Weltpolitik

„Gefühllos und grausam“: Psychisch Kranke werden in US-Gefängnissen stark misshandelt

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Von SEBASTIAN RANGE, 13. Mai 2015 – 

In keinem Land der Welt sitzen so viele Menschen im Gefängnis wie in den USA. Über 2,2 Millionen US-Bürger sind inhaftiert, was nahezu einem Viertel aller weltweit eingesperrten Menschen entspricht. Nicht nur in absoluten Zahlen sind die Vereinigten Staaten Spitzenreiter. Die Inhaftierungsrate, also die Anzahl von Gefangenen pro Einwohnern, ist nirgendwo so hoch.

Bekanntlich ist die Inhaftierungsrate von Schwarzen und Latinos überdurchschnittlich hoch. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass auch Menschen mit psychischen Erkrankungen überproportional oft im Gefängnis landen – und dort vergleichsweise oft Opfer willkürlicher Gewaltanwendungen durch das Wachpersonal werden, wie Human Rights Watch (HRW) in einem am Dienstag veröffentlichten Bericht darlegt. (1) Die Untersuchung mit dem Titel „Gefühllos und Grausam: Einsatz von Gewalt gegen Gefangene mit geistiger Behinderung in US-Gefängnissen“ kratzt an dem Mythos der USA als dem Hort der Menschenrechte.

Psychisch Kranke, wozu die Menschenrechtsorganisation Personen mit Schizophrenie, Depressionen und bipolaren Störungen (manische Depressionen) zählt, seien besonders häufig  „unnötiger und exzessiver“ Gewalt durch das Gefängnispersonal ausgesetzt. Dem Bericht zufolge würden Gefangene mit giftigen Chemikalien besprüht, erlitten schwere Verbrennungen aufgrund von Elektroschocks und würden über Tage an Betten oder Stühle gefesselt. Durch Schläge würden den oft bereits gefesselten Häftlingen Prellungen und Schäden an inneren Organen zugefügt, Wärter würden ihnen Kiefer, Nasen und Rippen brechen. In einigen Fällen führten die Gewaltmaßnahmen zum Tod der Insassen oder trugen maßgeblich dazu bei.

 Laut US-Gesetz ist die Anwendung von Gewalt gegenüber Häftlingen zu Zwecken der Bestrafung verboten, und nur als „letztes Mittel“ erlaubt, um Kontrolle über Insassen zu erlangen, von denen eine Gefahr ausgeht. Dennoch werde „im ganzen Land“ in Haftanstalten Gewalt gegen Gefangene zur Bestrafung und Vergeltung angewandt, darunter Fälle „langwieriger, brutaler Schläge durch einen oder mehrere Beamte“, bei denen es „nicht einmal einen Vorwand der Notwendigkeit“ gebe. Psychisch Kranke würden überdurchschnittlich oft Opfer von Gewaltmaßnahmen, da sie für Verhaltensweisen bestraft würden, die symptomatisch für ihre psychischen Probleme“ seien, selbst wenn es sich um dabei um ein „geringes oder nicht-bedrohliches Fehlverhalten“ handele.

Häftlinge würden misshandelt weil sie fluchen, auf den Boden urinieren oder gegen die Tür hämmern. Wachpersonal würde zur Gewalt greifen, ohne „ernsthafte Versuche  zu unternehmen, die Gefolgschaft des Insassen durch andere Maßnahmen zu gewährleisten“. „Gewalt wird selbst dann gegen Häftlinge eingesetzt, wenn sie die Anweisungen der Mitarbeiter wegen ihrer Krankheit nicht verstehen oder befolgen können,“ erklärt Jamie Fellner, die den HRW-Bericht mit verfasst hat. Der Anteil an „Personen mit geistigen Behinderungen“ in Haftanstalten sei „stark überproportional“ im Vergleich zur Gesamtbevölkerung.

Geschätzte vier Prozent der erwachsenen US-Bürger litten an „ernsthaften psychischen Krankheiten“. Hinter Gittern sei es jedoch jeder Fünfte. In absoluten Zahlen seien einer jüngsten Studie zufolge mindestens 350 000 Menschen psychisch erkrankt, die sich im Gefängnis befinden. Die Zahl könnte noch weit höher liegen. Laut einer in dem HRW-Bericht zitierten Untersuchung der Bundesbehörden aus dem Jahr 2012 wurden rund vierzig Prozent der Insassen von einem Arzt attestiert, an einer psychischen Störung zu leiden. Laut einer früheren Untersuchung litten ein Drittel der Insassen unter „schweren depressiven oder manischen Symptomen“, jeder Fünfte unter Psychosen mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen.

Die US-Gefängnisse seien „de-facto“ psychiatrische Kliniken, die dreimal so viele Kranke beherbergen wie die staatlichen Psychiatrien. Hauptgrund für den überproportionalen Anstieg in den Gefängnissen sei die Schließung vieler öffentlicher Psychiatrien infolge der Privatisierungen der vergangenen Jahre. Eine qualifizierte medizinische Betreuung gibt es in den Haftanstalten nicht. Wenn überhaupt beschränkt sich die Behandlung meist auf die Verabreichung von Medikamenten. Unter diesen Bedingungen verschlimmern sich die Krankheitssymptome. Zusätzlich traumatisiere die erlittene Gewalt die „ohnehin bereits verletzten Männer und Frauen“, und erschwere eine zukünftige Behandlung. „Gefängnisse können gefährliche, schädigende und sogar tödliche Orte für Männer und Frauen mit psychischen Problemen sein“, so Jamie Fellner.

Human Rights Watch benennt eine Reihe von Gründen für die massiven Menschenrechtsverstöße aus. Es mangele an angemessenen Richtlinien und nötiger Kontrolle, um Gefangene vor unnötigen Zwangsmaßnahmen zu schützen. Gewaltmissbrauch werde nicht zur Rechenschaft gezogen. Zudem sorgten die schlechte Ausbildung der Aufseher im Umgang mit psychisch Kranken dafür, dass diese besonders häufig Opfer nicht gerechtfertigter Gewaltmaßnahmen seien.

Blut an den Wänden

In einigen Haftanstalten herrsche seit Jahrzehnten eine „Kultur der Gewalt“, in der das Wachpersonal „routinemäßig“ Insassen grundlos „brutal“ misshandle, ohne dafür strafrechtlich belangt zu werden. Die „mutwillige Zufügung von Schmerzen“ sei in diesen Anstalten eine „Strategie der Kontrolle“, an der alle Ebenen – vom Wachpersonal bis zur Gefängnisleitung – mitschuldig seien. Zu diesen Gefängnissen zählt auch das Rikers island in New York City. Dort sitzen insgesamt elftausend Menschen ein, 85 Prozent davon Untersuchungshäftlinge, darunter viele Jugendliche. Ein Behördenbericht spricht von einer „tiefsitzenden Kultur der Gewalt“, von einer „systematischen Anwendung unnötiger und exzessiver Gewalt“ gegenüber den Insassen, um diese zu kontrollieren und zu bestrafen.

Gegen über vierzig Prozent der männlichen erwachsenen Insassen wurden bereits Zwangsmaßnahmen durchgeführt. Laut einer internen Studie der städtischen Gesundheitsbehörde erlitten in einem elfmonatigem Zeitraum 129 Insassen durch das Wachpersonal schwere Verletzungen wie Brüche oder Wunden, die genäht werden mussten. Von der „Kultur der Brutalität“ sind laut New York Times besonders Menschen mit psychischen Problemen betroffen. Sie sind zu 75 Prozent von den schweren Verletzungen betroffen, obwohl ihr Anteil an den Gefangenen „nur“ vierzig Prozent ausmacht.

In Rikers Island lebten Jugendliche „in konstanter Gefahr“, körperlich verletzt zu werden, selbst wenn sie „keine Gefahr für das Gefängnissystem oder die Sicherheit des Personals“ darstellten. Des psychisch kranken Andre Lane, der in einer Isolationszelle einsaß und sich über das Ausbleiben seines Essens beschwerte. Nachdem sie ihm Handschellen verpasst hatten, verbrachten die Wärter in einen medizinischen Untersuchungsraum – dort befanden sich keine Kameras. Mehrere Wächter schlugen brutal auf ihn ein, sein Blut klebte noch am nächsten Tag an den Wänden.

Aussicht auf eine wesentliche Verbesserung des Zustands, in dem Gefangene wie Freiwild behandelt werden können und deren Wächter oftmals schwerere Straftaten verübt haben, als diese selbst, verspricht sich der HRW-Bericht nicht. Klagen von Gefangenen, die vor Gericht landen, führten im Erfolgsfall höchstens zu einer individuellen Entschädigung, und nicht zu einer grundsätzlichen Umkehr in der Praxis des Umgangs mit den Insassen. Die für den Gewaltmissbrauch in Haftanstalten zuständige Abteilung des Justizministeriums verfüge nicht über die Ressourcen, um  Menschenrechtsverletzungen „selbst in einem Bruchteil“ der über fünftausend Einrichtungen zu verfolgen.


 

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Anmerkungen

(1) Der Bericht ist nachzulesen unter: http://www.hrw.org/reports/2015/05/12/callous-and-cruel

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