Großbritannien

Feiger Schachzug der britischen Labour-Führung

Keir Starmer und die neoliberale Labour-Rechte versuchen seit Jahren, das sozialistische Lager in der Partei komplett auszuschalten. Dabei ist ihnen jedes Mittel recht. Ihr neuester Coup ist ein Kandidaturverbot für Jeremy Corbyn bei der nächsten Parlamentswahl 2024. Hintergrund bat namhafte Vertreter des linken Flügels der traditionsreichen Arbeiterpartei um eine Bewertung der zunehmend aggressiven Angriffe.

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Labour-Chef Keir Starmer zeigt seiner Partei, wo es lang geht – nach rechts. Im kleinen Bild sein Vorhänger Jeremy Corbyn.
Sophie Brown (Corbyn); Rwendland (Starmer), Lizenz: CC BY-SA, Mehr Infos

Der Vorsitzende der Labour-Partei setzt seinen politischen Vernichtungsfeldzug gegen die Corbyn-Linke mit unverminderter Härte fort. Vergangenen Dienstag beantragte Keir Starmer im Vorstand, seinem Vorgänger die Kandidatur für Labour bei der nächsten Unterhauswahl zu verbieten. 22 Mitglieder votierten dafür, 12 dagegen. Damit war der Antrag angenommen. Ein skandalöser Akt. Denn damit wurden die demokratischen Rechte des Ortsverbands Islington North, der Corbyn zu allen Unterhauswahlen seit 1983 nominiert und für den die linke Labour-Ikone bisher immer den Wahlkreis gewonnen hat, einfach ausgehebelt.

Seit Jeremy Corbyns Aufstieg zum großen Hoffnungsträger, vor allem der zunehmend verarmenden britischen Lohnabhängigen, und seiner Wahl zum Labour-Chef 2015 tobt ein erbitterter Richtungsstreit in der Partei. Eine Seilschaft von neokonservativen Blaristen und anderen NATO-Rechten hat die sozialistische Linke unter Dauerfeuer genommen und schreckt auch vor Sabotage, Mobbing und perfiden Manipulationen nicht zurück.

Die Bestie ist erschlagen“

Seit Corbyn bei der Unterhauswahl 2017 mit 40,3 Prozent einen Sensationserfolg erzielt und den Einzug in No. 10 Downing Street nur knapp verpasst hat, agieren seine offenbar zum äußersten bereiten Feinde mit einer gut orchestrierten Rufmord-Kampagne gegen ihn, an der auch zionistische Rechte und sogar Rechtsextremisten wie der Ex-Führer der militanten English Defence League, Tommy Robinson, beteiligt sind. Die schmutzigen Hetzattacken einer vom britischen Establishment in die Spur geschickten und nahezu geschlossenen Phalanx aus Meinungsmacher-Konzernpresse, öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, etwa der BBC, aber auch linksliberalen Qualitätsmedien, angeführt von The Guardian, brachten Corbyn 2019 schließlich zu Fall: Nach einem Hagel von falschen Antisemitismus-Vorwürfen, teilweise lanciert von der Labour-Rechten, sowie massiver Behinderung durch zum Teil illegale Machenschaften einflussreicher Labour-Bürokraten, erlitt die Arbeiterpartei 2019 mit dem Verlust von 59 Sitzen eine schmerzhafte Niederlage.

„Die Bestie ist erschlagen“, triumphierte damals Joe Glasman, ein bekannter Vertreter der Israel-Lobby. 1 Er gehörte zu den führenden außerparlamentarischen Organisatoren des mit einiger krimineller Energie geplanten und durchgeführten Putschs gegen den Labour-Chef (das britische Filmemacher-Kollektiv Platform Films hat die Vorgänge in einer Dokumentation mit dem Titel „Oh, Jeremy Corbyn: Die große Lüge“ aufgearbeitet2). Corbyn musste zurücktreten. Er wurde von seinem einstigen Weggefährten Starmer beerbt, sogleich ans Messer geliefert und im Herbst 2020 von der Partei suspendiert. Als ein Parteiausschuss die Maßnahme einige Wochen später wieder aufhob, weigerte sich Starmer, Corbyn wieder in die Labour-Unterhausfraktion aufzunehmen.

Politik muss manchmal brutal sein“

Mit dem nun erfolgten Ausschluss von einer weiteren Kandidatur für Labour wird Corbyn nicht nur vom Paria zum politischen Aussätzigen degradiert – das Kaltstellen gilt der gesamten Partei-Linken. Denn für Starmer geht es um viel – vielleicht bald schon um alles: Da Premierminister Rishi Sunak und seine Tories seit Monaten mit verheerenden Umfragewerten konfrontiert sind, könnte Starmer perspektivisch bei der Parlamentswahl 2024 der große Wurf gelingen und sein Nachfolger werden. Nachdem er Labour schon 2022 mit rabiaten Methoden nahezu vollständig von der Friedensbewegung abgeschottet und auf aggressiven Kriegskurs gegen Russland gebracht hat, gilt es nun für Starmer, die Partei auch noch von den letzten oppositionellen Elementen zu säubern, die seine ehrgeizigen Pläne gefährden könnten.

Er sei „bereit, rücksichtslos zu sein“, um die Ziele der Labour-Partei zu erreichen. „Ob es darum geht, den Antisemitismus auszurotten, ganz klar für die Wirtschaft und die NATO zu sein, sich den Wählern zu stellen und dem Land zu dienen“, erklärte Starmer Sky News sein Vorgehen. Und er behauptete, dabei im Sinne enttäuschter Wähler zu handeln, deren Vertrauen er nun zurückgewinnen wolle. Denn, so der Labour-Chef weiter, nur eine Regierung unter seiner Führung würde die „schwierigen Herausforderungen der Zukunft annehmen“. Auch Starmers Schattenaußenminister kennt keine Skrupel beim innerparteilichen Machtkampf, besonders bei der Beseitigung des Mannes, der immer wieder seine Abscheu gegenüber Kriegen ausgedrückt und der Bevölkerung versprochen hatte, im Ernstfall nicht den roten Atomknopf zu drücken: „Niemand hat jemals gesagt, dass Politik nicht manchmal auch brutal sein muss“, verlautbarte David Lammy, der Corbyn als seinen „Freund“ bezeichnet, lapidar.3 Rückendeckung bekam Starmer auch von Schattenfinanzministerin Shabana Mahmood, die seinen Antrag gegen Corbyn mit unterzeichnet hatte: Dass er angenommen worden ist, sei „ein klares Zeichen“, dass die Partei sich unter Starmers Führung wirklich verändert habe – sich „mit Stolz zu unseren NATO-Verpflichtungen bekennt“ und ihr Verhältnis zu den Unternehmern grundlegend verbessert habe.4 Mahmood gehört zu den Günstlingen Starmers, seit sie 2015 aus dem damaligen Labour-Schattenkabinett ausgeschieden war und sich wie viele andere Karrieristen dem rechten Parteiflügel angeschlossen hat. Derzeit ist sie für die Koordination der Labour-Wahlkampagnen zuständig.

Eine doppelte Lüge

Die Entscheidung des Labour-Vorstands, seine Kandidatur für Islington North zu blockieren, sei „ein beschämender Angriff“ auf die Parteidemokratie und -mitglieder – „ein schändlicher Schritt“, der „die Verachtung gegenüber den Millionen von Menschen zeigt, die 2017 und 2019 für unsere Partei gestimmt haben“, kommentierte Jeremy Corbyn die erneute Eskalation der Attacken gegen ihn.5

Entsetzt reagiert auch die Labour-Linke, vor allem im engsten Umfeld des Ex-Parteiführers. „Die vorgetragene Begründung, Corbyn sei unpopulär und würde Labour Stimmen kosten, ist absurd“, sagte Andrew Murray, der bis zum Sturz Corbyns dessen persönlicher Berater war, gegenüber Hintergrund. Und er erinnerte daran, dass Labour in der Vergangenheit unter anderen Parteiführern weitaus schlechter abgeschnitten hat als unter Corbyn im Jahr 2019 und nur selten besser als unter ihm im Jahr 2017. Der Ausschluss Corbyns von der Kandidatur für Labour sei in Wahrheit ein „beispielloser Akt der Rachsucht der Starmer-Gang“ und Teil ihres „Versprechens an das britische Establishment, die Radikalität in der Innen- und Außenpolitik, die Labour unter Corbyns Führung vertreten hat, aufzugeben und wieder ein sicheres Instrument der herrschenden Klasse zu werden.“

Die Gewerkschaftslinke sieht das nicht anders. Nicola Jukes von der Verkehrsgewerkschaft TSSA, die einen Sitz im Labour-Vorstand hat und mit den Vertretern der Zugführer-Gewerkschaft Aslef, der Communication Workers Union, der Gewerkschaft der Feuerwehrleute FBU und der Transportgewerkschaft Unite, der zweitgrößten Einzelgewerkschaft Großbritanniens, gegen Starmers Antrag gestimmt hat, spricht von einem „feigen Schachzug der Parteiführung“.6

Für Moshé Machover ist die Labour-Partei zur Mogelpackung verkommen. Der Mitgründer der international unter dem Namen „Matzpen“ bekannten Sozialistischen Organisation in Israel, der seit 1968 in London lebt, verweist im Gespräch mit Hintergrund darauf, dass Labour sich selbst nach wie vor als „demokratische sozialistische Partei“ definiert. Das Vorgehen gegen Corbyn zeige aber, dass „diese Behauptung eine doppelte Lüge“ sei: „Das Kandidaturverbot wurde auf antidemokratische Weise von oben nach unten verhängt und gehört zu der großen autoritären Säuberung, die gegen Sozialisten in Gang ist – Labour ist in Wirklichkeit schon eine konservative Partei“, sagt er. Machover gehört zu den zahlreichen jüdischen Labour-Linken, die suspendiert worden waren, nachdem sie Corbyn gegen die verleumderischen Antisemitismus-Vorwürfe verteidigt hatten.

Jackie Walker – ehemalige Vize-Vorsitzende von Corbyns Graswurzel-Bewegung Momentum, die die Labour-Rechte bereits 2016 mit einer McCarthyistischen Hexenjagd ausgeschaltet hatte – meint, dass die Aggression der Eliten und der herrschenden politischen Klasse Großbritanniens eine neue Qualität erreicht habe: „Wir leben in einer Zeit außergewöhnlicher Turbulenzen.“ Die Angriffe auf Corbyn und seine Anhänger in der Partei richteten sich „gegen die gesamte britische Linke“, meint Walker und warnt: „Es kann gut sein, dass wir uns einem Punkt nähern, an dem es kein Zurück mehr gibt, die gesamte Linke faktisch aus der Partei ausgeschlossen wird und damit auch aus dem parlamentarischen Wahlsystem“ – diese Entwicklung würde „enorme Folgen“ für die Demokratie haben.

Labour werde für den Verrat von Starmer und seiner Clique einen hohen Preis zahlen, befürchtet Murray: „Die Entfremdung von Hunderttausenden von Menschen“, darunter vieler junger Leute, die wegen Corbyn in die Partei eingetreten waren, und von Millionen, die wegen ihm zum ersten Mal an die Wahlurnen gegangen waren.

Nicht unwahrscheinlich ist allerdings, dass die Labour-Rechte die Interessen ihrer traditionellen Klientel, der häufig im Niedriglohnsektor beschäftigten hart arbeitenden Bevölkerung, längst als eine zu vernachlässigende Größe betrachten. Das können sie sich vielleicht schon leisten im Vertrauen darauf, dass die Superreichen und Besserverdienenden ihnen mit ihrer schärfsten ideologischen Waffe, den freiwillig gleichgeschalteten Massenmedien, bei der nächsten Wahl den Weg an die Macht ebnen werden. Schließlich haben sie sich als gehorsamer „Kampfhund des Kapitalismus“, wie Jackie Walker Labour unter Starmers Führung nennt, längst ihre Belohnung verdient.

Was tun?

Völlig offen ist derzeit die Frage, welche Antworten die parlamentarische und außerparlamentarische Linke auf den „Fehdehandschuhwurf“ gegen sie geben kann, wie die Tageszeitung Morning Star, stärkstes Organ der sozialistischen Linken Britanniens, den jüngsten Vorstoß Starmers nennt. Zwar setze sich „immer mehr die Erkenntnis durch, dass Starmer ein Heuchler und Scharlatan und auf seine Art genauso unehrlich wie Boris Johnson“ sei. Aber bisher sei er erfolgreich in seinem „Bemühen, den Corbynismus als Bewegung zu zerstören und die Partei in die dunkelsten Tage von New Labour zurückzuschleudern“.

Eine Abspaltung der Labour-Linken und Gründung einer eigenen Partei lehnen die Gewerkschaften, mit Ausnahme der Bäckergewerkschaft BFAWU, bislang ab. Nach Einschätzung des Morning Stars ist es durchaus möglich, dass sie ihre Position nach dem Kandidaturverbot für Corbyn auf Druck ihrer Mitglieder ändern werden. Es bleibe aber abzuwarten und hänge nicht zuletzt davon ab, wie viele ihrer Vertreter zukünftig von Starmer kaltgestellt werden.7 Aktivisten mit langer Campaigning-Erfahrung wie Jackie Walker wollen sich derweil wieder mehr auf die Stärken des Corbynismus besinnen und ihre Aktivitäten auf die außerparlamentarische Linke konzentrieren.

So oder so – der Kopf der Bewegung, die vor acht Jahren Massen zum Widerstand gegen die Verwerfungen und Zumutungen des Neoliberalismus mobilisierten konnte und ein politisches Beben ausgelöst hatte, hat angekündigt, jede Herausforderung anzunehmen: „Ich werde mich nicht einschüchtern lassen und nicht schweigen“, kündigte Jeremy Corbyn an. „Ich habe mein Leben damit verbracht, im Namen der Menschen in Islington North für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen, und ich habe nicht die Absicht, jetzt aufzuhören.“8

 

Quellen

1 youtube.com/watch?v=evSj4S4AC4Q

2 jungewelt.de/rlk/de/article/440844.sturz-eines-hoffnungstr%C3%A4gers.html

3 news.sky.com/story/sir-keir-starmer-prepared-to-be-ruthless-to-win-election-especially-when-it-comes-to-jeremy-corbyn-12845623

4 uk.news.yahoo.com/starmer-move-block-corbyn-running-132539369.html

5 facebook.com/JeremyCorbynMP/posts/pfbid02MYCtwCBmodeeawZQBSBbTXU7DjmdCMSHSJF8RFi3GfqQiwfwTc859kKbPoYLH5Sl

6 morningstaronline.co.uk/article/b/corbyn-blocked-running-labour-mp-next-general-election

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7 morningstaronline.co.uk/article/e/corbyn-betrayed-how-should-the-left-respond-at-election-time

8 facebook.com/JeremyCorbynMP/posts/pfbid02MYCtwCBmodeeawZQBSBbTXU7DjmdCMSHSJF8RFi3GfqQiwfwTc859kKbPoYLH5Sl

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