand konfrontiert, dass das staatliche Gesundheitswesen de facto nicht mehr existiert. Selbst Versicherte müssen bei Kassenärzten das Honorar zunächst aus eigener Tasche vorfinanzieren, die Medikamente bezahlen und dann die bürokratischen Hürden der Rückerstattung durchlaufen. Der Grund? Die staatlichen Krankenhäuser, staatlich gesicherte Sozialversicherungen und die öffentliche Hand haben einen Schuldenberg von mehreren Milliarden angehäuft und Ärzte, Apotheker sowie Krankenhauszulieferer nicht bezahlt. Aufgrund erstellter Rechnungen müssen diese allerdings die Mehrwertsteuer sowie ihren Einkommensteueranteil auch für die geschuldeten Rechnungen bezahlen.
All diese Enthüllungen und Missstände werden in den griechischen Medien haarklein aufgearbeitet. Der normale Medienkonsument kann sich vor diesen „dramatisierenden“ Nachrichten kaum retten. Pünktlich zur Prime Time werden in mehrstündigen Nachrichtensendungen die neuesten Hiobsbotschaften von Moderatoren präsentiert, die wiederum quotenwirksam von sich streitenden Politkern oder weiteren Journalisten umgeben sind. Da Journalismus in Griechenland fast überwiegend parteipolitisch gefärbt ist, enden diese Nachrichtensendungen – von Werbungen für Banken unterbrochenen – meist auf dem Niveau der frühen Talkshows des deutschen Privatfernsehens.
Griechenland gehört zu den Ländern Europas, die eine relativ hohe Rate von Akademikern vorweisen können. Trotzdem herrscht gerade unter Jugendlichen und 30 bis 40-Jährigen eine hohe Arbeitslosigkeit. Viele Ingenieure, Rechtsanwälte und sogar Ärzte müssen mit Monatslöhnen von brutto 800 Euro in einem Status der Scheinselbstständigkeit überleben. Dies, obwohl selbst griechische Produkte zu höheren Preisen als im Ausland verkauft werden. Griechenland gehört zu den teuersten Staaten Europas.
Als Sahnehäubchen auf die Skandalserie wurde das Geschenk von 28 Milliarden Euro direkter Wirtschaftshilfe von der Regierung an die Banken empfunden. Ohne wirkliche Gegenleistung können die griechischen Banken nun völlig furchtlos durch die Wirtschaftskrise kommen. Die Kunden und die für 800 Euro arbeitenden Bankangestellten können allerdings keine Unterstützung erwarten.
Vor diesem Hintergrund muss man die Reaktion der etwa dreißig Jugendlichen sehen, die vormittags staatliche Schulen aufgrund der Schulpflicht besuchen müssen und nachmittags in Privatschulen als Nachhilfe den Stoff vermittelt bekommen, den ihnen die vollkommen unorganisierten und unterbesetzten staatlichen Institutionen nicht mehr liefern können.
Ohnmächtige Wut, die bereits seit langem in Griechenland vorherrscht, gepaart mit jugendlichem Leichtsinn, haben offenbar dazu geführt, dass die Kinder die vorbeifahrenden Polizisten mit Schmährufen bedachten. Polizisten sind Repräsentanten des Staates, der den Jugendlichen – in ihren Augen – die Zukunft verbaut. Fairerweise sollte man auch die Situation der Polizisten betrachten: Mit niedrigen Löhnen von ca. 1.200 Euro und einer schlechten Ausbildung müssen sie tagtäglich Beschimpfungen, Steinwürfe oder Molotowcocktails über sich ergehen lassen.
Während Griechenlands Großstädte derzeit im wahrsten Sinn des Wortes in Flammen stehen, Geschäfte geplündert werden, Baudenkmäler von randalierenden Gruppen niedergerissen werden, gibt es kaum einen Griechen, der diese Explosion nicht erwartet oder befürchtet hat. Da Griechen Kinder als etwas Heiliges betrachten, wiegt der Tod eines Kindes für den griechischen Durchschnittsbürger mehr als ein Milliardenskandal. Die Regierung hält sich weiterhin zurück, Maßnahmen werden nicht oder nur zu spät ergriffen – ebenso wie bisher keine Maßnahmen zur Stützung der Einkommen erkennbar waren.
Die Verhängung des Ausnahmezustands wird aus parteipolitischen Gründen nicht erwogen, während die Opposition bei steigenden Umfragewerten lediglich darauf wartet, dass die Regierung wie „eine reife Frucht“ fällt. In der Zwischenzeit werden Millionenbeträge und Existenzen mittelständischer Händler und Gewerbetreibender zerstört und ohne Polizeischutz geplündert. Parteiübergreifende Maßnahmen werden noch nicht erwogen. Griechenland erscheint sowohl seitens der Regierung als auch der Opposition ohne Regierung zu sein.
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Erst am heutigen Dienstag will sich Ministerpräsident Kostas Karamanlis mit Staatspräsident Karolos Papoulias und den Vorsitzenden der griechischen Parteien zu Gesprächen treffen. Da am gleichen Nachmittag der getötete Jugendliche beerdigt wird und die Unruhen weiter anhalten, ist keine Vorhersage über die weitere Entwicklung möglich. Angesichts der Beerdigung werden noch extremere Eskalationen befürchtet.
Es ist eine Situation, die selbst professionellen Journalisten keine Möglichkeit gibt, das Gesehene ohne Emotionalität zu kommentieren. Ich habe heute in Athen erlebt, wie gestandene Polizisten, Bürger und Händler aus Verzweiflung weinten. Ich habe erlebt, dass selbst gut organisierte Kamerateams der großen Fernsehanstalten im Chaos nicht in der Lage waren, Bilder aufzunehmen – obwohl diese in Kriegsgebieten durchaus arbeiten konnten. Für mehrere Stunden war eine Berichterstattung nur mit Handykameras möglich.